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von Hugo Specht |
Diese Worte, die ich dir heute gebiete, sollst du zu Herzen nehmen Im Allgemeinen lesen wir, um irgend eine Sache zur Kenntnis zu nehmen. Oder wir lesen um unser Sensationsbedürfnis zu befriedigen. Wir sind gewohnt, ein Schriftstück so zu lesen, daß wir den „springenden Punkt” herausfinden und in der Regel genügt es uns, wenn wir den herausgefunden haben. Solches Lesen kann eine notwendige Vorbereitung für das Bibellesen sein, aber es ist nur Vorbereitung, und wir kommen nicht in die Bibel hinein, wenn wir nicht die Bibel im Sinn unserer Überschrift lesen als eine Einübung im Gesetz, wobei der Ausdruck „Gesetz” sich keineswegs auf das alttestamentliche Gesetz beschränkt, sondern für die Heilige Schrift als der Urkunde des göttlichen Willens gilt, des fordernden und schenkenden Willens Gottes. An ein paar Punkten soll hier aufgezeigt werden, was zu solchem einübendem Lesen der Bibel gehört. 1. Schon im ersten Psalm und an vielen anderen Stellen wird der Mensch gepriesen, der über dem Gesetz Gottes „nachsinnt Tag und Nacht”. Zur Einübung gehört die W i e d e r h o l u n g - Das ist nun schon etwas, zu dem wir sehr wenig Bereitschaft mitbringen. Wie selten, daß wir ein Buch mehrmals lesen, von der Zeitung ganz zu schweigen. Es ist auch klar, daß die wenigsten Bücher ein wiederholtes Lesen ertragen und verdienen. Aber zum Bibellesen gehört die Wiederholung. Und fruchtbares Bibellesen ist unmöglich, wenn es nicht immer wiederholendes Lesen ist. Denn wir lesen ja die Bibel nicht, um die Sache zur Kenntnis zu nehmen, um die es in ihr geht. In der Bibel selber ist ja von dem „Wort” immer in dem Sinn die Rede, daß es etwas Lebendiges ist, das in dem Hörer oder Leser lebendige Wirkung ausübt, das an ihm gestaltet und formt. Daß es aber an mir bilden kann, dazu muß ich mich ihm immer wieder darbieten, immer wieder die Möglichkeit geben, daß es in mir wirkt. Auf säkularem Gebiet weiß man das viel besser, der Politiker kann nicht darauf verzichten, die gleichen Dinge immer wieder zu sagen, und es ist nur ein Beispiel der Säkularisierung unseres ganzen Lebens daß das Gesetz der Wiederholung auf dem Gebiet, für das es in erster Linie gilt, auf dem innersten des Glaubens, so sehr mißachtet wird. Daß wir durch eine Zeit hindurchgegangen sind, in der man für das liturgische Leben die Parole ausgeben konnte, der Gottesdienst müsse abwechslungsreicher gestaltet werden, um anziehender zu sein, ist ja ein Symptom für die gleiche Not, für ein Nachgeben gegenüber einer auf Reizwirkungen und Sensationen abgestellten Zeit. Wo doch ein Wesenszug der Liturgie gerade die Wiederholung ist. Luther hat das noch gewußt und wenn er den Rat gibt und es selber auch so gehalten hat, die 10 Gebote und den Glauben (neben dem Vaterunser) zu b e t e n , so lag darin das Wissen darum, daß diese Worte ihre Wirkung nur ausüben können wenn sie ständig wiederholt werden. 2. Diese ständige Wiederholung braucht als notwendige Ergänzung das A u s w e n d i g l e r n e n . Man kann nur dann „Tag und Nacht über das Gesetz nachsinnen”, wenn es einem auch immer zur Verfügung steht, weil man es sich auch rein gedächtnismäßig angeeignet hat. Wir kommen aus einer Zeit, in der die pädagogische Wissenschaft vom Auswendiglernen nicht mehr viel wissen wollte. Tieferblickende sehen schon heute, was für eine unheimliche Verarmung unseres Lebens, ja, unseres L e b e n s , nicht nur unseres g e i s t i g e n Lebens, die Vernachlässigung des Gedächtnisses bedeutet. Zu verstehen ist diese Stellung nur von einer Zeit, für die das Wort, zweckhaft verstanden, nur der Vermittlung bestimmter Kenntnisse dienen sollte, wo man aber von der Lebendigkeit und schöpferischen Mächtigkeit des geformten Wortes nichts mehr wußte. Wir müssen es mit aller Entschiedenheit sagen: Es gibt kein fruchtbares Bibellesen, ohne daß man wichtige Stücke der Bibel auswendig lernt. Wohl denen, mit denen eine fromme Mutter abends beim Zubettgehen Psalmen gelernt hat, oder denen ein treuer Lehrer und Konfirmator es zugemutet hat, größere Abschnitte der Heiligen Schrift auswendig zu lernen. Wer das aber als Kind nicht gelernt hat, der soll sich auch als Mann die Mühe nicht verdrießen lassen, Abschnitte der Bibel auswendig zu lernen. Man soll das in der Zeit tun, die man sich für das Bibellesen freihält, und es gibt den Tag über manche Minuten und Viertelstunden, die man zur stillen Wiederholung des Auswendiggelernten sehr fruchtbar anwenden kann. Leere Zeiten, die man oft sehr leichtsinnig vergeudet. In dem Ausdruck „auswendig” lernen steckt ja ein Urteil, als ob es sich um etwas Minderwertiges handle. Aber hier trifft unsere Sprache nicht das Richtige; denn um etwas Äußerliches handelt es sich ja nicht (auch wenn das Auswendiglernen unter Umständen etwas Äußerliches sein kann). Der Franzose hat dafür ein viel richtigeres Empfinden, wenn er mit „par coeur” bezeichnet, was wir „auswendig” nennen. Und wir werden daran erinnert, wenn das Wort aus 5.Mose 6 sagt: „Diese Worte, die ich Dir heute sage, sollst Du zu Herzen nehmen.” Richtig inwendig lernen wir eine Sache erst, wenn wir sie auswendig können. Und zwar inwendig in dem doppelten Sinn, daß die Worte in unser Inneres dringen können, und daß wir in das Innere der Worte dringen können. Und wenn unserer heutigen Bibel-Ver-Breitung nicht auch eine Ver-Tiefung entspricht, dann ist nicht sehr viel geholfen. 3. Es gehört zum rechten Bibellesen, daß wir nicht nur mit dem Augen lesen, sondern die Worte mit dem Mund auch formen, daß wir s p r e c h e n , was wir lesen. Wie fein ist das in unserem Wort ausgedrückt, wenn es dort heißt: „Du sollst sie Deinen Kindern einschärfen und davon reden.” Indem wir mit anderen von einer Sache r e d e n , sind wir ganz anders gezwungen, sie klar zu formulieren; die Worte bekommen ganz anders Gestalt, als wenn wir nur daran denken. Die katholische Kirche weiß wohl, warum sie ihren Priestern zumutet, das Brevier sprechend zu lesen und auch Luther hat das noch gewußt, wenn er in dem sehr wertvollen Schriftchen: „Eine einfältige Weise zu beten” schreibt: „... hebe an die zehn Gebote, den Glauben und, darnach ich Zeit habe, etliche Sprüche Christi. Pauli oder Psalmen, mündlich bei mir selbst zu sprechen, allerdings wie die Kinder tun.” Das richtige Lesen soll eben nicht nur eine bloße Gedankenarbeit sein. Mit a l l e n S i n n e n soll es geschehen. Und wenn das Bibellesen ein Teil dessen sein soll, was wir geistliche Übung nennen, so dürfen wir dies nicht in einem verdünnten spiritualistischen Sinn auffassen. das wäre auch ganz gegen die Anschauung der Bibel, die ja den Menschen nie bloß als geistiges Wesen sondern immer in seiner leibseelischen Ganzheit sieht. Lesen, sehen, sprechen, hören soll der Mensch das Wort der Schrift, mit allen Sinnen soll er es aufnehmen, das ist für uns heute noch der Sinn jener Anweisung: „sollst sie binden zum Zeichen an deine Hand und sollen Dir ein Denkmal vor Deinen Augen sein.” Und wenn wir Hesekiel 3 und Offenbarung 10 jenem merkwürdigen Auftrag begegnen, daß der Prophet eine Schrift verschlingen soll, so ist damit das gleiche gemeint, mit allen Sinnen soll das Wort aufgenommen werden: der Prophet soll es sich „einverleiben”, daß es wirklich ganz sein eigen wird. Und das gilt für alle wahren Bibelleser. 4. Es ist nicht gleichgültig, in welcher ä u ß e r e n Lage und Haltung wir lesen. Auch hier muß der Protestant aus seiner Gleichgültigkeit aller leiblichen Gebärde gegenüber wieder herauskommen. Wenn es im 5. Buch Mose heißt: „Du sollst davon reden, wenn Du in Deinem Hause sitzest oder auf dem Wege gehst, wenn Du Dich niederlegst oder aufstehst”, so ist das nicht einfach eine wortreiche Umschreibung für „alle Zeit”. sondern es steckt dahinter auch die Erfahrung, daß es ein anderes ist, ob ich ein Wort im Liegen lese oder im Sitzen, ob ich es auf einem Weg über Land vor mich hin, oder besser in mich hinein sage, ob ich es nach anstrengendem Tagewerk vor dem Zubettgehen lese oder in der kühlen Frische des Morgens. Wir nehmen es eben nicht nur mit dem Gehirn auf, sondern mit unserem gesamten Leben. Und wiederum ist der Mensch nicht ein Einzelner, losgelöst für sich, sondern er ist immer ein Stück seiner ganzen Umgebung und ist jedesmal ein anderer, ob er daheim in seiner Stube, oder draußen in der Natur ist, ob er durch ein wogendes Kornfeld geht, über dem die Mittagsglut steht, oder durch den kühlen, schattigen Wald. Und darum sollen wir das auch in seinem ganzen Gewicht nehmen, wenn es im ersten Psalm heißt: „über seinem Gesetz nachsinnt T a g u n d N a c h t ”. Die Nacht als Stunde des Gebets wird in den Psalmen immer wider genannt und nicht nur in ihnen, auch von Jesus berichtet der Evangelist Lukas gelegentlich, daß er „über Nacht” im Gebet blieb. Unsere eigenen Erfahrungen bestätigen ja auch, daß die Nacht - aber wer kennt in der Stadt heute noch die Nacht? - mit ihrem ganz anderen Rhythmus uns besondere Möglichkeiten des „Nachsinnens” gibt. Nietzsche hat dieser Tatsache in Zarathustras Nachtlied ja jenen unvergleichlichen Ausdruck gegeben: „Nacht ist es, nun reden lauter alle springenden Brunnen, und auch meine Seele ist ein springender Brunnen.” Und es ist mehr. als wir im oberflächlichen Verstand ein „Sinnbild” nennen, wenn wir Mitternacht als die Stunde der Ewigkeit bezeichnen, Wieviel nervenzerrüttende Schlaflosigkeit hat ihre Ursache darin, daß wir wache Stunden der Nacht nicht ansehen als Gelegenheit „über Seinem Gesetz nachzusinnen.” 5. Denn alles Bibellesen muß letzten Endes b e t e n d e s Lesen sein. Was dies bedeutet, dafür hat Luther in dem wiederholt genannten Büchlein vom Beten seinen praktischen Rat gegeben, wenn er schreibt: „Mache aus jeglichem Gebot ein geviertes oder ein vierfach gebrehtes Kränzlein als: Ich nehme ein jeglich Gebot an, zum ersten als eine Lehre, wie es denn an ihm selber ist, und denke, was unser Herr Gott darin so ernstlich von mir fordert, zum zweiten mache ich eine Danksagung daraus, zum dritten eine Beichte, zum vierten ein Gebet.” Und wir meinen darüber hinaus, daß alles Bibellesen in dem letzten Ernst geschehen muß, der dem Beten eignet, als ein Lesen in der Gegenwart Gottes, in der es nichts Unverbindliches gibt, ein Lesen in einer großen Hingabe und Aufgeschlossenheit, ein Lesen bei dem für das Wort in der Schrift gilt, was für Gott selber gilt, daß wir es nicht wie irgend eine Sache betrachten, zu der wir „Stellung nehmen” müssen, sondern daß wir uns in vertrauender Hingabe ihm darbieten, damit es an uns wirke. Denn aller Umgang mit der Heiligen Schrift hat letztlich keinen anderen Sinn, als daß etwas an uns geschehe, und alle Einübung des Gesetzes bedeutet nichts anderes, als daß wir den Weg bereiten für das Kommen des Herrn in seinem Wort. Darin liegt der ganze gewichtige Ernst aller geistlichen Übung, aber auch seine Grenze. Es wäre eine Verirrung, zu meinen, wir könnten durch unsere geistlichen Übungen, durch eine psychologisch aufs äußerste durchdachte und verfeinerte Methode und Technik das Wirken des göttlichen Wortes herbeizwingen. Aber mir scheint, daß diese Gefahr geringer ist, als die andere, daß wir durch geistliche Zuchtlosigkeit und Gleichgültigkeit den Weg verbauen, auf dem das Wort zu uns kommen will. Gerade in der Einsicht in die Grenze liegt aber auch selber ein ganz großer Ernst; alle geistliche Übung, auch das Bibellesen, muß geschehen eben in der betenden Haltung, als einer Haltung der Demut und der Buße: „Ich bin dein, Herr, hilf mir; denn ich suche deine Befehle” (Psalm 119, 94). Das Gottesjahr 1938, S. 88-94 © Johannes Stauda-Verlag Kassel |
© Joachim Januschek Letzte Änderung: 12-10-15 |