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von Alfred Dedo Müller |
Luther spricht in seinen „Vierzehn Trostmitteln für Mühselige und Beladene” von einem Einsiedler, „der während er sonst Jahr für Jahr krank gewesen, nun einmal ein ganzes Jahr gesund gewesen”, heftig klagte und weinte, „da er meinte, Gott habe ihn vergessen und ihm die Gnade versagt.” Und Luther fügt nachdrücklich hinzu: „So notwendig und heilsam ist nämlich die Züchtigung des Herrn allen Christen.” Für Luther ist Gott im Leiden „verborgen, gleichwie die Braut sagt im Hohenlied (2, 9): ‚Siehe, er steht hinter der Wand und sieht durch die Fenster’. Das heißt so viel als er stehet unter dem Leiden, die uns gleich von ihm scheiden wollen wie eine Wand, ja wie eine Mauer, verborgen und siehet doch auf mich und läßt mich nicht, denn er steht und ist bereit in Gnaden zu helfen, und durch das Fenster des dunkeln Glaubens läßt er sich sehen” (Sermon von den guten Werken S.11). Uns sind solche Äußerungen deshalb verwunderlich, weil in ihnen Aktivität und Passivität, Tun und Leiden auf eine Weise ineinandergeschaut sind, die uns fremd geworden ist. Leiden ist für Luther die Wand, hinter der Gott steht. Damit ist es für ihn Weckruf zu innerster Aktivität mitten in aller Lahmlegung äußerer Kräfte. Dieser Auffassung liegt ein Verständnis des Menschen zu Grunde, das durchaus perspektivischen Charakter trägt: es wird die ganze Vielschichtigkeit menschlichen Wesens gesehen und alle Bemühung am Menschen für die Überwindung der Vordergründigkeit und für die Weckung und Entbindung der verborgenen Tiefenschichten des menschlichen Wesen eingesetzt. Dies zu verstehen, fällt uns deshalb so schwer, weil sich im Laufe der letzten Jahrhunderte das protestantische Lebensgefühl mehr und mehr in eine Aktivität geworfen hat, die ganz nach außen, ganz der Welt zugewandt ist und darüber den Zusammenhang mit den eigentlichen Wurzelschichten der menschlichen Seele verloren hat. Von da aus kann der Sinn der geistlichen Übung deutlich werden. Wir verstehen unter geistlicher Übung eine Form innerster Aktivität, in der der Mensch äußerlich passiv wird, weil nur so gewisse Tiefenkräfte der Seele geweckt werden können, die gerade bei ausgesprochener Geschäftigkeit verkümmern. Es handelt sich in allen Formen geistlicher Übung um eine Aktivität des innersten Menschen, die nur möglich ist, wenn der bloß nach außen gewendete Tätigkeitsdrang stillgelegt wird. Darin liegt die besondere Bedeutung begründet, die die Frage der geistlichen Übung heute für den abendländischen Menschen hat. Denn es handelt sich dabei keineswegs um eine geistliche oder kirchliche Spezialität, sondern schlechterdings um eine entscheidende Kultur- und Lebensfrage. Die ganze abendländische Zivilisation hat zu einer ebenso grandiosen wie einseitigen Entfaltung der auf Welterforschung und Welteroberung gerichteten Erkenntnis- und Willenskräfte des Menschen geführt. Wir haben eine „höchstgesteigerte Bewußtseinskultur” (J. W: Hauer), die zu einer Lähmung der tieferen Seelengründe geführt hat. An dieser Spaltung krankt die ganze abendländische Zivilisation. Eine sich immer weiter ausbauende technische Organisation des Lebens ruht auf einem solchen Minimum tragender Seelenkräfte, daß jeder Augenblick eine Erschütterung des Fundamente bringen kann, die das ganze Wunderwerk in sich zusammensinken läßt. Daß dieser Sachverhalt wie für die ganze abendländische Kultur, so auch für das Leben des Einzelnen seine Bedeutung hat, ist namentlich der Psychologie und der Psychotherapie der Gegenwart aufgefallen. Unwidersprechliche Beobachtungen in der Sprechstunde des Arztes wiesen darauf hin, daß der Mensch nicht nur seelisch, sondern schließlich auch körperlich krank wird, wenn er seine Ganzheit verliert, wenn die unbewußten Tiefenschichten seines Seelenlebens sich vom Tagesbewußtsein abspalten. Dieser Abfall aber ist im Abendland deshalb weithin eingetreten, weil das Bewußtsein des Menschen vielfach gar nicht mehr die ganze Fülle und Vielschichtigkeit des menschlichen Wesens verarbeitete. Die Frage nach der Möglichkeit geistlicher Übung ist also heute kein bloßes Zeichen geistlicher Geschäftigkeit; sie bricht aus unleugbarer Lebensnot auf und hat einen durchaus sachlichen Sinn. Das Ziel aller geistlichen Übung ist die Überwindung einer lebensbedrohlichen Zerspaltung des menschlichen Wesens. Es geht um die Erneuerung des menschlichen Wesens aus seinem innersten Zentrum heraus. Es geht um die Ganzheit menschlichen Seins, die außen und innen, Leib und Geist, Blut und Seele, Bewußtes und Unbewußtes so miteinander verbindet, daß alles in der richtigen Rangordnung beisammen ist. Es geht also um die Wiederherstellung jenes ursprünglichen Zustandes menschlicher Gesundheit, den die Bibel im Auge hat, wenn sie von der Gottebenbildlichkeit des Menschen redet. Niemand, der sich und der den heutigen Menschen kennt, wird sich einer Täuschung darüber hingeben, daß es sich dabei um ein Ziel handelt, das nicht im Sturm genommen werden kann, sondern daß hier Schritt für Schritt wieder freie Sicht gewonnen werden muß. Um einen solchen Annäherungsversuch handelt es sich, wenn wir die geistliche Übung als Tun und Erleiden beschreiben. Was sollen wir tun? Geistliche Übung bedeutet zunächst das Herausgehen aus der lebensgefährlichen Lethargie, mit der wir im allgemeinen unser inneres Leben dem Zufall überlassen. Das macht sich erfahrungsgemäß nicht von selber. Hier muß etwas getan werden. Alle geistliche Übung braucht z. B. Zeit. Sich Zeit für Dinge nehmen, die keinen greifbaren Nutzen abwerfen, ist für uns vielbeschäftigte abendländische Menschen schon eine enorme Leistung. An welche Form der geistlichen Übung man auch denkt: Meditation, Gebet, Teilnahme am Gemeindegottesdienst - immer bedarf es der Zeit. Und die fällt einem nicht in den Schoß, sondern will ausgespart, will in den sonstigen Lebensplan eingeordnet sein. Es ist schon viel gewonnen, wenn wir darüber erschrecken, wie liederlich wir in bezug auf unser innerstes Leben in den Tag hinein leben, wie passiv wir sind, wie wir uns treiben lassen. Wir wundern uns freilich, wenn wir nervös werden, wenn wir uns unbefriedigt fühlen, wenn uns unser ganzes Treiben leer und sinnlos vorkommt. Aber im allgemeinen ist es doch so, daß wir meinen, das müsse von selbst wieder in Ordnung kommen. Und hier muß nun einfach gesehen werden, daß sich das innere Leben nicht von selber regelt, sondern daß etwas dafür getan werden muß. Auch die Seele hungert, auch die Seele kann unterernährt - und sie kann ebenso überfüttert werden. Sie kann an der Überfülle von Eindrücken ersticken, und sie kann aus Mangel an Sauerstoff zu Grunde gehen. Das reguliert sich genau so wenig von selber wie leibliches Essen und Trinken. Wir wissen genau, daß der Leib seine Essenszeiten braucht, und daß jeder Haushalt seine Küche hat, die die Zubereitung der Speisen dem Zufall entreißt - wie merkwürdig ist es eigentlich, daß wir meinen, die Seele könnte sich von den Brosamen ernähren, die so nebenher für sie von den Tischen der Arbeit und des Vergnügens abfallen! Nun kommt hier freilich alles darauf an, daß in diesen Dingen richtig gehandelt wird. Es kann in der geistlichen Übung ebenso gepfuscht werden wie in jeder anderen Tätigkeit, und das ist in Fragen des geistlichen Lebens umso verhängnisvoller, als es sich hier um ein Tun handelt, das in besondere Tiefenschichten unseres inneren Lebens hineinwirkt. Wir sehen deshalb alles Augenmerk Luthers daraus gerichtet, daß hier richtig gehandelt wird. Er will auch hier Reformator sein. Er will die reiche Überlieferung geistlicher Übung, die er vorfindet, nicht zerstören, sondern reformieren, deshalb geht es ihm überall um das rechte Beten, den rechten Gottesdienst, das rechte Fasten. Diese Seite der Sache soll uns dadurch zum Bewußtsein kommen, daß wir geistliche Übung nicht nur als Tun, sondern zugleich als Erleiden verstehen. Es handelt sich hier um die Anliegen, die in der lutherischen Gnadenlehre zum Ausdruck kommen. Der Mensch kann in Fragen des inneren Lebens der frei waltenden Gnade Gottes nicht vorgreifen wollen. Es gibt für den Menschen keine Möglichkeit, vor Gott einen Anspruch geltend zu machen, vor ihm mit irgendwelchen Leistungen aufzutrumpfen. Es gibt in geistlichen Dingen keine Werkgerechtigkeit. Es gibt keine geistliche Technik, mit der wir Gott zwingen können, sich uns zuzuneigen. Wir haben keine Verfügungsgewalt über Gott. Die nachreformatorische Theologie hat diese Warnungen in abstrakter Weise zur Geltung gebracht: sie hat die Meinung entstehen lassen, daß alles geistliche Tun gefährlich sei. Nur die Gnadenpredigt schien geboten. Alle anderen Formen geistlicher Übung gerieten in Verfall. Dabei wurde übersehen, daß ja auch die Gnadenpredigt und ihr Anhören noch immer menschliches Tun war, das durchaus allen Gefahren menschlicher Aktivität - nicht zuletzt der Gefahr der Selbstgerechtigkeit unterworfen blieb. Es hilft also nichts: es gibt keine Flucht vor menschlicher Verantwortung. Es geht um die Frage des rechten Tuns. Der evangelische Stil der geistlichen Übung hängt nun also ganz an der Frage, ob es möglich ist, mit menschlicher Aktivität all die Anliegen der reformatorischen Gnadenpredigt zu verbinden. Und das muß als durchaus möglich bezeichnet werden. Geistliche Übung ist ein Tun, das zugleich Erleiden ist. Und sie ist auch das radikal, weil es ja eben um das Handeln von Gott her und auf Gott hin geht. Geistliche Übung ist ein Tun, das den Menschen fähig machen will - passiv zu werden, Gott zu erleiden. Man darf sich hier freilich nicht ans Wort hängen. Es kommt nur einfach daraus an, Gott in seiner ganzen Größe und Majestät zu ahnen, zu schauen, vor ihm zu erschrecken und ihn zu empfangen. Eben deshalb ist es ja entscheidend wichtig, was wir zum Gegenstand unserer Meditation werden lassen. Und darin liegt nun die entscheidende religiöse Bedeutung der Meditation begründet. Die Grundinhalte der christlichen Verkündigung erschließen sich nur der meditativen Haltung. Hier handelt es sich eben um Wirklichkeiten, die aus gar keine Weise von uns erzeugt, erarbeitet, erzwungen werden können. Das Reich Gottes, die Herrschaft der Wahrheit, Gerechtigkeit, Liebe, den „Frieden, der höher ist als alle Vernunft”, können wir uns nur sehenken lassen. Erst wenn wir das, was uns Christus bringen will, wie Brot und Wein in unser Leben eingehen lassen, erst wenn wir es ganz lebensmäßig, ganz existentiell verstehen, kann uns aufgehen, daß uns darin nicht Theorien angeboten, sondern Lebenskraft geschenkt werden soll. In der geistlichen Übung will uns also ebenso Sinn wie Grenze menschlichen Tuns aufgehen. Und darin liegt ihre allgemein menschliche Bedeutung. In der Meditation wird uns die Grenze menschlichen Denkens klar; da geht uns auf, daß in den letzten Fragen des Lebens nicht eigentlich das entscheidet, was wir uns für Gedanken über das Leben machen, sondern was Gott darüber denkt, daß im besonderen nicht das den Ausschlag gibt, was wir über Gott denken, sondern was Gott über uns denkt, ja, daß wir Gott überhaupt nicht denken können, sondern daß er uns denkt. Ebenso geht uns in der geistlichen Übung auf, daß nicht unser Tun entscheidet, sondern das, was Gott in uns und durch uns tut. Daher dieses eigentümliche Ineinander von Aktivität und Passivität. Wahrhaft schöpferisch sind wir nur, wenn wir mitten in allem Einsatz eigener Kräfte offen bleiben für das Walten Gottes. Und darin liegt die allgemein menschliche Bedeutung der geistlichen Übung: in ihr will der Gefäßcharakter aller menschlichen Aktivität deutlich werden. Schöpferisch im letzten Sinn des Wortes ist nur Gott. Die letzte schöpferische Vollmacht ist uns versagt. Wir sind nicht Schöpfer, sondern Geschöpf, aber eben darin liegt für uns die Möglichkeit der Teilnahme am schöpferischen Tun Gottes. Und so geht es in der Wiederbelebung der geistlichen Übung in der Gegenwart um die Wiederentdeckung jener im Grunde ganz einfachen und doch so tief geheimnisvollen, jedenfalls aber völlig unentrinnbaren Grundtatsache, die Paulus in dem Wort beschreibt: „wir haben solchen Schatz in irdenen Gefäßen, auf daß die Kraft sei Gottes und nicht von uns” (2. Kor. 4, 7). Das Gottesjahr 1938, S. 26-31 © Johannes Stauda-Verlag Kassel 1938 |
© Joachim Januschek Letzte Änderung: 12-10-15 |