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Der Rhythmus des Lebens
Dieser Aufsatz ist aus der Zusammenarbeit
eines Arztes und eines Theologen erwachsen

LeerAlles leibliche Geschehen steht unter dem Grundgesetz des Rhythmus, die Teilabläufe des organischen Lebens ebenso wie der Zusammenklang aller Funktionen im Gesamtorganismus. Rhythmus ist ein Urgesetz alles lebendigen Geschehens; alles Leben im Kosmos empfängt durch seinen Rhythmus seine bestimmte Gestalt und hat in ihm seine verbindende Linie. Je tiefer eine Funktion hinabreicht in die Urgründe des vitalen Seins, desto unmittelbarer ist sie diesem Grundgesetz unterworfen, desto weiter ist sie aber zugleich dem der Welt zugewandten Bewußtsein entrückt. Der menschliche Organismus trägt in sich vegetative Lebensvorgänge und Funktionen, deren Ablauf ganz in dies kosmische Gesetz des Rhythmus eingebettet ist; aber gerade diese Abläufe wird der Mensch in seinem Bewußtsein erst dann gewahr, wenn sie in Zeiten der Krankheit in Unordnung geraten sind und diese Unordnung den ganzen Organismus bedroht, ja nicht selten erst dann, wenn von dort aus die Zerstörung des Gesamtorganismus schon weit vorgeschritten ist.

LeerEs gibt aber eine mittlere Schicht, die tief nach unten greift in diese animalischen Funktionen hinein und doch zugleich dem Bewußtsein nahe und mit dem geistlich-seelischen Geschehen aufs engste gekoppelt ist: dies sind die Funktionen des Blutkreislaufs und der Atmung. Ihre physiologische Aufgabe ist es in Sonderheit, die Verbindung aller Teile des Ganzen untereinander zu halten. Auch in jenen Pausen, in denen das Bewußtsein unterbrochen wird, im Schlaf, in Dämmerzuständen und narkotischen Räuschen erfüllen sie diese ihre Aufgabe und bleiben auch hier mit dem Bereich des Seelischen geheimnisvoll verbunden.

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LeerEs ist unmöglich, diese beiden Grundfunktionen unseres organischen Lebens durch einen Akt der Willkür aufhören zu lassen und damit das Ende des leiblichen Lebens selbst bewußt zu bewirken. Diese Unbedingtheit und Unabhängigkeit beider Funktionen von unserem Bewußtsein und ihr geheimnisvolles Mitschwingen mit allen Schwingungen unseres Gemüts und unserer Affekte hat dem Blut und dem Atem für das Denken früherer Zeiten eine besondere Würde verliehen. Sie sahen darin eine unmittelbare Auswirkung und Darstellung göttlicher Mächte im leiblichen Bereich. Göttliche Schöpferkraft und Atem stehen in uralten Mythen in engster Verbindung. Auch die biblische Schöpfungsgeschichte redet von dem göttlichen Odem, durch den der Mensch erst das wird, was er ist. Der gleiche Instinkt sprach sich darin aus, wenn die Griechen in das Zwerchfell, den Hauptatemmuskel, die zentrale Angriffsstelle göttlicher Kraft verlegten. Von der Leibes-Mitte aus fanden Unteres (Animalisches) und Oberes (Psychisches) ihren Ausgleich; hier empfing die Seele das Pneuma, den im rhythmischen Zug ein- und ausströmenden Odem, in dem die göttliche Schöpferkraft das leibliche Leben durchdrang. „Vom Zwerchfell her” bedeutete: von der Mitte aus; und eben in dieser Mitte erschien die Ganzheit des Lebens an den kosmischen Rhythmus gebunden.

LeerEs ist das Schicksal des „höher entwickelten” Menschen, daß er im Zusammenhang seiner ichhaft-selbstherrlichen Lebensformung ständig in Gegensatz zum Rhythmus des Lebens geraten muß. Geistiges „Tempo” streitet gegen die urtümliche Gesetzmäßigkeit des Vitalen; der „individuelle Rhythmus”, den der Mensch glaubt willkürlich bestimmen zu können, steht gegen die Gebundenheit in kosmischen Urgesetzen. So ist der Mensch während seines bewußten Daseins ständig im Widerstreit gegen die ihm selbst innewohnende rhythmische Ordnung. Dieser Widerstreit findet seine immer wiederkehrende wohltuende Unterbrechung im Schlaf. Im Schlaf taucht der Mensch unter in dem aller Willkür entrückten Rhythmus; er ruht in der Geborgenheit des Ungetrennten. Dem Widersacher „Ich” fast gänzlich entzogen, kann der Organismus im Schlaf seinen vegetativen Urformen leben, und je tiefer er darin hinabtaucht, desto heilsamer wird der Gesamtorganismus gestärkt.

LeerDieser Zustand ist für den Menschen der Gegenwart oft nur noch ein fernes Vorstellungsbild. Der im Getriebe der Mechanik Schaffende kann schwerste Verstöße gegen die ursprüngliche Gesetzmäßigkeit nicht vermeiden. Der entwurzelte Großstadtmensch maßt sich geradezu ein Recht an, die natürlichen Gezeiten zu verdrehen. Die zerstörenden Auswirkungen einer solchen Vergewaltigung des lebendigen Rhythmus zeigen sich im Niedergang des wahrhaft schöpferischen Lebens. Der Ungehorsam in Bereich des Vitalen wirkt sich aus in ganz bestimmten Notzeichen: Nervöse Herzsensationen, Schlafstörungen, Unruhe, Angst, Zwangsvorstellungen, Schwindel, Kopfdruck, Magen- und Darmbeschwerden, Perversion des Sexuellen und wie sie alle heißen mögen: alle solche Störungen neurotischer Art, in denen man geradezu die typische Erkrankung des modernen Menschen sehen kann, sind ihrem innersten Wesen nach (soweit es sich nicht um primäre Organerkrankungen handelt) nichts anderes als Auswirkungen der zentralen Arhythmie auf die Funktionen des organischen Lebens.

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LeerMan kann solche Leiden nicht bekämpfen, solche Störungen nicht beheben, ohne den Menschen wieder einzuschalten in den Rhythmus. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, rhythmische Gesetzmäßigkeiten wieder spüren zu lernen; darunter soll uns hier nur die Atembewegung beschäftigen, die das stärkste „Modellerlebnis” des Rhythmus im Leiblichen darstellt. In ihr besitzt der Mensch gleichzeitig Maßstab und Weg; sie umspannt die Bereiche des unbewußten und vegetativen Lebens und reicht doch bis in die feinsten Bereiche des seelischen und persönlichen Lebens hinein; im Atem berühren sich Ich und Es immerwährend, um sich wechselseitig zu durchdringen.

LeerFür den unrhythmisch lebenden Menschen bedeutet Atemübung ein Heimkommen zu sich selbst. Wer darin geübt ist, dem genügen - selbst in der Hast der täglichen Arbeit - wenige Minuten, um der geheimnisvollen Wohltat teilhaftig zu werden. Wie bei einem Entgiftungsprozeß scheidet sich Klares vom Trüben, wenn die Verbindung zum Urtümlich-Gesetzmäßigen wiedergewonnen wird. - Methodisch geht es bei den Übungen des Atmens einzig und allein um die volle Entfaltung der Rhythmuslinie mit ihren drei Gezeiten Entspannung. Pause, Spannung. Der natürlichen Entspannung mit ihrem Ausklang in der Pause folgt der Spannungsgewinn in der Einatmung, die vom Zwerchfell aus als Reflex ausgelöst wird, während der Umschlag von der Spannung in die Ausatmung ohne Ruhepause erfolgt. Wird dieser Rhythmus gestört, so stellt sich das auf der Atemkurve dar in krampfhafter Unruhe oder in Erschlaffung der Atemmuskeln, insbesondere des Zwerchfells; der Ursprung solcher Fehlfunktionen liegt letzthin in dem Unvermögen, das persönliche Tempo, den „individuellen Rhythmus” genügend auszuschalten, der oft nichts anderes ist als eine trostlose Zerstörung alles Rhythmus. Bei dieser Störung des Rhythmus zeigen sich in der Atemkurve keine Atempausen mehr. Die unmittelbare Folge ist, daß die Kräfte des Organismus vorzeitig verbraucht werden.

LeerWahrhaft schöpferisches Sein bedarf der Verbindung mit den Rhythmen des Vitalen. Wo der Mensch noch in der Pause des Bewußtseins, im Schlaf, sich aus den urtümlichen Rhythmen er-holt, ist noch keine Not. Wenn aber der Schlaf selber nur noch ein dumpfes, schweres Ausgelöschtsein oder ein Chaos beunruhigender Träume darstellt, dann entsteht statt des echten Spannungsgewinns, der aus der Ruhepause gewonnen wird, ein aufgepeitschtes Angespanntsein, und statt der wohltuenden Entspannung nur Ablenkung mit triebhafter Enthemmung oder dumpfem Leerlauf. Der schöpferische Wert der Pause liegt darin, daß wir uns dem „Es” anvertrauen und unsere verstandesmäßige Aktivität einordnen in die Abläufe aus der Tiefe. Die Atempause ist ein unmittelbarer Gradmesser und Ausrichtungspunkt für die Pause, deren der Mensch auch in seinem persönliche Sein bedarf. Im Getriebe des Alltags hin und wieder Halt zu machen, für kurze Zeit sich den Dringlichkeiten der Umwelt zu entziehen und die Wohltat der Geborgenheit zu erleben, die Gnade der Einatmung zu empfangen, das ist es, was not tut.

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LeerAtemübung trägt so ihren Wert in sich selbst. Sie bedeutet keineswegs Erkenntnis höherer Welten, Vergeistigung, religiöses Erleben oder ähnliches, sondern sie zielt einzig und allein darauf, vom Leiblichen her überhaupt erst wieder bereit zu werden für das, was an Geschehen dem einzelnen zuteil werden kann und soll. Sie will dazu helfen, daß wir aus der Unruhe des ichhaften Lebens zu jenem Schwerpunkt kommen, von dem aus ein Hören nach der Tiefe und zugleich nach der Höhe möglich ist.

LeerDarin liegt die Bedeutung solcher Atemübung für die „geistliche Übung”. Jede geistliche Übung bedarf eines Unterbaus in vitalen Rhythmen; ihre Wirkung ist darin elementar, leibhaft verankert. Für die Meditation liegt diese Forderung einsichtig nahe. Ohne daß wir uns hinuntersinken lassen in die Bewegtheit urtümlichen Geschehens, stellen sich als ihre Inhalte nur Gebilde oberflächlicher Assoziationen ein. Darauf beruht es, daß alle tiefergreifende geistliche Übung mit körperlichen Entspannungsübungen beginnen oder richtiger durch sie vorbereitet werden muß.

LeerFür den liturgischen Dienst gilt dies in gleichem Maß. Ohne jenen Unterbau elementarer Rhythmen muß alles liturgische Handeln im Formal-Ästhetischen stecken bleiben, seine Inhalte im Vordergründig-Verstandesmäßigen versanden oder ins Sentimentale abgleiten. Dieser Anspruch erstreckt sich sowohl auf den inneren Aufbau wie auf das gesprochene und gesungene Wort selbst. Der innere Aufbau der Liturgie ist nur dann in Ordnung, wenn sich die brei Phasen des Rhythmus in wirksamer Folge darin finden. Der Kirchenbesucher kommt aus der bewegten Welt in die Stille und will aus ihr mit lebendiger Spannung geladen in die Welt zurückkehren. Darum muß er zunächst entspannt werden und in der Stille, die ihn von der äußeren Welt loslöst, kann er mit den anderen in der Gemeinde verbunden werden.

LeerErst daraus, aus solcher echten Ruhe kann die Spannung gewonnen werden, mit der er in die Welt zurückgesandt werden soll. Das gleiche gilt von dem gesprochenen und gesungenen Wort, Die Wirkungskraft eines jeden Wortes ist nicht mit seinem begrifflichen Inhalt identisch; ganz besonders das im Kultus ertönende Wort soll Mittler der Botschaft und Träger verbindender Kraft sein. Aber nur in der Verbindung mit dem Quell alles Lebens, „von der Mitte her” entfaltet es seine geheimnisvolle Gestalt. Der Mangel an solcher inneren Verbundenheit hat priesterlichen Worten und Gebärden weithin ihre Mächtigkeit genommen. Und es ist unsere dringende Aufgabe, das, was uns Menschen zu tun möglich ist, wirklich zu tun, damit auch vom Leiblichen, von der Übung des Atmens her geistliche Übung aus dem Mutterboden vitaler Beschwingtheit gespeist werde und geistliche Übung selbst wiederum zum Atmen der Kirche werde.

Das Gottesjahr 1938, S. 109-113
© Johannes Stauda-Verlag Kassel

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-10-15
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