Die Kirche bedarf nicht des besonderen Raumes. Gott wohnt nicht am besonderen Ort. Sondern er will überall den Herzen begegnen, die ihn suchen. In schlichten Wohnstuben und in weiten Sälen, in der Einsamkeit der Dünen am Meer und den halb zerschossenen Kellerräumen haben wir das göttliche Wort verkündigt und vernommen. Die Täler und die Höhlen der Cevennen sind geheiligte Stätten, in denen die verfolgte Gemeinde Trost suchte und fand. Und wo immer Menschen die frohe Botschaft vernahmen, wo sie miteinstimmten in den Bittruf und Lobgesang der heiligen Kirche, wo sie im Sakrament Leib und Blut ihres Herrn empfingen, da ist die Kirche Jesu Christi, da ist der Raum der Kirche im Raum der Welt.
Dennoch aber suchen wir die besondere, geheiligte Stätte, die uns umfängt und birgt als die irdische Behausung Gottes und seiner Gemeinde. Und wir schämen uns wahrhaftig nicht, auch als Christen, sogar als Protestanten, nachzuempfinden die überschwängliche Liebe, mit der der Psalmsänger von dem Tempel seines Herrn redet: „Wie lieblich sind deine Wohnungen, Herr Zebaoth! Denn der Vogel hak ein Haus gefunden und die Schwalbe ihr Nest, da sie Junge hecken; deine Altäre, Herr Zebaoth, mein König und mein Gott”. Die Gemeinde Jesu Christi ist ein abgesonderter Raum in dieser Welt. Sie ist der wahre Tempel. Sie ist die Behausung Gottes im Geist. Aber wie alles Leben um seinen sichtbaren Ausdruck ringt, so verlangt auch dieses geistliche Haus nach seinem sichtbaren Ausdruck und Gleichnis in der Gestaltung eines besonderen Raumes. Nur deswegen nennen wir die Gemeinde und ihr Haus mit einem und demselben Namen „Kirche”, weil das Kirchengebäude aus Stein und Holz, Eisen und Glas ein Gleichnis ist des geistlichen Hauses, das auf dem ein für alle mal gelegten Grund sich aufbaut. Das Dach über dem Haupte könnte die Gemeinde entbehren. Sie hat es in Notzeiten entbehrt. Und es kann die Zeit kommen, wo die Bekenner Jesu Christi solche äußerliche Heimat wieder entbehren müssen. Dann wird die Herberge ihrer Not ebenso wie das wohlgefügte Kirchengebäude ein Gleichnis sein für den Raum der Kirche, das heißt für die eigentümliche und besondere Art, wie sich die christliche Gemeinde in den Raum dieser Welt hineingestellt findet.
Dreifach ist der Raum der Kirche geschieden und abgegrenzt gegen den Raum der Welt. Nicht an der lärmenden Straße, sondern abseits, von stillem Hof umfriedet, haben die Väter ihre Kirchen gebaut. Es waren oft enge Wege, die von draußen hineinführten zu der Stätte des Gebetes. Feste Mauern, in ältester Zeit nur sparsam von Fenstern durchbrochen, schließen das Heiligtum ab gegen den äußeren Raum; und jene Kirchenburgen, wie sie in Kriegszeiten als Zuflucht des bedrängten Volkes einstanden, erscheinen uns heute wie Sinnbilder jener entschlossenen Abwehr, in der die Kirche ihren inneren Raum gegen die Überflutung durch die Welt verteidigt. Die Fenster aber, die jene festen Wände durchbrechen, lassen nicht das volle Tageslicht in den Raum des Heiligtums, sondern sie dämpfen und brechen das Licht durch das geheimnisvolle Spiel der Farben und verbergen den Anblick der äußeren Welt, der Wohnhäuser, der Fabriken, ja selbst der Bäume hinter den heiligen Bildern, in denen eben nicht die äußere Welt, sondern die Sinnbilder der Offenbarung dem Auge erscheinen. Der Wahnsinn der Aufklärung, der die Fenster nicht durchsichtig genug, den Kirchenraum nicht taghell genug machen konnte, erscheint uns heute als der echte Ausdruck jener Verweltlichung der Kirche, die die Kirche zerstört, indem sie die Welt in breiter Flut einströmen läßt in den Raum des Heiligen. Welcher Irrtum und welche Vermessenheit, Kirchen aus Glas bauen zu wollen, als ob wir nicht gerade der Abgeschiedenheit wie einer bergenden Höhle bedürften!
Das Tor aber, ebenso das prächtige Portal wie die verschwiegene Pforte, geleitet den Frommen ans dem äußeren in den inneren Raum. Wie wundervoll wissen die Pforten der alten Dome diesen Weg von außen nach innen darzustellen! Pfeiler und Leibungen, sich immer enger zusammendrängend, ziehen wie mit magischer Macht den zwischen ihnen Schreitenden zu der schmalen Pforte und zwingen ihn, abzustreifen und dahinten zu lassen, was nur dem äußeren Raum zukommt. Durch viele Tore führt der Weg chinesischer Tempel. Durch viele Tore geleitet die östliche Kirche ihre Gläubigen in das innerste Heiligtum. In der Kirche zu Coesfeld sieht innen im Raum der Kirche noch einmal ein überreich geschmücktes Tor, daß niemand vergesse, daß wirklich über eine Schwelle schreiten muß, wer den Raum der Kirche betritt. - Aber dieselbe Pforte entläßt die Gläubigen nach ihrem Gebet wieder in die Welt. Der Raum der Kirche ist nicht eine Stätte klösterlicher Abgeschiedenheit, in die sich der Überdruß an der Welt oder die Angst vor ihren finsteren Gewalten dauernd flüchten könnte. „Wie Mich Mein Vater sendet, so sende Ich euch in die Welt.” Wenn nach der Stunde der Andacht die Scharen sich zum Ausgang drängen und hinausfluten in das helle Tageslicht, in den Lärm der Straße, um zurückzukehren in ihre Wohnstuben und an die Stätten der Arbeit, ist das nicht das eindringliche Gleichnis dessen, wie der Raum der Kirche sich zu priesterlichem Dienst auftut nach dem Raum der Welt! Nur dazu scheidet die Kirche außen und innen, damit ihre Glieder geweiht und gewandelt zurückkehren können an den Dienst dieser Welt. Darum ist beides gleich notwendig, mit gleichem Ernst und gleicher Verantwortung erfüllt, daß wir den Weg von außen nach innen und daß wir den Weg von innen nach außen gehen lernen.
Der Raum der Kirche aber ist nicht das Rund, das nach allen Seiten hin sich in gleicher Weise entfaltet und alles sammelt um eine sichtbare oder unsichtbare Mitte. Der Raum der Kirche ist gegliedert und nimmt den Menschen, der ihn betritt, in eine übermächtige Bewegung auf. Den, der von außen hereintritt, empfängt die Vorhalle als Stätte der Bereitung. Hier hatte einst der Taufstein seinen Ort, weil niemand ohne Reinigung, ja ohne den letzten Ernst eines Sterbens Anteil gewinnt an den Gnadenschätzen des inneren Raumes. Nur durch die Pforte des Todes, nur durch das „Bad der neuen Geburt” führt der Weg in das Reich des Lebens. Millionenfacher gedankenloser Mißbrauch raubt doch der frommen Sitte nicht ihren Sinn, wenn der Katholik beim Eintritt in die Kirche seinen Finger taucht in die Schale mit geweihtem Wasser, um sich damit zu bekreuzigen: Zeichen der Reinigung und Zeichen des Todes zugleich. - Aber nun umfängt den Eintretenden das „Schiff” der Kirche. Es trägt seinen Namen weniger von einer Ähnlichkeit äußerer Gestalt, als von dem uralten Sinnbild, das die Kirche anschaut im Gleichnis des Schiffes. Das Schiff ist wie Noahs Arche ein Ort der Bergung mitten in den aufgeregten Wassern, und es schließt die Menschen aufs engste zusammen in der Gemeinsamkeit der Gefahr, der Hoffnung und der Rettung. Hier im „Schiff” der Kirche wird das Wort der Verkündigung laut. Hier will das Wort der Wahrheit die verfinsterten Herzen erleuchten. Hier will der heilige Geist aus den Vielen, die als Einzelne kommen, sich eine Christenheit, ein Volk Gottes sammeln und heiligen. Hier steigt auf bittend und lobpreisend der Gesang der Gemeinde. - Aber der Raum der Kirche ist selbst Bewegung auf ein Ziel hin. Im Scheitelpunkt des Baues, dort, wohin alle Linien zusammenlaufen, wohin die Reihen der Säulen und der Gewölberippen den Blick geleiten, ragt das Kreuz. Dort steht der Altar als die Stätte des Gebetes und der Opferung, als der Tisch des heiligen Mahles, in dem das Freudenmahl der himmlischen Hochzeit ihr höchstes irdisches Gleichnis findet. Der Raum der Kirche ist die Bewegung auf dies Ziel hin.
Es ist aber nicht gleichgültig, wie dieser Raum der Kirche selbst steht im Raum der Welt. Es offenbart sich ein letztes Wissen um das Geheimnis des Raumes darin, daß die Kirche „orientiert” ist, ausgerichtet nach Osten. Richtung im Raum aber gibt es nur in der Bewegung. Bewegung aber ist nicht mehr der in sich ruhende Raum, sondern sie geschieht in der Zeit. Die Ausrichtung nach dem Osten trägt das Geheimnis der Zeit in das Geheimnis des Raumes. Im Osten steigt die Sonne empor; der Blick nach Osten ist das Warten auf den kommenden Tag. Durch die Fenster des östlichen Chores brechen die Strahlen der Morgensonne in den Raum der Kirche. Dorthin blickend wartet die Gemeinde ihres Herrn, der zu ihr kommt als Richter und als Erlöser. „Hebet eure Häupter auf, darum daß sich eure Erlösung nahet.” Der Westen aber, da die Sonne untergeht, ist der Ort des Dunkels und des Todes. Dort hinein, in die Finsternis einer todverfallenen Welt entläßt der Raum der Kirche immer wieder die Gläubigen. Streng und unerbittlich, trotzig und wehrhaft ragte die Westwand des Domes empor, ehe diese Wahrhaftigkeit sich auflöste und erweichte in den sieghaften Jubel einer überreich gezierten Fassade. Dort aber, wo der Raum der Kirche sich hinwendet und öffnet nach dem Abend der Welt, steht die Gestalt des Erzengels Michael und geleitet die Gläubigen mahnend und stärkend in den Kampf, der ihnen täglich verordnet ist.
So ist der Raum der Kirche selbst Sinnbild für die zwiefache Bewegung, in der das Leben der Christenheit schwingt. Das Auge der Kirche wendet sich nach Osten, nach dem Licht, das mit den Strahlen der ewigen Hoffnung das strenge Bild des Kreuzes umflutet. Aber ihre Füße und ihre Hände wenden sich nach der Welt, in der die Sonne immer wieder versinkt in der Nacht. Von dem Ort der Gnade kommend, ist sie bereit zu streiten und zu dienen.
Das Gottesjahr 1935, S. 101-104
© Bärenreiter-Verlag Kassel (1935)
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