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Liturgie und Diakonie
von Wilhelm Stählin

LeerDie beiden Begriffe, die die Überschrift nebeneinander rückt, bezeichnen in unsrem Sprachgebrauch zwei sehr verschiedenartige Erscheinungsformen der Kirche: hier die feierliche „Liturgie”, die in ehrwürdigen alten Formen und Formeln die Stimme der betenden Kirche ist, den heutigen Menschen oft erschütternd fern und fremd; hier die „Diakonie”, die praktische Liebesarbeit der Kirche an den Armen, Kranken, Elenden und Alten, der „Dienst mit der blauen Schürze”, sehr unfeierlich und sehr praktisch und eben darum auch von solchen geachtet und bewundert, die sonst keinen Zugang zum Leben der Kirche haben. Im Neuen Testament aber sind leitourgia und diakonia ein unzertrennliches Geschwisterpaar, aus einer und derselben Lebenswurzel entsprossen. Leitourgia, ursprünglich überhaupt und ganz allgemein ein im öffentlichen Leben übernommenes Amt, wird in der Sprache der Bibel zum feststehenden Ausdruck für den um Gottes Willen geleisteten Dienst, einerlei ob es sich um „Gottes-Dienst” im engeren Sinn (z.B. Luk. 1,23) oder um die Dienste handelt, die Menschen einander leisten (z.B. Phil. 2,30).

LeerIn dem deutschen Wort „Gottesdienst”, so wie Luther von Berufswerk und Liebesarbeit als rechtem Gottesdienst redet, klingt noch diese ganz umfassende Bedeutung des griechischen Wortes „Liturgie” nach. Diakonia ist all jene Handreichung und Hilfeleistung, in der einer des andern diakonos, einer des anderen dienstwilliger Knecht um Christi willen wird. Beides aber, Liturgie und Diakonie sind in diesem Sinn nicht zwei voneinander unterschiedene Sonderfunktionen der christlichen Kirche, Sonderaufgaben ganz verschiedener Organe, des „Liturgen” und des „Diakonen”, sondern vielmehr zwei Seiten einer und derselben Sache, beides notwendige, unentbehrliche und unauflöslich miteinander verbundene Lebensfunktionen des Leibes Christi.

LeerDie „Liturgie” ist (in jener Verengung des Wortes, die sich im Lauf der Jahrhunderte durchgesetzt hat) das Opfer des Gebets und des Bekenntnisses, in dem sich die Kirche immer wieder ihrem Herrn hingibt, gleichsam der Leib seinen Lebenszusammenhang mit dem himmlischen Haupte immer wieder erneut; die Diakonie aber leitet den Lebensstrom göttlicher Liebe zu allen einzelnen Gliedern, zu denen vor allem, die in ihrer Armut und in ihren Schmerzen dessen am meisten bedürftig sind. Das Blut strömt zurück zum Herzen, um sich von dort wieder hinaustreiben zu lassen in alle Gliedmaßen. In der alten Kirche wurden bei der Feier des Herrenmahles die Gaben, wirkliche Speisen, auf dem Altar geopfert, und es wurde hernach, was bei dem heiligen Mahl nicht verzehrt war, zu den Armen der Gemeinde getragen. So eng sind Liturgie und Diakonie miteinander verbunden.

LeerDie Diakonie, oder sagen wir es schlichter und deutlicher: die tätige und dienstwillige Liebe ist die notwendige Lebensform der Kirche. Wie anders könnte die in Christus erschienene Gottesliebe glaubwürdig bezeugt werden, als durch die Tat der Liebe, die um Gottes Willen dem Bruder erwiesen wird? Man lese das 4. Kapitel des 1. Johannesbriefes, um zu begreifen, wie ernst es dem Urchristentum mit diesem Zusammenhang ist: Nicht anders können wir „bekennen” daß Christus gekommen ist in das Fleisch, als daß wir dem Nächsten in Liebe dienen. Ohne solche echte Diakonie ist aller „Glaube” und alle Verkündigung unglaubwürdig und widersinnig. Ein Altar, von dem nicht Ströme der Liebe ausgehen in die Wüsten menschlichen Elends, ist kein christlicher Altar.

LeerDiakonie hat ihr Urbild in der Liebe, mit der Gott uns geliebt hat. Sie ist darum nicht die Freude an dem schönen und liebenswerten Menschenbild. Der Eros, der sich liebend und begehrend der „Schönheit” des anderen Menschen zuwendet, ist eine große und notwendige Kraft unsres menschlichen Gemeinschaftslebens; aber die „christliche” Liebe bewährt sich da, wo der Eros sich enttäuscht wegwendet von der gar nicht liebenswerten Gestalt menschlichen Jammers. Sie überwindet den Widerwillen, ja Ekel, der uns über menschlicher Niedrigkeit, Armseligkeit, Lüge und Bosheit immer wieder befallen will; und sie überwindet ebenso die Tyrannei, mit der wir den Nächsten in den Dienst unsrer eigenen Lebenswünsche und -pläne zwingen.

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LeerAber es wäre falsch, die Diakonie der Kirche auf diese Leidensgestalt der Brüder zu beschränken. Der Apostel Paulus beginnt seine Briefe wieder und wieder: Ich danke meinem Gott, so oft ich euer gedenke. Was dem Bruder an Freude und Hilfe, an Tröstung und Kraft geschenkt ist, wird zur Freude für alle: So ein Glied wird herrlich gehalten, so freuen sich alle Glieder mit. Sich mitzufreuen und mitzudanken ist eine ganz unentbehrliche Form christlicher Liebe. Das Dankgebet der Kirche für jede Erfahrung der göttlichen Gnade, für jede Hilfe im Kampf, für jeden Trost an Gräbern, für jede Wandlung und Heiligung eines Lebens ist Liturgie und Diakonie zugleich. Nicht minder freilich ist die Fürbitte, in der alle Not der Brüder, alle Sorgen der Kirche, das Leid und Seufzen aller Bedrängten und Gequälten zum Herzen Gottes emporgetragen werden, echte Form christlicher Gemeinschaft. Von diesem Gebet aus empfängt die ganze praktische Arbeit der dienenden Liebe ihren Antrieb und ihre Kraft. Wehe der Diakonie, der „Inneren Mission”, wenn sie nicht mehr von der Liturgie her getrieben ist!

LeerAber laßt uns nicht vergessen, daß die Gemeinde eine Gemeinde sündiger Menschen ist! Der Eros, die natürliche Freude an den Menschen, erlahmt in der sehr konkreten Erfahrung ihrer Verkehrtheit und Bosheit; an der erschütternden Wirklichkeit dämonischer Mächte, von denen Menschen besessen sind und verwüstet werden. Die Fehler der Brüder zu ertragen und die fehlsamen Brüder zu tragen, ist tägliche Aufgabe und tägliche Erprobung unsrer christlichen Liebe. Die 5. Bitte ist einer der Schnittpunkte, wo Gebet und Liebe aufeinander treffen. Und vollends das tröstende und helfende Wort der Gnade, das im Raum der Kirche ein Mensch dem anderen sagen darf, ist liturgische Diakonie (2. Kor. 9, 12!) im innersten Sinn.

LeerNoch an die Gräber tritt die Kirche und hat keine Macht als ihr demütiges Gebet: „Laß sie ruhen in Frieden, und das ewige Licht leuchte ihnen!” Hier greift Liturgie und Diakonie der Kirche hinaus über den engen Raum dieser Welt und begleitet ihre verstorbenen Glieder auf dem Wege, auf dem keine Tat und kein sichtbarer Dienst sie mehr helfend geleiten kann.

LeerDie dienende Liebe ist die einzige Kraft, die der Kirche verheißen und gegeben ist. Sie allein kann sprechen: „Ich vermag alles durch den, der mich mächtig macht, Christus.” Jeder Versuch, „es” nicht mit der Kraft der Wahrheit und der Liebe, sondern mit List und Lüge, mit Betrieb oder Gewalt zu machen, ist Abfall von Christus, einerlei ob solcher Versuch im Bereich des persönlichen Lebens oder im großen und schrecklichen Raum der Kirchenpolitik gemacht wird. Die aus der Kraft des Gebetes gespeiste Liebe allein öffnet die verschlossenen Pforten; sie allein bricht den Stolz und die Härte der Herzen und wandelt den bösen Willen. Wir können nicht oft genug erinnert werden an diese ewige Wahrheit, die zu vergessen wir nur allzu sehr versucht sind.

LeerWenn es besondere „Liturgen”, besondere „Diakonen” in der christlichen Kirche gibt, so nicht um Gebet und Liebesdienst stellvertretend für uns zu vollbringen, sondern vielmehr um uns durch ihr Dasein an den Doppelberuf zu mahnen, der eigentliche Inhalt unsres christlichen Lebens und die eigentliche Lebensform christlicher Gemeinschaft ist: die Einheit von Gottes-Dienst und Bruderliebe, die Einheit von Liturgie und Diakonie.

Das Gottesjahr 1935, S. 71-74
© Bärenreiter-Verlag zu Kassel

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-10-15
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