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von Wilhelm Stählin |
Es entspringt weder einem Bedürfnis nach religionsgeschichtlicher Forschung noch nach Klärung eines theologischen Problems, wenn wir uns mit „geistlicher Übung” beschäftigen. Dazu treibt und verpflichtet uns vielmehr eine stark empfundene Not. Immer wieder erfahren wir mit Beschämung und mit Sorge, daß wir Menschen, die mit ihren seelischen Bedrängnissen zu uns kommen, mit den Mitteln eines allgemeinen Zuspruchs nicht helfen können. Wir spüren, es müßte bestimmte Ratschläge, bestimmte Übungen geben. mit denen wir solchen Menschen über einen toten Punkt ihres geistlichen Lebens hinweghelfen könnten; wir glauben zu sehen, daß frühere Geschlechter aus einem ererbten Wissen um die inneren Gesetze des geistlichen Lebens solche Wege geistlicher Führung und geistlicher Übung gekannt haben, auf denen es uns an Kenntnis und Erfahrung gebricht. Was wir an anderen beobachten, nehmen wir im gleichen Maße an uns selber wahr. Unser eigenes inneres Leben gleicht, wie oft!, einem Kahne, der auf eine Sandbank geraten oder im Gezweig des Ufers hängen geblieben ist; sehnsüchtig aber hilflos schauen wir auf die Strömung, die uns nicht ergreift; was können wir nur tun, daß das Schifflein wieder in den rettenden Strom gerät? Von Liebe und Sorge getrieben haben wir angefangen zu handeln, auch wo wir noch keine bewährten Methoden, keine zuverlässige Weisung fanden. Wir haben gewagt, erste Schritte auf einem Wege zu gehen, den jedenfalls unsere Kirche in den letzten Jahrhunderten nicht mehr erprobt hatte. Stammelnd beschreiben wir dies und jenes, was wir dabei erfahren haben, und deuten wenigstens die Richtung des Weges an, auf dem wir uns vorwärts tasten. Erst allmählich erkannten wir, daß hinter jenen Verlegenheiten eine menschheitliche Not, ein zentrales Problem der heutigen Menschenführung und Menschenbildung liegt. Es geht um den Ort des menschlichen Bewußtseins im menschlichen Sein. Hier gibt es zwei verschiedene Betrachtungen: entweder der Mensch als solcher ist eingebettet in große Lebenszusammenhänge; nach allen Seiten steht er in Verbindung mit Räumen und Bereichen, die größer und weiter sind als er selbst, und nur zu einem kleinen Teil vermögen sich diese ihn umgebenden Räume in seinem bewußten Denken und Erkennen zu spiegeln: das Bewußtsein ist nur ein kleiner Spiegel eines größeren Seins. Oder aber das Bewußtsein wird als Mittelpunkt und als Maßstab der gesamten Wirklichkeit gewertet, so daß alles, was nicht im Bewußtsein existiert, im Grunde überhaupt nicht da ist; das bewußte Denken wird zur eigentlichen Form des menschlichen Seins: cogito ergo sum. Die abendländische Menschheit hatte sich im Laufe der letzten Jahrhunderte mit ungehemmter Begeisterung dieser letzteren Betrachtungs verschrieben, und sie hatte dem entsprechend den Versuch gemacht, auch in Erziehung, Seelsorge und Menschenführung jeder Art sich vorwiegend oder ausschließlich an dies bewußte Denken und Wollen des Menschen zu wenden. Die beiden großen abendländischen Ausprägungen des Christentums haben beide in ihrer Weise Anteil an dieser Entwicklung. So ferne sich protestantische Orthodoxie und Jesuitismus zu stehen scheinen, so sind sie doch beide in dem Aberglauben an die Alleinherrschaft des menschlichen Bewußtseins innig verwandt. Aber es ist keineswegs nur eine individuelle Krankheit, die auf einzelne Menschen beschränkt wäre, und die man dadurch isolieren könnte, daß man gelehrte Namen wie Neurose oder dergleichen dafür gebraucht. Es handelt sich vielmehr um ein menschheitliches Problem, das heute als die große Weltennot an den verschiedensten Orten und in den verschiedensten Formen aufbricht. Mit der Ganzheit des Menschen sind durch jenen Bewußtseinswahn zugleich alle Beziehungen des Menschen zum Kosmos gestört und unterbrochen. Und so wie in dem Einzelleben die von dem bewußten Denken nicht erreichten Untergründe sich in den seltsamsten Formen der Lähmung, nervösen Leiden oder Ausbrüchen unheimlichster Art rächen, so tauchen in dem Verhältnis des Menschen zum Weltganzen jene Riesen, Kobolde, Gnomen und Trolle, in denen die Phantasie früherer Geschlechter die unheimliche andere Seite der Welt bildhaft erkannte und anerkannte, in seltsamer Vermummung wieder auf und spotten des kleinen Menschleins, das sich anmaßt, von seinem begrenzten Bewußtsein aus das Weltganze zu erforschen und zu beherrschen. Die „gigantischen” Leistungen des menschlichen Willens rufen die Dämonen auf den Plan, und ebenso die unheimliche Statistik der Verkehrsunfälle wie die Riesenhungersnöte, die der Bolschewismus heraufbeschworen hat, sind grauenhafte Symbole dieses Massenwahnsinns. Der tiefste Sinn dieser ganzen Entwicklung ist ausgedrückt in jener abgründigen Formel, die uns aus dem Altertum überliefert ist: „Propter vitam vitae perdere causas”, das heißt: um angeblich das Leben zu erhalten und zu steigern, werden die Quellen des Lebens verschüttet, die Ur-sachen zerstört. Wo dem heutigen Menschen diese seine bedrohliche Lage zum Bewußtsein kommt, da besinnt er sich, wie er aus diesem seinem Gefängnis entrinnen könnte, und er sucht solchen Fluchtweg bald nach unten, bald nach oben. Entweder er versucht, einen neuen Zugang zu den vegetativen und animalischen Schichten zu gewinnen; er möchte zurückkehren in die großen Rhythmen des naturhaften Lebens und verkündigt als seine befreiende Entdeckung, daß der Mensch nicht vom Hirn aus, sondern von seinem Blut aus leben müsse. Oder aber er streckt sich aus nach Erkenntnis „höherer” Welten, er interessiert sich wieder für Engel und Dämonen und holt uralte Symbole metaphysischer Mächte aus dem religionskundlichen Museum hervor, um ernsthaft nach ihrem Sinn zu fragen. Hat unsere Kirche wirkliche Vollmacht, dieser Not zu begegnen? Wir reden von der evangelischen Kirche, so wie sie sich im deutschen Volksraum darstellt. Wenn wir hier gänzlich darauf verzichten, die katholische Kirche in den Kreis unserer Betrachtung zu ziehen, so hat dies Schweigen gewiß nicht den Sinn, daß wir neiderfüllt meinten, dort sei alles in Ordnung; wir wissen zu genau, wie ernsthaft unsere katholischen Freunde in dem Umkreis ihrer eigenen Kirche gegen ähnliche Gefahren kämpfen. Aber haben wir, wir Protestanten, uns nicht weithin unter sehr ehrwürdigen theologischen Formeln damit begnügt, das Bewußtsein des Menschen anzureden und seinen bewußten Willen aufzurufen? Haben wir uns nicht fast gänzlich darauf beschränkt, die künftigen Pfarrer durch einseitige theologische Schulung, das heißt durch Klärung des religiösen Denkens für ihr priesterliches Amt auszurüsten? Wie fern liegt unserer protestantischen Tradition das, was uns in diesem Band ein Engländer über die Ausbildung der Pfarrer in seiner Kirche erzählt; und es ist doch nichts anderes, als was die Väter unserer Kirche selbst einmal deutlich gesehen und ausgesprochen haben: „Es ist nicht genug, wenn die Jugend, welche einst zu den leitenden Ämtern der Kirche gelangen soll, wissenschaftlich gebildet wird, sondern sie soll auch durch geistliche Zucht und fromme Übungen zur Liebe der kultischen Formen und zu einem frommen Leben gewöhnt werden; denn diejenigen, die nicht durch solche hingebende Bemühung gewöhnt sind, sind zumeist weltförmiger, als es der Kirche frommt.” (1) Wenn vor Jahren ein junger Theologe in die erschütternde Klage ausbrach: „Wir können das Wort Gottes in der Heiligen Schrift richtig auslegen. Aber wir können nicht mehr wirklich lesen und hören, Gott redet nicht zu uns; wir wissen genau, was Beten ist, aber wir vermögen nicht zu beten; wir sind überzeugt, die richtige Abendmahlslehre zu haben, aber wir haben weder Verbindung mit Christus, noch Verbindung untereinander!” - findet solche Klage nicht ein tausendfältiges Echo bei Theologen und Nicht-Theologen in unserer Kirche? Und in dem gleichen Augenblick spüren wir doch , daß alles, wirklich alles darauf ankäme, daß wir solche echte Verbindung wiedergewinnen, daß das zerbrochene Menschenwesen wirklich geheilt würde zur Ganzheit, daß die Wirklichkeit Gottes unser Lebensganzes heilend und heiligend durchdringe. Gerade dies ist ja die Not, unter der wir alle leiden, daß wir selber so viel denken, sagen, unternehmen und vollbringen, daß Gott nicht an uns wirken kann. Aber hätte es einen Sinn, daß die Bibel vom ersten bis zum letzten Blatt uns zumutet zu hören, wen wir nicht uns (äußerlich oder innerlich verstanden!) an einen Ort begeben könnten, wo uns die Gnade solchen Hörens widerfährt? Ist es wirklich denkbar, daß Jesus in dem Gleichnis vom vierfachen Ackerfeld bloß vier Menschentypen hätte beschreiben wollen, zu deren einer jeder einzelne Mensch eben durch Anlage und Schicksal gehört? Ist nicht dies seine Meinung, daß der Mensch dem guten Ackerland gleichen soll, das bereitet ist zu empfangen, aufzunehmen, zu bewahren und Frucht zu tragen? Darum ist geistliche Übung „Leiden und Tun” zugleich, wie es uns in einem entscheidend wichtigen Aufsatz dieses Jahrbuchs beschrieben wird. Es denkt niemand daran, uns eine geistliche Betriebsamkeit zu empfehlen, die auch den innersten Lebensbereich unter den Bann unserer übersteigerten Aktivität beugen könnte. Es denkt niemand daran, eine neue Werkgerechtigkeit aufzurichten, in der der Mensch hoffen könnte, durch fromme Werke seine Schaden zu heilen. Alle geistliche Übung ist Hingabe an Gott, nichts anderes; eine Hilfe zu dem Einen und Einzigen, wodurch wir Anteil gewinnen können an den heilsamen Kräften der göttlichen Welt; eben das meint die Sprache unserer Kirche, wenn sie von dem Hören des göttlichen Wortes, von dem Glauben an die Gnade Gottes redet. Solche geistliche Übung hat notwendigerweise zwei Seiten, gleichsam zwei Bewegungen, in denen sie sich entfaltet und verwirklicht: Abkehr und Hinwendung. Es bedarf der Abkehr von all dem, was uns bei uns selbst und bei dem irdischen Lebensraum festhält und uns absperrt von der schöpferischen Berührung mit Gott. Es gibt eine notwendige Abkehr von der Menschenwelt, den Weg in die Einsamkeit und in die Stille, eben jenen Weg, der uns äußerlich und innerlich so bitter schwer gemacht wird. Wichtiger noch: Es gibt eine Abkehr von der eigenen Aktivität; von der Gefahr der vielen Worte, - darum die heilsame Übung des Schweigens! Abkehr von dem rastlosen Tun, darum eine Übung der Entspannung, der Gelassenheit, der Ruhe; wobei auch die äußere Hilfe der leiblichen Ruhe, der körperlichen Entspannung, des ruhigen Atmens nicht verschmäht werden darf. Solcher Übung der Abkehr entspricht die Übung der Hinwendung. Geistliche Übung ist ein Weg, auf den wir uns begeben, der Aufbruch zu einem Ziel, auf das wir alle unsere Gedanken und Kräfte ausrichten. Darum fehlt auch das Bild der Wallfahrt nicht in der Reihe dessen, was uns die Heilige Schrift über den Weg des Glaubens berichtet und was wir aus ihr für unsere eigene Übung lernen wollen. Solche Hinwendung zu Gott vollzieht sich in dem Hören des Wortes, in dem Anschauen der heilsamen Zeichen. Sie verwirklicht sich in dem Gebet, in dem wir uns selbst Gott darbringen mit Geist, Seele und Leib. Wir lernen das Vaterunser neu erkennen als einen uns von dem Herrn selbst vorgezeichneten und eröffneten Weg, auf dem wir mitgenommen werden bis in das innerste Heiligtum der wesenhaften Einung mit Christus als dem wahren Brot, das uns nährt. Hier kann und soll nur hingedeutet werden auf alle jene Möglichkeiten, die uns die Erfahrung und Weisung der Kirche selber darbietet und von denen die Aufsätze, die in diesem Jahrbuch vereinigt sind, wenigstens einiges beispielhaft entfalten. Aber eine Form geistlicher Übung bedarf hier noch eines besonderen hinweisenden und deutenden Wortes: die M e d i t a t i o n . Wenn wir im Zusammenhang geistlicher Übung das Wort Meditation gebrauchen und denen, die zu uns kommen, anbieten, vielleicht auch dazu raten, sich die ersten Schritte auf dem Wege der Meditation führen zu lassen, dann machen wir immer wieder eine zwiefache Erfahrung. Da sind auf der einen Seite Menschen, - es sind freilich mit verschwindenden Ausnahmen nur Theologen, - bei denen sich hier alsbald die entschiedensten Widerstände und Hemmungen einschalten, die sich mit einem großen Aufgebot kritischer Bedenken dagegen wehren und andere vor solch gefährlichen Unternehmungen warnen; da sind auf der anderen Seite Menschen, die mit der größten Bereitwilligkeit und Dankbarkeit solche ihnen angebotene Hilfe ergreifen, das, was darin geschieht, als etwas ganz Selbstverständliches, jedenfalls aber als etwas Wohltuendes und Förderliches empfinden und zum Teil die stärksten Auswirkungen davon in ihrem persönlichen Leben erfahren. Aber was heißt denn das eigentlich, „Meditation”, und woher kommt es daß sie unter uns so sehr vergessen ist und ihr das Heimatrecht in unserer Kirche bestritten wird? Meditation ist eine besondere Art des Denkens. In diesem Denken ist unsere Aktivität, unsere kritische Stellungnahme gegenüber dem Inhalt ausgeschaltet, und wir sind passiv, das soll heißen empfangend und erleidend, der Sache hingegeben. Es hängt tief damit zusammen, daß wir in der Meditation nicht so sehr in Begriffen als vielmehr in Bildern denken; Meditation vollzieht sich in jener tieferen Schicht unserer Seele, in der wir alle in Bildern denken, so wie es das Kind fast ausschließlich und der Erwachsene im Träume tut. Es ist jene Schicht, in der sowohl unsere entscheidenden Erkenntnisse aufleuchten als auch alle schöpferische Gestaltung empfangen und geboren wird. Dies ist die Ursache für die unzweifelhafte Beobachtung, daß viele Menschen wesentlich leichter zu meditativer Versenkung gelangen, wenn sie Zeichen anschauen, während sie bei dem Versuch, etwa über ein Bibelwort zu meditieren, nur allzu leicht wieder auf die vertraute Bahn gedanklicher Auslegung zurücksinken. Meditation ist in jedem Fall eine reale Verbindung des Menschen mit einem geistigen Inhalt. Unsere Sprache drückt das aus, indem sie sagt: Wir „versenken” uns in eine Sache; und es ist ein und dasselbe, wenn wir sagen, daß die Sache sich in uns einsenkt. Unter den biblischen Gestalten ist insonderheit Maria das Urbild solcher Meditation; wenn von ihr erzählt wird: „Sie behielt alle diese Worte und bewegte sie in ihrem Herzen”, so ist damit eben jenes Verhalten beschrieben, das wir meinen, wenn wir von Meditation reden. (3) Es ist sozusagen eine Fortsetzung ihrer Mutterschaft selbst, da die Seele in Wahrheit empfängt, den Keim eines neuen Lebens in sich aufnimmt, in sich hegt und trägt, und mit ihrem eigenen Blute verbindet, bis die Stunde der Erfüllung kommt, da das, was in der Stille bereitet ist zur Reife, als ein lebendiger Gedanke, als klare Erkenntnis, als heilsame Tat geboren wird. Meditation ist auch für uns nur eine Form geistlicher Übung, aber doch eine Form, an der die Bedeutung und die Lebensgesetze geistlicher Übung besonders deutlich werden. Hier wird die Kruste einer bloßen Bewußtseinskultur durchbrochen; hier wird der Mensch bereitet, wirklich in Verbindung zu treten mit der Sache, ihrem Blick und ihrem Anruf standzuhalten, wenn anders Gott ihm die Gnade solcher Begegnung schenken will. Sie enthüllt unerbittlich das eigene Innere und hilft dadurch dem Menschen den gefährlichen Wahn zu überwinden, er habe wirklich, was er doch nur weiß, und es geschehe in Wahrheit das, wofür er Formeln und Regeln kennt. Hier lernt der Mensch atmen, und das Beste an der Atmung ist doch das wundersame Geschehen, daß die Luft ohne unser Zutun einströmt in die leergewordene Lunge. Hier macht sich der Mensch auf, um der Einladung zu folgen, die ihn an den gedeckten Tisch ruft, und er weiß, daß Speise und Trank ihn sättigen und erquicken, - wenn er sie zu sich nimmt. Mitten zwischen viel Zerstörung, Herzeleid und Sorgen um unsere Kirche wollen verschüttete Quellen neu aufbrechen. Wir haben um uns her so viele durstige, ja verschmachtende Menschen; und viele wohlgemeinte Ratschläge, die doch nur hohe Worte und unerfüllbare Zumutungen sind, gleichen den ausgehauenen Brunnen, die löcherig sind. Wir müssen tief graben und das Wasser schöpfen aus dem tiefen Grunde. In der Menschheitsnot dieser Zeitenwende glauben wir etwas Notwendiges zu tun, wenn wir sagen und weitergeben, was unsere Väter gewußt haben und was sich neu bewährt hat von dem Wert geistlicher Übung. Anmerkungen:
Das Gottesjahr 1938, S. 8 - 16 © Johannes Stauda-Verlag Kassel |
© Joachim Januschek Letzte Änderung: 12-10-15 |