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von Friedrich Heiler |
Unter den zahlreichen Giotto'schen Fresken der Oberkirche San Francesco in Assisi, welche das Leben des Poverello darstellen, springt eines durch seinen inneren Kontrast besonders in die Augen: Im Lateranpalast schläft auf kostbarem Ruhebett Papst Innozenz III., bekleidet mit allen seinen Insignien, die Tiara auf dem Haupte - ihm gegenüber die Laterankathedrale in schiefer Stellung, vom Zusammenbruch bedroht, das wankende Gemäuer aber gestützt durch die Schultern eines Bettelmönches im härenen Gewand. Im Traumgesicht schaute der Papst den umbrischen Armen als die Stütze, welche die römische Kirche vor der Katastrophe bewahrte. Als dann Franziskus vor ihm stand, um die Bestätigung seiner Regel zu erbitten, erinnerte sich der Papst jenes halb vergessenen Traumbildes und sprach: „Wahrlich, dieser Mönch steht nun da, der mit seinem Leben und seiner Lehre die Kirche stützen wird.” Ein seltsamer Kontrast: der höchste kirchliche Amtsträger, „Petri Nachfolger” und „Christi Stellvertreter” schlafend, seine Kirche im Einsturz begriffen - ein unbekannter Geistträger, ein verächtlicher Bettelmönch als Retter und Erneuerer der Kirche, aber nun nicht im feindlichen Gegensatz zum höchsten Lehrer und Hirten, sondern - wie ein anderes Giotto-Bild zeigt - in demütiger Unterordnung unter die gottgesetzte Autorität des Papstes. So wandelt sich diese scharfe Antithese in eine Synthese, der Kontrast in eine Kontrastharmonie. Diese Kontrastharmonie von Geist und Amt ist eines der Lebensgesetze der Kirche Christi. Nur in der Polarität und Balance der ehernen kirchlichen Rechtsinstitution und des freien Waltens des Geistes liegt die Lebenskraft und Gesundheit dieses gottmenschlichen Organismus beschlossen. Kann man sich größere Gegensätze denken als den Träger der rechtlichen Kirchenordnung, den Hüter der historischen Kirchentradition, den „Hierarchen” d. h. „heiligen Herrscher”, und den vom Geist ergriffenen, von Gottes Heiligkeit durchleuchteten, von der Kraft des Allerhöchsten erfüllten Charismatiker? Der eine berufen nach einer feststehenden Rechtsordnung, bevollmächtigt in einem kanonischen Weiheakt - der andere erwählt, berufen und bezeugt durch die frei wirkende Kraft des Geistes, der „weht, wo er will”, der nicht fragt nach dem „Ansehen der Person” - und doch beide getragen von der Autorität des ewigen Gottes selber, (Stellvertreter des lebendigen Christus, Nachfolger der von ihm erwählten Apostel. Sind somit beide - Amtsträger und Geistträger - Gottes Bevollmächtigte und Stellvertreter, so ist das Rangverhältnis zwischen ihnen ein doppeltes: In der Rangordnung der geistigen Werte steht der Geistträger über dem Amtsträger weil er unmittelbar und persönlich vom Gottesgeist ergriffen und begnadet und seine Vollmacht durch offenkundige Geisteserweise feierlich bezeugt ist, während der Amtsträger sich nur auf seine überpersönliche, rechtliche und sakramentale Ausrüstung berufen kann. In der rechtlichen Rangordnung hingegen ist das Verhältnis genau umgekehrt: Der Geistträger ist der Leitung und Kontrolle des Amtsträgers unterworfen, er schuldet ihm Ehrfurcht und Gehorsam, ohne seine Gutheißung ist ihm keine kirchliche Wirksamkeit erlaubt. Obgleich Paulus unmittelbar durch den erhöhten Christus zum Heidenapostolat berufen ist, zieht er nach Jerusalem hinauf zu den Uraposteln, die vom Herrn während seines Erdenwandels ausgesondert waren, und empfängt von den drei „Säulenaposteln”, insbesondere von ihrem Ersten, Kephas, die Bestätigung seiner Missionsarbeit, ohne welche sein ganzes Werk hinfällig würde. Die Kontrastharmonie zwischen Geist und Amt war in der Geschichte der christlichen Kirche meist eine unvollkommene; oft genug war das Gleichgewicht zwischen dem inneren Charisma und der äußeren Rechtsinstitution gestört. Schon Paulus war genötigt, den überschäumenden charismatischen Enthusiasmus der korinthischen Gemeinde einzudämmen (1. Kor. 14). Doch erlangte dieser Enthusiasmus niemals wieder im Leben der Kirche einen so weiten Spielraum wie in der Urzeit. Die Geistträger, die Propheten, hatten in der ältesten Christenheit nicht nur das Recht zur Ablegung des evangelischen Zeugnisses in der Gemeinde, sondern auch zur Leitung der Eucharistiefeier, und zwar, nach dem Ausweis der Didache, vor den Bischöfen und Priestern; sie galten als die „Hohenpriester” der Gemeinden (10, 7; 13, 3; 15, 1 f.). Nur wenn sie fehlten, traten die Bischöfe und Priester an ihre Stelle. Letztere wurden überhaupt von den Propheten ausgesondert und bestimmt; nur wer durch ein Geistzeugnis, eine „Prophetie” zu einem kirchlichen Amt berufen worden war, wurde zum Empfang der sakramentalen Handauflegung zugelassen (Ap. G. 13, 2; 1. Tim. 4,14). In der urchristlichen „Hierarchie” stehen die Propheten unmittelbar hinter den Aposteln, vor den Hirten und Lehrern (Eph. 4, 11; 1. Kor. 12, 28). Dennoch wäre es verfehlt, zu glauben, daß der charismatische Enthusiasmus das eigentliche Prinzip des urchristlichen Gemeindelebens sei. Einmal standen die Propheten unter der Oberaufsicht der Apostel; dann aber hatten die Gemeinden mit ihren Amtsträgern, den „Aufsehern” und „Ältesten” das Recht der Kontrolle; die Frage, wer ein wahrer oder falscher Prophet sei, hatte allein die Kirche zu entscheiden. Insofern unterstanden auch die urchristlichen Propheten durchaus der Disziplin der rechtlich organisierten Kirche und ihrer Autoritätsträger. Mit dem Aufhören der Christenverfolgungen traten an die Stelle der Märtyrer die Mönche als unblutige Märtyrer und geistige Confessoren. Zwar erlangten sie durch ihren asketischen Wandel und ihr seelsorgerliches Charisma nicht die vollen Rechte des Priestertums, sondern nur die Befugnis der Verwaltung des Bußsakramentes. Nicht die Priesterweihe, sondern der Geistbesitz, die persönliche Heiligkeit galt als Voraussetzung für die sakramentale Binde- und Lösegewalt. Auch Laienmönche, welche nicht die Priesterweihe empfangen hatten, waren jahrhundertelang die Beichtseelsorger der östlichen Kirche; im russischen Starzentum haben sich Reste dieser enthusiastischen Bußgewalt bis in die jüngste Zeit erhalten. Bis zum heutigen Tage wird in der östlichen Kirche auch Laien, die das Charisma der Verkündigung haben, die Predigt im Gottesdienst gestattet; in der jüngsten Zeit scheint diese frühchristliche Sitte sogar breiteren Umfang erlangt zu haben. Während die östliche Kirche kraft ihrer Traditionstreue in ihrem gottesdienstlichen und sakramentalen Leben immer etwas vom urchristlichen Enthusiasmus bewahrt hat, ist dieser in der abendländischen Kirche infolge der Verrechtlichung des ganzen kirchlichen Lebens viel stärker eingeengt worden. Zwar lebt der Laienenthusiasmus auch im Abendlande immer von neuem auf, - man denke an die urfranziskanische Bewegung, ferner an die prophetische Funktion heiliger Frauen wie Hildegard, Birgitta und Katharina von Siena. Aber immer ist in der römischen Kirche sowohl die Predigt innerhalb des Gottesdienstes wie die Verwaltung des Bußsakramentes - Notfälle waren im frühen Mittelalter noch ausgenommen - dem ordinierten Amtsträger vorbehalten worden. Jener Canon des Codex iuris, der ausnahmslos allen Laien, selbst den Mönchen, die Predigt in der Kirche verbietet, besiegelt die Entwicklung in der abendländischen Kirche, die auf die restlose Verbannung des urchristlichen Enthusiasmus hinausläuft: nur der Amtsträger, nicht der Geistträger hat im kirchlichen Leben Befugnisse. Aber trotzdem äußerlich der urchristliche Enthusiasmus erloschen erscheint, glimmt er doch unter der starren Decke des Kirchenrechtes weiter. Der Primat des Geistträgers vor dem Amtsträger ist der römisch-katholischen Christenheit in der Form des Heiligkeitsideals bewußt geblieben. Der Heilige als Geistträger, als „Christi Stellvertreter” im buchstäblichen Sinne steht in der Rangordnung der geistlichen Werte hoch über Papst, Bischöfen und Priestern, er ist das Herz des kirchlichen Qrganismus. Wenn in der heutigen römischen Kirche zwei Laienfromme, der Kapuzinerpförtner Konrad von Parzham und die Karmeliternonne Theresia vom Kinde Jesu eine Verehrung empfangen, welche dem Protestanten übertrieben erscheint, so bricht darin im römisch-katholischen Volk spontan das Bewußtsein durch, daß der Geistträger mehr ist als der Amtsträger, daß die Kirche in ihrem Wesen nicht eine hierarchische Rechtsinstitution ist, sondern eine „Gemeinde der Heiligen”. Als 1922 der indische Sadhu Sundar Singh, ein geisterfüllter Evangelist und apostolischer Zeuge, in Upsala weilte, überließ Erzbischof Söderblom ihm nicht nur die Kanzel des Domes, sondern er selber begleitete ihn auf die Kanzel, um ihm als Dolmetsch zu dienen. Der in der apostolischen Sukzession stehende Erzbischof, der wahrlich selbst einer der größten Geistträger in der Schar der christlichen Bischöfe war, überließ dem schlichten Christuszeugen aus dem fernen Osten, der keine andere Weihe hatte als die des Geistes, seinen Platz und stellte sich in seinen Dienst. Der Primat des Geistes vor dem Amt kommt in diesem lebendigen Doppelbild aus der jüngsten Zeit nicht minder eindringlich zum Ausdruck als in dem Giotto'schen Doppelbild aus der Franziskuslegende. Das Charisma des Geistes und die Vollmacht des Amtes sind in ihrer Polarität wesentlich für den Aufbau der Kirche; aber für beide gilt letztlich nur ein Gesetz: das des demütigen Dienstes nach dem Beispiel dessen, der in einer Person Prophet und Lehrer, Priester und Hirte war: „Wer da will groß werden unter euch, der soll euer Diener sein, und wer unter euch will der vornehmste werden, der soll aller Knecht sein. Denn auch des Menschen Sohn ist nicht gekommen, daß er sich dienen lasse, sondern daß er diene . . .” (Mk. 10, 45). Das Gottesjahr 1935, S. 82-87 © Bärenreiter-Verlag Kassel (1935) |
© Joachim Januschek Letzte Änderung: 16-02-10 |