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Die Gemeinschaft der Heiligen
von Hans Ording

LeerIm dritten Artikel unsres Glaubensbekenntnisses bekennen wir den Glauben an  d i e  G e m e i n s c h a f t  d e r  H e i l i g e n . Es ist aber eine Frage, ob dieses Bekenntnis den rechten Sinn für uns hat. Ohne Zweifel war lange Zeit in unsrer christlichen Kirche der Individualismus stärker als die Gemeinschaft. Die Überzeugung ist stark in uns gewesen, daß das Christentum wesentlich eine Angelegenheit zwischen dem Einzelnen und Gott ist, und daß der Einzelne ein gutes Recht hat, die anderen Menschen von seinem innersten religiösen Leben fernzuhalten. Wir kennen sehr gut den Ausdruck: Religion ist Privatsache! Und diese Formel, die aus dem profanen politischen Leben herstammt, ist auch unter uns Christen eingedrungen.

LeerEs ist aber in den letzten Jahren in vielen Menschen nicht weniger als eine „Bekehrung” vor sich gegangen, nämlich eine Bekehrung vom Individualismus zur Gemeinschaft. Wir haben wieder entdeckt, daß es eine christliche Gemeinschaft gibt, und zwar in der Kirche selbst. Wir haben den Segen dieser Gemeinschaft erfahren, haben verstanden, daß vieles im Christentum überhaupt nicht verstanden oder erlebt werden kann ohne eben in der Gemeinschaft.

LeerUnd doch besteht die Gefahr, daß die christliche Gemeinschaft sich nicht in ihren richtigen Konsequenzen auswirkt. Man kann nämlich auch in der Kirche eine Gemeinschaft pflegen, die in der Tat nicht persönlich ist, sondern eine Art Interessengemeinschaft, die eine wirklich persönliche Gemeinschaft nur nachahmt.

LeerDie kirchliche Gemeinschaft wird hauptsächlich erlebt im gottesdienstlichen Kultus, und ganz besonders im heiligen Abendmahl. Denn hier ist die gemeinsame Vereinigung mit Christus und untereinander am allerschönsten verwirklicht. Am Altar bitten wir in unsrer norwegischen Liturgie, daß die Liebe zu Christus und unter einander b r e n n e n d  sein möge. Viele Menschen sind auch in unsrer Zeit durch Teilnahme am heiligen Mahl in die Gemeinschaft hineingetreten und haben dort eine geistige Vereinigung erlebt. Man wird ja im allgemeinen sagen können: je näher die einzelnen Christen an Christus herankommen, um so näher kommen sie zu einander.

LeerJa, wenn das nur wirklich geschieht! Denn die Möglichkeit ist immer vorhanden, daß die kultische Gemeinschaft doch wieder unpersönlich wird und mit der gemeinsamen Feier leider aufhört, sobald das alltägliche Leben beginnt. Daher müssen wir uns darauf besinnen, daß die Gemeinschaft der Heiligen eine dauernde Gemeinschaft der S ü n d e r  ist, nicht bloß eine Gemeinschaft an heiliger Stätte, sondern eine Gemeinschaft von dem heiligen Erlebnis aus. Sie ist ja nicht in der Heiligkeit der Menschen begründet, sondern im Wirken des heiligen Geistes in sündigen Menschen. Und wer in diese Gemeinschaft wirklich eintritt, muß wissen, daß er eben mit Sündern in Gemeinschaft kommt. Wer solche Gemeinschaft will, der muß auch willig sein die Lasten der sündigen Mitmenschen zu tragen. Da gibt es nicht länger eine vornehme oder kalte Zurückhaltung, sondern ein Eingehen in die persönliche Not der anderen.

LeerDie größte Not ist die Sündennot. Deswegen ist das grundlegende gemeinsame Erlebnis die Heiligung der Sünder durch die vergebende Gnade. Daher muß in der Gemeinschaft die Sündenvergebung unter den Christenbrüdern lebendig werden. Denn die christliche Liebe verwirklicht sich am tiefsten und grundlegend als vergebende Liebe, sofern diese Vergebung nicht eine oberflächliche ist, sondern die ganz ernste, welche die Sündennot der Brüder verstehen und mittragen will. Diese vergebende Liebe ist so grundlegend, weil sie im höchsten Grade auf den Vergeber selbst zurückwirkt. Wir lernen uns selbst als Sünder kennen, wenn wir die Beichte der Brüder hören. Wir werden uns des eignen Drangs nach Vergebung für uns selbst bewußt.

LeerAber diese Gemeinschaft der Sünder ist zugleich eine Gemeinschaft der Heiligen, denn die Heiligkeit des Geistes wirkt sich in dieser aus. Und es wird ein gemeinsames Erlebnis der Wiedergeburt durch Gottes Gnade. Diese Wiedergeburt macht sich im alltäglichen Verkehr bemerkbar. Es entsteht eine Bruderschaft der geheiligten Sünder, welche in dem schwachen Bruder Christus sehen lernt.

LeerSo entsteht die lebendige Kirche als Gemeinschaft der Heiligen, und der Gehorsam gegen den heiligen Geist bildet die feste und schöne Ordnung der Kirche, wo der schöne Kultus als freie und doch bindende Form anerkannt wird - frei, weil der Einzelne darin den lebendigen Ausdruck seiner Anbetung findet, und gebunden, weil der Geist Christi alle in Liebe und Gehorsam verpflichtet.

Das Gottesjahr 1935, S. 87-89
© Bärenreiter-Verlag Kassel (1935)

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 16-02-10
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