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Das Ende
von Wilhelm Stählin

LeerDie Geschichte geht zu Ende. Die Welt rast ihrem Ende entgegen. Und eine tiefe Kluft bricht auf zwischen denen, die um das Ende wissen, und denen, die in dieser Welt und ihrer Geschichte leben, als ginge das alles in unendlicher Bewegung wie der Kreislauf eines Rades weiter.

LeerIn den Liedern der Kirche taucht immer wieder die Rede auf, daß wir in den „letzten Zeiten” leben. Man kann über solcher Redeweise sich einfach dabei beruhigen, daß zu verschiedenen Zeiten von der urchristlichen Gemeinde an bis zum heutigen Tag immer wieder die Gemüter erfaßt wurden von der Erwartung des nahen Weltendes und daß, wie ja am Tage ist, diese Meinung, ob sie nun die ganze Christenheit in tiefste Aufregung stürzte oder nur die engen Kreise einer enthusiastischen Sekte erfüllte, sich immer als Täuschung und Wahn erwiesen hat. Wir durchschauen heute die gefährlich ansteckende Kraft solchen Wahnes und wissen uns gefeit gegen die Verführung solcher Träume.

LeerAber die christliche Redeweise, daß wir in den letzten Zeiten leben, hat wenig oder nichts zu tun mit dem Rausch solcher trügerischen Erwartung des nahen Weltendes. Ein Dreifaches ist mit dieser Rede gemeint Zunächst und vor allem dies, daß dieser Welt und allem Leben auf ihr keine unendliche Dauer verheißen ist, sondern daß „dieses alles” einem Ende entgegengeht. Jeder heimliche oder offene Versuch, Geschichte als eine nie endende Kette oder als die ewige Wiederkehr im unendlichen Wechsel zu begreifen, ist ein Versuch, sich über das Ende aller Dinge zu betrügen. Aber so wie das Leben ohne Tod ein geträumtes aber nicht das wirkliche Leben ist, so wie echte Lebensweisheit nur geboren wird, wo das Ende, der Tod ernsthaft ins Leben hereingenommen wird, so hängt alles echte Verständnis der Geschichte daran, daß man um ihr Ende weiß und versucht, von diesem Ende her zu denken. Die Entwicklung der Menschheit, der Kampf der Völker, der Aufstieg und der Untergang der Rassen geht nicht ins Unendliche weiter; die Geschichte ist kein Land der unbegrenzten Möglichkeiten, sondern wir gehen einem Abend der Welt entgegen, an dem unwiderruflich der Vorhang einer letzten Nacht vor dieser ganzen bunt bewegten Bühne fällt. Uralte Schau wacht auf in unserer Mitte. Muspilli, der Weltenbrand bedroht alles, was ist; die Götterdämmerung steigt herauf, und grandiose dichterische Bilder wissen wieder um den letzten Menschen und um die Vernichtung der Natur. Einerlei, welche Bilder vor uns aufdämmern; sie meinen alle das Gleiche: Es geht zu Ende.

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LeerDas Wissen um das Ende ist in der christlichen Kirche unzertrennlich verknüpft mit dem Glauben an Christus. In der Geburt Jesu Christi hat die Geschichte der Menschheit ihre Mitte empfangen. Nun zählen alle Jahre, in denen Geschichte sich ereignet, als Jahre vor Christi Geburt oder als Jahre nach Christi Geburt. Gott ist eingetreten in die Geschichte. Aber dieser Einbruch Gottes in die Geschichte ist „der Anfang vom Ende”; der Anfang vom Ende dieser Welt samt ihrer Geschichte. Jede Seite des Neuen Testaments spricht von dem Gegensatz zwischen dieser Welt und der Welt, die kommt. Die kommende Welt hat ihren Anfang genommen in der Erscheinung Jesu Christi. Dieser Anfang der neuen Welt aber bedeutet zugleich das Ende der alten Welt. Noch geht diese Welt weiter. Noch blühen die Blumen und die Sterne leuchten, noch werden Menschen geboren, wachsen auf, arbeiten, kämpfen und lieben in dieser Welt; noch werden Reiche gegründet, noch steigen Völker empor an dem Tag ihrer Geschichte. Aber das alles gehört zu der Gestalt dieser Welt. Und diese Gestalt vergeht. Der Geist, der in der Gemeinde Jesu Christi lebendig ist, gibt den Seinen Klarheit über das, was im Gange ist (Joh. 16, 13); und wer da weiß, was eigentlich im Gange ist, der weiß auch um das Ende alles Anderen. Es handelt sich gar nicht, nicht im geringsten, um die Dauer dieser Frist. Mag sie tausend Jahre währen; wer um ihr Ende weiß, der lebt doch „in den letzten Zeiten” und kann nie mehr so in ihr leben, als hätte sie kein Ende. Es ist das untrügliche Kennzeichen der letzten Zeiten, daß in ihnen die Gegensätze schärfer und unerbittlicher als sonst aufgerissen werden. Nicht die allmähliche Überwindung des Streites in einer friedlichen Harmonie steht am Ende, sondern vielmehr der letzte unversöhnliche Kampf zwischen Gott und dem „Wider-Gott”. Die Fronten klären sich; der Widerstand gegen den, der da „kommt”, legt seine christliche Maske ab, sein Haß wird offenbar, und der Kampf der Geister entbrennt in der letzten grauenhaften Leidenschaft, wie ihn apokalyptische Gesichte geschaut haben.

LeerDie christliche Kirche aber lebt in der Gewißheit, daß in ihr das angebrochen ist, was dieses Ende überdauert. Christus ist der Anfang vom Ende, weil er der Anbruch einer neuen Welt ist. Darum haben die alten Christen das Freudenmahl ihres Herren gefeiert mit dem Ruf: „Es vergehe die Welt, es komme der Herr!” Darum sind die Märtyrer in den Tod gegangen. Darum haben die Dome unsrer Väter ihr Angesicht gewendet nach dem Morgen. Darum haben unsre Väter mitten in dem Grauen des dreißigjährigen Krieges fröhlich und getrost auf das Ende aller dieser Dinge hin geglaubt und gehofft. Darum ist das gesprengte Grab dieser Welt das eigentliche und wahre Zeichen der christlichen Kirche. Und die Liebe, die Menschen wider alle Vernunft und über alle Natur hinaus einander erzeigen, ist wirklich der Morgenglanz der Ewigkeit.

LeerNur wenn diese Welt zu Ende geht, hat das Dasein einer christlichen Kirche in dieser Welt einen wirklichen Sinn. Man soll sich den Ernst dieser Frage nicht verbergen hinter religionsgeschichtlichen Fragen, als ob es sich hier um das Weltbild irgend einer Rasse handelte, das ein anderes Volk als artfremd abtun könnte. Es ist eine sehr nüchterne aber zugleich ganz ungeheuerliche Frage, ob diese Welt zu Ende geht. Wenn sie nicht zu Ende geht, wenn sie im ewigen Wechsel doch ewigen Bestand hat, dann laßt uns den Wahn des Christentums abtun. Wenn sie aber zu Ende geht?

Das Gottesjahr 1935, S. 129-131
© Bärenreiter-Verlag Kassel (1935)

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 16-02-10
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