|
von Rudolf Spieker |
Die Kirche Christi auf Erden ist sichtbare und unsichtbare Kirche zugleich. Wer dies Ineinander von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit glaubt auflösen und sich entweder für die sichtbare oder für die unsichtbare Kirche entscheiden zu können, der verläßt beide Male eigenmächtig den Raum der Kirche und gelangt in den Bereich menschlicher Träume oder irdischer Mächtigkeiten. Die Kirche ist sichtbare Kirche: sie hat zu aller Zeit sichtbare „Zeichen”, an denen sie erkannt werden kann, nicht von Menschen willkürlich aufgerichtet, sondern ihr von Christus hinterlassen. Solcher Zeichen nennt Luther gelegentlich sieben: Gottes Wort, weil es auch ein mündliches Wort ist und öffentlich vor der Welt bekannt wird; die Taufe, zu welcher das Wasser gehört, damit der Mensch mit seinem Leibe darin eingetaucht werde; das Sakrament des Altars, bei dem Menschen gespeist und getränkt werden auch mit irdischer Speise und mit irdischem Trank; die Schlüssel, nämlich die Vollmacht der Kirche, den Sünder loszusprechen oder ihm die Sünde zu behalten, beides durch das wirklich im irdischen Raum gesprochene Wort, bei der Beichte des Einzelnen und der Gemeinde; die Ämter, denn die eben genannten vier Stücke müssen durch Menschen im Namen der Kirche dargereicht und geübt werden; das Gebet der Kirche, sofern es öffentlich geschieht mit Psalmen und Lobgesängen und anzeigt, daß sich da ein christliches Volk Gottes versammelt; das Kreuz der Kirche, nämlich das echte und wirkliche, welches in Verfolgung, Anfechtung und Leiden besteht. - Und doch liegt das, was diese sieben Zeichen bezeichnen, immer jenseits des irdischen Raumes und des menschlichen Zugriffs, es liegt allein im Bereich der göttlichen Gnade: schon daraus wird deutlich, daß immer zugleich ein wesentliches Stück der Kirche unsichtbar bleiben muß. Die Kirche ist unsichtbare Kirche: eine für menschliche Augen nicht sichtbare Grenzlinie scheidet den Raum der Kirche von dem Raum der „Welt”, ja diese Grenzlinie läuft mitten durch uns alle hindurch, sofern in uns auch Unglaube und Bosheit zu Haufe sind; diese widersetzen sich dem Wirksamwerden der eben genannten sieben Gnaden der Kirche. Die echte Kirche reicht also so weit, wie die Wirkung des heiligen Geistes reicht, denn sie ist in Wahrheit „ein recht Volk Gottes, welches im Herzen erleuchtet wird und neu geboren durch den heiligen Geist”. Solches Wirken des Heiligen Geistes ist irdischen Blicken entzogen. Ein Mörder, welcher den Ruf der Gnade hört, befindet sich im Raum der Kirche; ein Priester, welcher Gott mit den Lippen naht und dessen Herz fern von Ihm ist, befindet sich trotz priesterlicher Gewandung außerhalb. Die wahre Kirche ist immer in der Welt verborgen wie der Same im Acker und wartet auf ihr Offenbarwerden in der Ewigkeit. Der sichtbaren Kirche haften notwendig irdische Mängel an. Denn sie ist auf Menschen gegründet und wird durch menschliche Diener erhalten. In ihr werden menschliche, d.h. keine unfehlbaren Entscheidungen gefällt. Ihrem Zeugnis in Predigt und Liebestat eignet menschliche Unvollkommenheit. Der Wandel ihrer Diener und ihrer Glieder ist nicht ohne Fehl. Ihre Bekenntnisse sind zeitbedingt und zeitgebunden. Sie hat Häuser und Grundstücke zu verwalten, sie richtet Rechtsordnung auf, zahlt Gehälter und Löhne, erhebt Steuern und Abgaben und ist in irdische Nichtigkeiten verflochten. Muß das sein? Kann nicht Kirche auch ohne Apparat existieren, d.h. ohne Amt, Bekenntnis, Verfassung, Kirchenrecht und alle diese „störenden Menschlichkeiten”, wird sie nicht ohne das alles erst sein, was sie sonst nur zu sein vorgibt? Darauf ist zu antworten: weil es zum Wesen der Kirche Christe gehört, daß sie auf Erden ist, so kann sie nicht anders als schwach, anfechtbar und vergebungsbedürftig „existieren”. Sie ist hineingegeben in die Niedrigkeit der Erde und beweist damit ihren Gehorsam, daß sie nicht eigenmächtig diese Knechtsgestalt von sich abstreifen will. Wer die Erniedrigung der Kirche in die Welt der Sichtbarkeit nicht mitmachen will, der zeigt damit, daß er an der Erniedrigung Christi selber Anstoß nimmt. Christus nahm Knechtsgestalt an und ward ein Mensch, „das Wort ward Fleisch”: hier liegt der Grund und Anfang für die sichtbare Kirche. Christus hat Seine Kirche in die Welt des Fleisches hineingestiftet, indem er sie gründete auf einen schwachen Menschen. Dennoch soll dieser Mensch der Fels der Kirche sein, nicht durch seinen Charakter, sondern durch den Glauben, den Gott in ihm gewirkt hat durch Offenbarung. Mit dem Bekenntnis zur sichtbaren Kirche bekennen wir uns also zu dem, was Gott so geordnet hat. Die Sichtbarkeit der Kirche wird in unseren Tagen mit Nachdruck betont. Die sichtbare Kirche kämpft um ihren „Stand im Volk.” Von der sichtbaren Kirche aus müht man sich, „Zeichen der Zeit” zu deuten. Ja, sie ist selber in stärkste Mitleidenschaft gezogen mit dem Geschehen der Zeit - und es wäre schlimm, wenn sie es nicht wäre. Denn die Kirche ist darum hineingestiftet in die Welt des Fleisches, daß sie alle Erschütterungen dieser Welt am tiefsten durchleide. Wie sollte sie sich dann abseits stellen wollen, wenn das Volk, zu dem ihre Glieder gehören, in dessen Sprache sie betet, bis in seine Grundtiefen bewegt und bis zur letzten Kraft gefordert wird? In Wirklichkeit „bekennt” oder „verleugnet” die sichtbare Kirche mit allem was sie tut. Entweder bekennt sie, daß sie weiß um das ihr anvertraute Geheimnis: „Christus in euch, der da ist die Hoffnung der Herrlichkeit” (Kol. 2, 27); oder sie verleugnet ihre Christusbezogenheit und gibt sich hin an die Mächte Saekulums. Die sichtbare Kirche steht in Beziehung zum Auferstehungsleib Christi; dieser ist Geheimnis und für irdische Augen nicht sichtbar. Wir sind Glieder des Auferstandenen und die sichtbare Kirche ist sein irdischer Leib, vom Auferstehungsleib Christi ebenso wenig zu trennen wie unser menschlicher Leib von der Seele. Das Sakrament des Altars ist darum das Herzstück der Kirche, weil hier irdische Glieder der sichtbaren Kirche einbezogen werden in das himmlische Leben des Auferstandenen. Sichtbare und unsichtbare Kirche durchdringen sich hier! Die Verheißung des Auferstandenen in Seinem Wort und die uns durch Ihn verbürgte Gegenwart Seines Leibes - irdisches Brot und irdischer Wein und Menschen, die beides leiblich genießen: das alles zusammen macht das Sakrament des Altars. Was uns hier an einem Zentralpunkt begegnet, das wird im Leben der sichtbaren Kirche entfaltet. Die Liturgie ist ebenso wenig von der Verfassung und Gestalt der Kirche zu trennen wie die Predigt, die Lehre und das Bekenntnis von dem Werk der helfenden Liebe - mit allem bezeugt die sichtbare Kirche die Lebenskraft des Auferstandenen, der in Seiner Kirche gegenwärtig ist. Das Lebensgeheimnis der sichtbaren Kirche heißt also Leibwerdung, nicht Organisation; organisches Wachstum, nicht Zwang und Gewalt; Lebenszusammenhang von Haupt und Gliedern, nicht „Führerprinzip”. Ihr hilft nicht eine künstlich von Menschen bezweckte Einheit, die echte Einheit auch der sichtbaren Kirche kann nur daher kommen, daß wir uns immer besser als Glieder unter einem Haupte erkennen. Gewiß bleibt die sichtbare Kirche auf Erden unter dem Kreuz, in der Gebrochenheit, unter dem Gericht; darum bleibt sie „leidende Kirche”, sie muß durch das Sterben hindurch, aber sie trägt in sich den Keim der Auferstehung, die Hoffnung der Herrlichkeit. In dieser wird sichtbar werden, was hier auf Erden notwendig unsichtbar bleiben muß: daß sie, die auf Erden Gottes geringe Magd war, in Wahrheit die Braut Christi ist. Das Gottesjahr 1935, S. 47-51 © Bärenreiter-Verlag zu Kassel |
© Joachim Januschek Letzte Änderung: 12-10-15 |