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Singende Kirche
von Ernst Schieber

LeerDer Chor singender Knaben, das Relief von Donatello an der Domkanzel in Florenz, hat mirs gleich beim ersten Anblick angetan. Erst scheinbar geistig unbedeutend, offenbaren diese Knaben ein solches Maß von Hingabe, daß es uns nicht mehr losläßt: Menschen, die nichts scheinen und von sich aus nichts sein wollen, die aber ganz erfüllt und ergriffen von der Kirche Werkzeuge ihres Geistes geworden sind. Ich nehme an, es sind, wie überall auf der Welt, manche Schlingel unter ihnen, wie unter den Läuterbuben meines heimatlichen Dorfes, mit denen ich mich als kleiner Junge schon herumgeschlagen habe - als Hüter der Läuteordnung des erhabensten Geläutes auf dem höchsten Kirchturm der Welt, war das in den Mannesjahren aufs neue meine Aufgabe und symbolhaftes Schicksal - .

LeerWenn der letzte Glockenton über jenem stillen Dorf verklungen war, kamen die Buben unter den heiligen Klängen einer ungefügen alten Orgel ehrbar hereingeschritten und waren in diesem Augenblick einfach ein Stück Kirche geworden. Beim Singen standen die Männer und die Kinder auf, die Frauen blieben sitzen. Kinder und Leute, Unverständige und Weise, Sünder und Gerechte, Fröhliche und Weinende, Befreundete und uneins Gewordene wurden unter der Gewalt des gemeinsamen Lieds zur Gemeinde. Ihr Ausdruck aber, wenn sie wirklich Gemeinde sein soll, muß der der Donatello-Knaben sein: vollkommene Hingabe, Werkzeug!

Leer„Aus dem Munde der Kinder hast du eine Macht zugerichtet um deiner Feinde willen”. Wie eben Kinder sind, mit allen Mängeln und Vorzügen behaftet: ihr Geläute, ihr Orgeln, ihr Chorgesang, ihre kunstreichen Motetten, ihre schlichten Choralsätze, ihre Bachkantaten, ihre Gemeindelieder sind dennoch die Macht, die Gott zugerichtet hat, die Form, in der er Kampf und Sieg verordnet hat. Als die Reformation begann, im Kampf die Gemeinde aufzurichten, ward der Choral der Gemeinde die Macht Gottes gegen seine Feinde. Das Lutherlied: „Mitten wir im Leben sind mit dem Tod umfangen”, - „ein Lobgesang von dem Tode” bedeutete das Aufnehmen des Kampfes mit dem Tode, „der uns so jämmerlich dahinfrisset”. Mit dem Lied: „Es ist das Heil uns kommen her” haben sie in dem württembergischen Städtchen Waiblingen vor genau 400 Jahren die widerspenstigen Pfaffen aus der Kirche hinausgesungen.

LeerDie Hoch-Zeit des reformatorischen Choralsatzes um 1600 war äußerlich nichts weniger als glanzvoll und fromm und brüderlich. Aber über jenen Klängen ruht der warme goldene Glanz des Friedens mit Gott. Der gnädige himmlische Vater hat sich während und nach der Zerrissenheit des 30jährigen Krieges, aus dem Sumpf und Spott des Zeitalters heraus, durch seine singenden Kinder Gerhardt, Krüger, Ebeling und wie sie heißen mögen, wieder eine Kirche gesammelt und hat sie dem Tode abgerungen. Er war am Werk in menschlich unvollkommenen Werkzeugen, der Benedikt Ducis, der Haßler und Bach. In ihrem Schaffen ist seine Gnade wirksam. Er hat eine Macht zugerichtet.

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LeerEr ist wieder am Werk. Wir wollen auch nicht vergessen, daß der Kampf ums dritte Reich ein singender Kampf gewesen ist und sein wird.

LeerEs ist merkwürdig, daß man beim „neuen Singen” mit körperlichen Übungen, Morgengymnastik und dergleichen den Tag beginnt. Es ist geworden aus den Kreisen der Jugend, die sich wieder den natürlichen Lebensordnungen, dem Sinn des Leibhaften in allen Lebensgebieten erschließen wollte. Von selbst kam es dazu, daß man dabei Gottes Ordnungen wieder erkannte und ernstnahm: die Tageszeiten, den Jahreslauf, die Ehe und den Beruf. Wer Gottes Ordnungen ernstnimmt und seinen Gedanken nachdenkt, den führt er von selbst immer tiefer, in seine heiligen Werke hinein, den führt er in die Kirche. Da tun sich erst recht seine großen Ordnungen auf.

LeerSo ist der „Erfolg” und das sichtbare Ergebnis des „neuen Singens” da, wo man das Credo, Te Deum, Sanktus, von einer erfüllten und ergriffenen Jugend in deutschen Tönen und Worten, in der Gemeinschaft deutscher Art und Zucht angestimmt und von der gesamten Gemeinde weitergetragen, wieder als eine lebendige Macht Gottes im Gottesdienst wirksam hat. Wir können darauf horchen bei allem Volk, das zur Kirche drängt und sich nach ihr sehnt, bei den deutschen Bauern in Polen, bei den deutschen Arbeitern im Saarland, bei neuerwachten Bauern- und Industriegemeinden irgendwo im Vaterland: so nimmt Gott den Kampf auf gegen seine Feinde: die Verzagtheit, den Kleinglauben, den Schmutz, die Gleichgültigkeit, die Sattheit, die Zerrissenheit.

LeerEs ist schon zuviel gesagt. Die Ordnung der singenden Jugend und der singenden Kirche ist, daß man das Viel-reden und die großen Worte meidet und flieht. Über unser Thema kann man also bloß ein Wort und einen Gedanken immer fort neu schreiben, sagen, ausführen: ihr müßt singen! Ihr müßt es selbst versuchen, die Gemeinde zum Singen zu bringen. In welcher Weise man das machen kann, davon ist viel geschrieben worden. Wer will, findet überall Anleitung. Wichtig ist, daß man es tut. Vieles folgt daraus von selbst, wie uns tausend Erfahrungen lehren.

LeerWem die besten Lieder unserer Gesangbücher in Wort und Ton nicht „gefallen”, fremd klingen, der muß fragen, wo bei dem Abstand zwischen dem Zustand der Lieder und dem Zustand der Singenden die „Schuld” liegt. Heil denen, welche dieser Abstand schmerzt, welchen er zur inneren Not geworden ist!

LeerGott hat sich eine Macht zugerichtet und wird um seine Kirche kämpfen, ob wir mitgehen oder nicht. Er hat uns in unseren Liedern einen Reichtum anvertraut, der ohne gleichen ist. Das Leben ist zu kurz, ihn bloß richtig kennen zu lernen. Aber auch das unvollkommene Streben im Kreis der Kinder, des Chores, der ganzen Gemeinde, der Instrumente, in Glockentönen und Kinderlallen will er segnen.

Leer„Herr, wir glauben, hilf unserem Unglauben.”

Das Gottesjahr 1935, S. 64-66
© Bärenreiter-Verlag Kassel (1935)

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 13-05-07
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