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von Christian Keyßer |
Vor Jahren wurde für irgend ein Missionsfeld eine Gemeindeordnung aufgestellt. Als Unterlage dienten die Ordnungen von anderen Gebieten. Ausgearbeitet wurde alles von einem Missionar und die Heimatleitung gab ihr Gutachten dazu ab. Nach etlichen Jahren zeigte sichs, daß die Ordnung in keiner Weise den tatsächlichen Verhältnissen angepaßt war, und sie wurde deshalb wieder fallen gelassen. In ähnlicher Weise hat einst auch Wilhelm Löhe in seinem „Vorschlag zur Vereinigung lutherischer Christen für ein apostolisches Leben” allerlei Ordnungen und Anweisungen in den Druck gegeben. Niemand verwundert sich darüber, daß diese Pläne und Formen auf dem Papier geblieben sind. Das wirkliche Leben hat sich nicht zu dem vorgelegten Modell gefunden. Darum sollte als unbedingter, nie zu übersehender Grundsatz gelten: E r s t L e b e n , d a n n G e s t a l t u n g ! Leben ist das Erste. Echtes Leben schafft sich dann immer seine Formen, wenigstens in den wichtigsten Umrissen. Wo man aber zuerst Modelle konstruiert, findet sich das notwendige Leben meist nicht dazu, sondern der ganze Entwurf bleibt leere Schale. Ordnung kann niemals Leben hervorbringen, sondern es nur unterstützen und es allenfalls erhalten helfen. Dazu kommt ein Zweites. Es genügt nicht, daß die Ordnung einer Gemeinde technisch einwandfrei, zweckentsprechend und wohlgemeint sei. Sie muß e i n e N o t w e n d i g k e i t b e d e u t e n . Die Ordnung darf nicht bloß eine Verbrämung sein, die schließlich auch entbehrt werden könnte, sondern sie muß einem allgemein empfundenen dringenden Bedürfnis entsprechen. Sie darf keine bloß äußere Organisation sein, sondern muß eine Lebensform darstellen und als solche auch anerkannt werden. In der Ordnung muß sich das wahre Wesen der Gemeinde, ihr Gehalt, ihr Leben und ihr Lebensziel ausprägen. Es ist verfehlt, da und dort am Rahmen ändern, bessern und verschönern zu wollen, während der Inhalt der gleiche bleibt. Solch eine Änderung ergibt nur eine gefährliche Selbsttäuschung, indem man glaubt, es sei wirklich und wesentlich etwas gebessert worden. Eine verdorbene Speise wird nicht dadurch genießbar, daß man sie in einem goldenen Gefäß aufträgt. Wichtig erscheint ferner die Tatsache, daß e c h t e s L e b e n a u s G o t t a l l e s m e n s c h l i c h e D e n k e n , a l l e T ä t i g k e i t e n u n d B e z i e h u n g e n b e e i n f l u ß t u n d u m g e s t a l t e t . Wirkliches Leben begnügt sich nicht damit, nur die Sphäre des Geistlichen zu erfassen; auch das natürliche Gebiet wird ergriffen und verändert. Gott ist ein Herr alles Lebens und sein Wille erstreckt sich auf sämtliche Zonen menschlichen Sinnens und Schaffens. Schon beim einzelnen Menschen merkt man es auf Schritt und Tritt, wenn das Leben aus Gott in seinem Herzen erwacht. Wie könnte es in einer Gemeinde anders sein? Es wird ein neuer Geist einziehen. Das Verhältnis der einzelnen Glieder zu einander wird sich ändern und von Gott her sein inneres Gesetz empfangen. Es wird alles neu werden. Die Ordnung meiner Gemeinde auf dem Missionsfelde ist ganz aus dem praktischen Leben und seinen Bedürfnissen erwachsen. Sie wurde nicht theoretisch zusammengestellt, damit dann darnach gehandelt oder regiert werde, sondern die einzelnen Paragraphen sind nach und nach aus den Nötigungen der Verhältnisse entstanden. Darum tragen die mancherlei Punkte auch ganz und gar den Stempel der Lebenswirklichkeit. Von irgend einer theologischen Formulierung ist nichts darin zu finden. Es bestand keinerlei Zweifel darüber, daß Gottes Wort unangetastet bleiben muß. Vor allem aber wollten sich die Leute nach Gott richten; ein anderes Ziel kannten sie nicht. So brachte denn ihre Gemeindeordnung u. a. folgende Hauptpunkte: Die Weiler und Einöden sind aufzuheben; alle Leute müssen in das Hauptdorf ziehen, wo die Schule steht und die Kinder Unterricht erhalten können. Für alle Kinder gilt der Schulzwang. Die Wege sind in ordentlichem Stand zu halten. Der Hausbau gilt auch weiterhin als eine gemeinsame Arbeit der Dorfbewohner, aber ohne das früher in der heidnischen Zeit übliche große Essen. An den drei ersten Wochentagen sollen gemeinsam die allgemeinen Dorfarbeiten erledigt werden; an den drei übrigen Tagen kann jeder tun, was ihm als notwendig erscheint, nur soll er auch wirklich arbeiten, nicht der Faulheit pflegen. Die alten Wertstücke aus der heidnischen Zeit sollen innerhalb des christlichen Stammes bei Handelsgeschäften nicht mehr gebraucht werden, denn sie geben Anlaß zu Neid und Streit. Mädchen, die zur Ehe begehrt werden, soll man wegen der üblen Folgen dieser Sitte nicht mehr kaufen. (Junge arme Burschen konnten nur den Preis für ältere Witwen aufbringen.) Frauen dürfen hinfort nicht mehr geschlagen werden; im Falle der Klage soll der Mann Anzeige bei der Aufseherversammlung erstatten. Zu bemerken ist, daß alle Beschlüsse einstimmig gefaßt wurden, d. h. die einzelnen fügten sich der Allgemeinheit. Selbstverständlich galt diese Regel nur für normale Verhältnisse, nicht für Fälle allgemeiner Torheit oder Korruption. Auch die Leitung der Gemeinde entstand aus den Erfordernissen des Lebens. Sie setzte sich zusammen aus der Gemeindeversammlung, dem Führerrat und dem Obersongang als dem obersten Führer. Das Ganze war eine Verbindung von Gemeindeverantwortung und verantwortlicher Führerschaft. Das Gottesjahr 1935, S. 94-97 © Bärenreiter-Verlag Kassel (1935) |
© Joachim Januschek Letzte Änderung: 16-02-10 |