|
von Gerhard Rosenkranz und Wilhelm Stählin Ein Briefwechsel |
Sie wollen von mir ein Wort hören über die Ruhe des Ostens und den Weg zu ihr, genauer darüber, ob diese Weisheit des Ostens Verheißung oder Versuchung ist für den Westen. In den Ländern Ostasiens ist ein Büchlein der buddhistischen Erbauungsliteratur weitverbreitet, das den Titel trägt: „Die zehn Bilder vom Rinderhüten”. Verfaßt wurde es wohl in der Zeit der Sungkaiser von dem chinesischen Zen-Priester Kabuan; aber im Laufe der Jahrhunderte wurde sein Thema in Schriften gleichen Namens vielfältig abgewandelt, so daß das Büchlein heute in verschiedenen Ausgaben vorhanden ist. Ich geben den Inhalt kurz wieder nach einer japanischen Ausgabe, in der ein im 15. Jahrhundert lebender japanischer Priester die Erläuterungen und Gedichte Kabuans durch die zehn Bilder symbolisch darzustellen oder besser noch: ihren Sinn transparent zu machen versuchte. Ein Hirt hat sein Rind verloren und ist nun verzweifelt auf der Suche nach ihm. Daß er es verlor, ist seine Schuld, da er, trügerischen Gefühlen folgend, wider seine innere Natur handelte und damit das Band der Gemeinschaft zerriß, das Mensch und Tier durch die ihnen in gleicherweise innewohnende Buddha-Natur verbindet. Mit Hilfe von Sutras und Lehren findet er schließlich Spuren. Den Weg selbst entdeckt er noch nicht, weil sein Geist noch zu verwirrt ist, als daß er Gutes von Bösem, Wahres von Falschem unterscheiden könnte. Endlich findet er auch das Rind. Es offenbart sich ihm der Ursprung der Dinge; Harmonie erfüllt sein Wesen und sein Handeln. Er fängt das Rind; aber es läßt sich schwer bändigen. Die wilde Natur ist störrig. Der Hirt bedarf der Peitsche und des Seiles, um sich und das Tier in Harmonie zu bringen. Auch das gelingt. Hirt und Rind ziehen friedlich ihres Weges. Daß die Dinge uns zu schaffen machen, daran ist nicht die Welt, sondern unser Geist schuld, der sich selber täuscht. Also gilt es, das Seil straff zu halten, keiner Unentschlossenheit Raum zu geben. Der Kampf geht vorüber; der Hirt ist frei geworden von den Gedanken an Gewinn und Verlust. Von unbeschreibbarer Freude erfüllt, reitet er singend auf dem Rücken des Rindes heimwärts. Er ist allem Irdischen abgewandt - ein Wissender. So kommt er heim, und siehe da, das Rind ist verschwunden! In tiefer Ruhe sitzt der Hirt allein vor seiner Hütte, bis dann auch er noch unsichtbar wird. Das achte Bild zeigt den Kreis, in dem das Geschehen bisher dargestellt war, ganz leer. Nun ist alle Verwirrung vorüber; es herrscht vollkommene Ruhe. Wo der Buddha ist, ob es einen Buddha gibt, solche Fragen verstummen. Es gibt keinen Dualismus mehr; der Gedanke an Heiligkeit existiert nicht. „Alles ist leer: Peitsche, Strick, Mensch und Rind. Wer vermag des Himmels Größe zu überblicken? Über einem brennenden Ofen kann keine Schneeflocke fallen: wenn dieser Zustand der Dinge herrscht, dann ist der Geist des alten Meisters offenbar”. Wer so weit ist, der sitzt am besten in seiner Hütte, blind und taub, und nimmt von dem, was draußen geschieht, keine Kenntnis. Geht er aber in die Stadt, nichts anderes mehr sein eigen nennend als einen Kürbis und einen Stab. dann spenden seine Hände Segen. „Nackt ist seine Brust, nackt sein Fuß; Schmutz und Asche bedecken ihn; aber auf seinem Gesicht liegt breit ein Lächeln. Da bedarf es nicht der Götter Wunderkraft; seine Berührung läßt tote Bäume voll erblühen!” Nichts anderes ist zur Erlangung des Zen nötig, als eine nach innen gerichtete Meditation, als eine zuchtvolle Schulung des Geistes. Sie wird nicht in meditativer Betrachtung von Dingen der Außenwelt gewonnen, sondern in der Beschäftigung mit Koans, mit oft sehr seltsamen und scheinbar sinnlosen, meist aus alter Überlieferung stammenden Problemstellungen, die der Zen-Meister seinem Schüler gibt, um seine Intuition zu wecken. Denn darum geht es: den Geist durch Konzentration und Meditation zu intuitiver Erkenntnis fähig zu machen, nicht aber darum, ihm rationale Erkenntnis zu vermitteln. Wer so gelernt hat, „den Dingen ins Herz zu sehen” und um ihre Verbundenheit mit sich selbst in der gleichen Buddha-Natur zu wissen, der trägt dann auf seinem Antlitz als Abglanz seiner Erleuchtung jene überlegene Ruhe, die den Menschen des Westens als besonderes Wesensmerkmal des Ostens erscheint - den einen als ewiges Rätsel, den anderen als gefährliche Maske, vielen aber als Ziel ihrer Sehnsucht. Es ist nicht nur das Zen, das diesen Zug im Angesicht des Ostens geprägt hat. Auch der T a o i s m u s hat entscheidend dazu beigetragen, jenen Zug zu prägen; zu ihm zieht es denn auch immer wieder viele Abendländer hin. Wohl unterscheiden sich die Mönche des Buddhismus und des Taoismus in Kleidung, Haartracht und Stellung zur Ehe voneinander; aber bei religiösen Feiern in den Häusern sieht man sie oft zusammen wirken, und wenn bei den Taoisten ebenso wie bei den Buddhisten bedeutende Gelehrte, Dichter und Maler erstanden sind, so war bei beiden der Boden in ähnlicher Weise dafür bereitet. Auch der Taoismus setzt seinen Anhängern das Ziel, freizuwerden vom Ich in der Vereinigung mit dem Absoluten; er fordert von ihnen die Rückkehr zum „Tao”, zur Wurzel alles Seienden. Er darf nichts selber machen wollen; Askese und mystische Ekstase haben hier, wenigstens im ursprünglichen Taoismus, ebensowenig ihren Platz wie das Streben nach rationaler Erkenntnis. Selbst die geistige Schulung des Zen-Buddhismus würde Lao-Tse noch als Wei, als Betriebsamkeit, abgelehnt haben. Keinesfalls aber ist nun das Wu Wei, das Nicht-Handeln, ein Zustand der Passivität. Im Gegenteil: den Osten wird die Negation zur Bezeichnung des höchsten und eigentlichen Positiven. Wer dies erreicht hat, daß er handelt ohne zu handeln, der ist der taoistische Heilige. Auch von ihm strahlt jene Ruhe aus, die die Heiligen des Ostens als in der Welt und doch nicht von der Welt erscheinen läßt. Das gilt auch vom Heiligen des K o n f u z i a n i s m u s , dem nichts anderes obliegt, als seine Tugend, d. h. seine Harmonie mit dem Tao, zu pflegen. Mit Recht kann daher Wang-Yang-ming, der konfuzianische Zeitgenosse Luthers, den Ruhezustand „wo allein die höchste Bestimmung herrscht”, „wo keine Erregung der Leidenschaften” und mithin „weder Gut noch Böse” existiert, das „höchste Gut” nennen. Hier erhebt sich nun die Frage: kann das Christentum, das seine Botschaft ja auch dem Osten bringt, in diesem Hause gleichfalls ein Zimmer beziehen? Oder zurückgerichtet auf das Abendland, lautet die Frage: kann der Abendländer, der doch Christ ist, Mängel und Unerfülltheiten, die er in seinem Christsein empfindet, durch eine Anleihe bei den Religionen des Ostens beheben? Bietet das, was dein Blick des Abendlandes immer wieder anzieht, die Ruhe des Ostens und der Weg zu ihr hin, der christlichen Verkündigung die Möglichkeit zur Anknüpfung im Osten, zur Aneignung im Westen? Liegt darin für sie eine Verheißung oder - eine Versuchung? Dazu ist zunächst zweierlei zu sagen. Erstens: dem Menschen im Westen stellt sich das Ziel seines Lebens, das er ersehnt und für das er im Christentum keine Erfüllung seiner Sehnsucht zu finden glaubt, im allgemeinen nur in dem reichen Schrifttum des Ostens dar, das Menschen verfaßt haben oder das von Menschen berichtet, die drüben als Heilige verehrt werden, als Menschen, die zum Ziele kamen. Das sind aber immer nur ganz wenige Auserlesene, verglichen mit den riesigen Volksmassen, auf deren Gesichtern nicht die Ruhe, sondern Angst und Verkrampfung liegen, die dauernd auf der Flucht sind vor sich selbst, vor dem Leben und vor dem, was nach dem Tode kommt, die bestenfalls sich von dem Vertrauen auf Erlösung durch eigene Kraft abwenden und sich dem Amida Buddha und seinem Versprechen anvertrauen, sie in den Vorhof des Nirvana, das Paradies des Westens, zu führen. Kein Volk hat mehr Geister- und Gespenstergeschichten als China.x Hier liegt die andere Seite des religiösen Lebens im Osten, und man darf wohl sagen: es ist seine wirkliche Seite. Der Weg zur Erleuchtung, den die Religionen des Ostens lehren, ist von jeher ein aristokratischer Weg gewesen, und die Erleuchtung selbst blieb immer nur wenigen vorbehalten. Sodann: der Weg sei Irrweg oder Heilsweg, ihn in vollem Ernst und ganzer Konsequenz zu gehen, wird immer nur dem Menschen des Ostens, niemals dem Menschen des Westens möglich sein. Wer das nicht sieht, verkennt die Wesensgegensätze, die zwischen beiden vorhanden sind. „Das Lebensmerkmal des orientalischen Menschentypus”, so schreibt W. Haas in seiner vortrefflichen Schrift „Die Seele des Orients”, „welches seiner seelischen Struktur entspricht, ist das Einzelne, vereinzelt für sich Seiende, im gesteigerten Maß das Einförmige und das sich Wiederholende, zusammengefaßt unter dem Begriff des Monotonen. ... Überall tötet die monotone Tätigkeit das occidentale Ich ... Der monotone Inhalt ist das ihm (dem orientalischen Menschen) adäquate Lebenselement”. In dieser Feststellung liegt eine todernste Mahnung an alle Menschen des Westens, die die Erfüllung ihrer Sehnsucht nach Ruhe im Osten suchen. Diese Hintergründe und Motive östlicher Meditation und Geistesschulung muß man kennen, um zu erkennen, wie unmöglich ihre ernsthafte Verwendbarkeit im Leben des Abendländers ist. Und zu dem allen haben wir nun noch ein Wort als Christen zu sagen. Auch das Christentum weiß um die Spaltung, in der der erdgebundene Mensch dem ewigen Gott gegenüber steht; Christus selbst, in dem Gott Fleisch wurde und unter uns wohnte, ist dessen Zeugnis. Und die christliche Kirche hat sich je und je dazu bekannt. Sie hat die östliche Versuchung, die Spaltung abzubauen, von Anfang an entschieden zurückgewiesen. Das ist die Bedeutung ihres Kampfes gegen die Gnosis; das ist auch die Bedeutung ihrer Konzilienbeschlüsse wider die Doketisten, die die irdische Erscheinung Jesu zu einem Phantasma machen wollten. Dem stellte sie gegenüber: vere deus vere homo, vom Vater in Ewigkeit geboren. Fasse, wer's kann! Für den Christen liegt darin: daß ihm die Spaltung unter der er leidet, zur Spannung geworden ist, die er bejaht. Die Religionen des Ostens bieten ihren Gläubigen das Filter der Meditation und geistigen Schulung, durch das sie von der Spaltung los- und zur splendid isolation des Einsseins mit dem Absoluten hinkommen. Das Christentum nimmt die Spannung auf in kollektive Verbundenheit, es sucht sie in aktiver Emporentwicklung zu überwinden, es entscheidet sich ihr gegenüber im Glauben, in dem sich der sündige Mensch der Gnade Gottes überläßt. Sein Ziel ist nicht jene Ruhe, in der der Mensch schließlich als Monade wie ein kristallklarer Wassertropfen an der Kuppel des Weltalls hängt, sondern der Friede des Menschen mit Gott, immer von neuem gebrochen durch den Menschen und immer von neuem geschlossen durch Gott. Seine Seligpreisung lautet nicht: „Selig sind die geistig Geschulten”, sondern „Selig sind die geistlich Armen”. Konzentration und Meditation nun aber etwa in den Dienst der Erlangung geistlicher Armut zu stellen, so wie der Osten sich ihrer zur Erlangung der Fülle der geistigen Erkenntnis bedient, wäre von gleicher Vermessenheit und Aussichtslosigkeit. Nicht Gewinn oder Abbau von Erkenntnis, sondern Vertrauen auf die Gnade Gottes in Christus; nicht Versenkung, sondern Versöhnung; nicht Konzentration, sondern Entscheidung; nicht Schulung des Geistes, sondern Gebet des Herzens - das ist die Lage des Menschen vor Gott. in die ihn das Evangelium stellt. den Christen wie den Nichtchristen, die ungezählten Menschen des Ostens, denen heute das Leben des Abendlandes verlockend erscheint, ebenso wie den vielen Menschen des Westens, denen in innerer Hilfslosigkeit und Verzweiflung die Versuchung des Ostens als Verheißung erscheint. Wo der Mensch sich vor Gott stellt, da wird es stille in ihm; aber freilich: das ist nicht Ruhe des Geistes, sondern Stille zu Gott: Forderung und Geschenk in einem. Gerhard Rosenkranz Ich bin Ihnen dankbar, daß Sie unsere Frage aus Ihrem Erfahrungskreis heraus so ausführlich beantwortet haben, und ich bin auch dankbar, daß Sie so deutlich und dringlich auf die Gefahren hingewiesen haben, die in einer Sehnsucht nach der Ruhe des Ostens und in einer Nachahmung seiner Wege lauern. Wenn ich an jene Nachkriegsjahre zurückdenke, wo viele Menschen mit feiner und zarter Seele, vom Überdruß an unserer abendländischen Kultur geschüttelt, lüstern wurden nach der Weisheit des Ostens und wahllos bald die Reden Buddhas, bald die Gleichnisse des Tschuang-Tse oder die Gespräche Liä Dsi's in sich aufnahmen, dann ist es dem gegenüber eine heilsame Ernüchterung, wenn man eine klare Erkenntnis davon gewinnt, was jene Ruhe des Ostens eigentlich meint. Sie haben gewiß recht: in dem Haus dieser östlichen Weisheit neben den drei großen Weltreligionen Asiens noch ein christliches Zimmer einzurichten und sich selbst dort zu Gaste zu laden, das darf uns nicht einfallen. Vielleicht wird uns gerade bei der Geschichte vom Rinderhirten, die Sie uns erzählen, sehr deutlich bewußt. wie tief unser gesamtes Abendland gerade durch das Christentum gelernt hat, das Leben, die personhafte Existenz und den Dienst an der Welt als eine uns gestellte Aufgabe anzusehen, der wir auf keinen Fall entlaufen dürfen. Irgend welche Seelentechnik, die uns zu jener lächelnden Ruhe des Nicht-mehr-Seins verhelfen könnte, wäre wirklich eine Versuchung, keine Verheißung und keine Hilfe. Gewiß wären viele Leser unseres Jahrbuchs sehr erfreut, wenn ich hier abbrechen und Ihren Brief nur mit dieser meiner Zustimmung stehen lassen wollte. Ich stelle mir vor, wie sehr alle die, denen schon der Begriff einer geistlichen Übung unheimlich und verdächtig ist, beruhigt aufatmen würden,wenn sie erfahren, daß wir keinerlei Importware aus dem Osten empfehlen wollen, und daß wir Abendländer, oder vielmehr wir Christen, das alles Gott sei Dank nicht brauchen. Aber ich kann hier leider nicht abbrechen. Nicht als ob ich Ihnen in Ihrem wesentlichen Anliegen, daß wir nichts von dem Osten übernehmen können und dürfen, widersprechen wollte. Aber ich habe die Sorge, daß man sich dabei nun in einer falschen und gefährlichen Weise beruhigen könnte. Jene Verzweiflung an unserer abendländischen Zivilisation und der gesamten abendländischen Geisteshaltung war doch kein Zufall, sondern sie entsprang dem berechtigten Gefühl einer tiefen Not. Indem ich dem Menschen einen verkehrten Fluchtweg abschneide, habe ich ihm noch nicht aus seiner Not geholfen. Darf ich es an einem Punkt deutlich machen: Sie empfehlen in ihren letzten Sätzen als den für uns Christen des Abendlandes allein angemessenen Weg den Glauben, indem sich der Mensch der Gnade Gottes überläßt. Friede des Menschen mit Gott, Versöhnung, Gehorsam, Gebet. Aber ist nicht gerade das unsere Not, daß unzählige Menschen - und wer von uns gehört nicht dazu? - auf diesem Wege peinlich gehemmt sind, daß wir in eine geistige Verfassung verstrickt sind, in der es uns nicht gelingen will, uns wirklich den Händen Gottes zu überlassen, und in der vor allem die Aufforderung zum Gebet als eine ganz unmögliche Zumutung, als eine nicht zu vollbringende Leistung wirkt? Ich gestehe, daß mich darum auch die Gegensatzpaare, die Sie am Schluß Ihres Briefes einander gegenüberstellen, nicht in allen Einzelheiten überzeugen. Sie schreiben, daß nur ganz wenige Auserlesene den Weg des Ostens wirklich gehen können, während die große Masse auf ihrem Angesicht nicht Ruhe, sondern Angst und Verzweiflung widerspiegele. Ich frage ernstlich, ob das im Umkreis unserer christlichen Völker wesentlich anders ist. Wie wenigen unter uns ist das anzuspüren, daß sie mit Gott versöhnte Kinder, erlöst, gelassen und friedevoll sind! Kann es anders sein? sind es nicht auch innerhalb der christlichen Kirche die wenigen, die, um es biblisch auszudrücken, zu dem vollen Mannesalter in Christus gelangt sind? Gibt es nicht Erkenntnisse und Erfahrungen, die ihrem Wesen nach nicht in den großen Massen, auch nicht in den Massen eines „christlichen” Kirchenvolkes, sondern nur bei wenigen Begnadeten daheim sein können? Ist es nicht ein verhängnisvoller Irrtum, den gerade die protestantische Kirche erlegen ist, wenn man meint, man könnte allen alles sagen und alle alles lehren? Ich habe einmal einem Theologen, der von mir „Aufschluß” über das Wesen der Meditation begehrte, geantwortet, er müsse erst selbst aufgeschlossen werden, ehe ihm irgendein solcher Aufschluß etwas nützen könne; und ich weiß, daß ich ihm keine andere Antwort geben konnte. Sie schreiben: nicht Versenkung, sondern Versöhnung; nicht Meditation, sondern Gehorsam; nicht Konzentration, sondern Entscheidung; nicht Schulung des Geistes, sondern Gebet des Herzens! Ich weiß natürlich, daß hier jede Verwechslung, jede Vermengung der Dinge zu peinlichen Irrtümern führen müßte. Dennoch sind mir diese Antithesen unheimlich. Ist ein zerfahrener Mensch, der zu jeder inneren Sammlung unfähig ist, überhaupt fähig zu einer wirklichen Entscheidung? Kann ein Mensch wirklich Gott gehorsam werden, der das laute Wesen und das rastlose Tun in sich nie abstreifen, sich nie loslassen und fallen lassen kann? Haben wir nicht erfahren, daß man die großen Lieder unserer Kirche nur dann richtig singen kann, richtig, das heißt so, wie es ihr Inhalt verlangt, wenn man bestimmte Dinge, die bis ins Leibliche hineinreichen, gelernt und geübt hat? Wir wollen gewiß kein Zimmer mieten in dem Hause der östlichen Meditation. jede wirkliche Beschäftigung mit den Wegen östlicher Schulung wird zunächst den ungeheuren Abstand sichtbar machen und diese Erkenntnis wird uns vor der Gefahr der Überfremdung bewahren. Trotzdem zeigt sich vielleicht auch hier, daß in einer letzten Tiefe der Weg der Heilung und Förderung dort und hier nicht ein völlig verschiedener ist. Wenn wir Abendländer wirklich so ganz anders organisiert sind, ist das nicht auch der Ausdruck einer gefährlich einseitigen Entwicklung? Wir haben - ebenso wie die Asiaten - Teilgebiete des menschlichen Wesens zu besonderer Leistungskraft emporgesteigert und haben zugleich Fähigkeit und Verständnis für andere Seelenkräfte eingebüßt. Kann man wirklich, wie Sie es zu tun scheinen, den Weg einer aktiven Entwicklung als den eigentlich christlichen Weg beschreiben? Sind die geistlich Armen, die Kranken, die Hungrigen, die Jesus selig gepriesen hat, nicht gerade jene Menschen, die in sich so „leer” und „passiv” geworden sind, daß sie bereit sind, Gott in sich wirken zu lassen? „Nichts mehr selber zu machen”, frei zu werden von dem ichhaften Lebenswillen, völlige Hingabe: ist das nicht auch nach der biblischen christlichen Erkenntnis notwendig eingeschlossen in den Glauben, durch den allein wir Anteil empfangen an der Gnade Gottes; also ein Weg, der wirklich gegangen und geübt werden muß? Es hat mir sehr zu denken gegeben, daß Sie in einigen Ihrer Sätze den Weg des Ostens fast mit den gleichen Worten beschreiben, mit denen - Luther das Wesen der geistlichen Übung beschrieben hat. A. D. Müller hat in seinem Beitrag zu diesem Jahrbuch gerade dieses reformatorische Verständnis der geistlichen Übung im Unterschied von jedem aktiven Heiligungsstreben beschrieben. Und wenn das so ist, dann wird daraus doch nur bestätigt die große Erkenntnis, daß es im Grunde nur e i n e n wirklichen und echten Weg geistlicher Übung gibt, dessen Sinn in Luthers klassischer Formulierung der ist: „Dir uns lassen ganz und gar”. Es bestätigt sich dann freilich auch dies, daß alle geistliche Übung nur gleichsam ein erster Satzteil ist, der mit einem Doppelpunkt endet, und hinter diesem Doppelpunkt hat Gott allein das Wort. Wilhelm Stählin Das Gottesjahr 1938, S. 17-26 © Bärenreiter-Verlag zu Kassel |
© Joachim Januschek Letzte Änderung: 12-10-15 |