titel

Startseite
Jahrgänge
1935
Autoren
Stichworte
Neue Seiten

Gottesjahr 1935
von Wilhelm Stählin

LeerWenn der Herausgeber des Gottesjahres wieder sein Grußwort an die Leser seines Jahrbuches niederschreibt, so ergeht es ihm ähnlich, wie wenn gute Freunde Jahr um Jahr einander begegnen und ihre Gemeinschaft erneuern. Ort und Umstände sind wohl gründlich verschieden; das Wettgeschehen ist seinen Gang weitergegangen; die Gestalt des Lebens hat sich vielleicht von Grund auf gewandelt, und persönliche Schicksale habentief aufwühlend Freuden und Leiden und Sorgen in den Acker des Herzens gesät. Aber ein kurzer Blick und wenige Worte: und die Freunde erkennen einander wieder und wissen, daß es auch jetzt nur gilt zu bewähren, worin sie eins gewesen sind seit je. -

LeerEs besteht die Gefahr, daß die Spannkraft unsrer Seele nicht gewachsen ist dem ungeheuerlichen Geschehen, das über uns hinwegbraust. Wir haben eine unheimliche Fähigkeit, uns an die unerhörtesten Dinge zu gewöhnen. Rasch verlieren wir jeden Maßstab für die Größe und das Gewicht dessen, was sich Tag für Tag um uns ereignet. Heute freilich wird niemand mehr so töricht sein zu meinen, daß nach einem Jahr der Revolution gleichsam Stromschnellen und Wirbel überwunden sind und unser Lebensschiff wieder auf ruhige Fahrt hoffen darf. Die ganze Welt ist in neue Bewegung geraten, Und wir stehen erst am Anfang einer Umwälzung, deren Ziel und Ende niemand von uns absieht.

LeerIn diesem Erdbeben ist das Haus der evangelischen Kirche in Deutschland geborsten und droht zu zerfallen. Vielleicht ist das nicht das Größte und Wichtigste in dem großen Umsturz dieser Jahre. Aber es ist unser Haus, in dem wir wohnen und leben; noch haben wir keinen anderen Ort geistlicher Heimat als diese arme Hütte, in der kein Friede ist. Wir sehen keine Rettung. Wenn in unserer Kirche die Gewalt mit harter Hand regieren will, so laßt uns nicht vergessen, was wir aus der großen Weltgeschichte und aus vielfacher persönlicher Erfahrung wissen könnten, daß die Gewalt in geistigen und geistlichen Dingen immer die letzte Zuflucht der Hilflosigkeit und Ratlosigkeit gewesen ist, der Ausdruck innerster Unsicherheit und Schwäche. Und immer noch hat sich das unerbittliche Gesetz erfüllt, daß die bloße Gewalt eben das zerstört, was sie mit verzweifelter Energie bauen und erhalten möchte (Matth. 26, 52).

LeerWir sagen das wahrlich nicht, um Menschen anzuklagen, die gewiß in ihrer Weise meinen, das Rechte zu tun. Sie sind wider Wissen und Wollen die Vollstrecker eines göttlichen Gerichts, das über unsere Kirche ergeht. Es ist nur grausam offenbar geworden die innerste Krankheit unserer Kirche, die unter dem trügerischen Schein äußerer Sicherheit verborgen war. Darum ist auch nicht durch äußeren Widerstand, so tapfer und opferbereit er geschehen mag, die Kirche der Reformation wirklich zu retten. Die Flucht in kleine Kirchen der Renitenz, in denen das Erbe der Vergangenheit durch die Stürme der Zeit hindurch gerettet wird, kann nicht der Weg sein, der uns heute gewiesen ist. Wir wissen keinen Weg. Niemand weiß einen Weg. Niemand weiß, was werden soll. Die deutschen Kirchen der Reformation erleiden das Gericht über eine Christenheit, die nicht erst in diesen Tagen das Geheimnis Gottes an die Macht und Klugheit der Welt verraten hat.

Linie

LeerEs gehört aber immer zum Wesen eines Gottesgerichts, daß man es nicht mit menschlichen Mitteln abwenden und ihm nicht durch menschliche Klugheit entrinnen kann. Es gibt keine Insel, auf die man sich vor der Sintflut retten könnte. Und weil an dieser Entartung der christlichen Kirche die ganze Christenheit Anteil hat und Mitschuld trägt, so hat unser Kampf und unser Leiden stellvertretende Bedeutung für die ganze christliche Kirche. Die tiefe Anteilnahme, mit der fromme Katholiken, schwedische Lutheraner, Anglikaner oder wer es sonst sei, dieses Stück deutscher Kirchengeschichte miterleben, entspringt nicht irgend welchen politischen Motiven, sondern diesem tiefen Wissen, daß wir viele, trotz allem, ein Leib sind und daß, wo ein Glied leidet, alle Glieder mitleiden.

LeerWas sollen wir tun?

LeerViele, sehr viele wenden sich enttäuscht, angewidert und verzweifelt ab von einer solchen Kirche. Sie verstehen nicht und können vielleicht nicht verstehen, was der Sinn und Hintergrund dieses Kampfes ist. Sie wenden sich entschlossen ab von einer Trümmerstätte, in der die Seele keine Heimat mehr findet, und siedeln sich an in den werdenden Wohnstätten eines neuen Glaubens. Der Protestantismus ist zerfallen, sagen sie; und was fallen will, soll man noch stoßen. - Andere verzehren sich mit heiligem oder unheiligem Eifer in dem gegenwärtigen Kampf um die Kirche. Darunter sind solche, die an dem Kampf als solchem Freude haben und denen schon dies, daß um die Kirche heute Streit ist, ein erfreuliches Anzeichen inneren Lebens zu sein dünkt; andere, die mit blutendem Herzen in diesem Kampf auf eine Seite treten, weil es ja weder möglich noch recht ist, „neutral” zu sein, und die nun diesen kirchenpolitischen Kampf führen, wie man eben traurig aber gehorsam eine saure Pflicht erfüllt. Wenn sie nur dabei wissen, daß in solchem kirchenpolitischen Kampf die List des Teufels besonders am Werk ist, uns zu betrügen und unseren heiligsten Eifer in den Dienst seines Zerstörungswerkes zu stellen!

LeerWenn sie nur wissen, daß in diesem vordergründigen Kampf um die Gestalt unserer Kirche nicht die letzten Entscheidungen fallen über die Zukunft der Kirche Jesu Christi in unserem Volk und in aller Welt! Es soll uns wahrlich nicht fehlen an Mut und an Treue. Gott kann unseren Eifer und unsere Treue, unsere Tun und unser Leiden segnen; aber es kann immer auch sein, daß wir den Willen Gottes nicht recht verstanden haben und daß er mit Seiner Kirche ganz andere Wege gehen will, als wir sie sehen und planen. - Darum bleibt uns nur eines wirklich zu tun übrig: Wir müssen ganz neu, und ganz in der Tiefe verstehen lernen, was Kirche ist; wir müssen, ganz frei von dem rechthaberischen Eigensinn irgend einer „Gruppe”, danach fragen, wo unter uns solche echte Kirche ist oder wird; und wir müssen versuchen, mit ganzem Ernst und ganzer Hingäbe in dieser Kirche zu leben.

LeerWie viele unter uns haben gar nicht mehr gewußt und wissen auch heute noch nicht, was christliche Kirche ist! So sehr waren sie gefangen in der Enge eines rein persönlichen Christentums, daß sie kaum mehr wußten von dem Raum der Kirche, den Gott zur Werkstätte seines Geistes gemacht hat. Oder aber es hat die Kirche als Organisation, die Kirche als Inbegriff vielgestaltigen menschlichen Werkes, das Geheimnis der Kirche, die verborgene Herrlichkeit ihres geistlichen Lebens gänzlich verhüllt. Darum glauben wir ein notwendiges Werk zu tun, wenn wir in diesem neuen Band unseres Jahrbuchs von der Kirche reden. So wie über dem Gottesjahr 1934 das Wort stand: „Ich glaube an Jesus Christus”, so steht über dem Gottesjahr 1935

Linie

LeerIch glaube an Eine heilige christliche Kirche.

LeerEin Jahrbuch kann und will nicht das Werk eines dogmatischen Lehrbuches übernehmen oder ersetzen. Wir maßen uns nicht an, auf den hundert Seiten dieses Buches die evangelische Lehre von der Kirche nach allen Seiten zu entfalten. Jene Kritiker, die mit besonderem Eifer dem nachspüren, was alles hier nicht gesagt ist, werden allerlei Beute finden. Aber wir meinen doch, daß hier eben das gesagt sei, was gerade heute neu gesehen, neu verstanden werden muß. Von sehr vielen Seiten wird gleichsam in immer neuem Anlauf, von immer neuem Standort her der Blick eröffnet auf das eine Geheimnis der Kirche. Die Vielzahl der Beiträge forderte freilich für jeden einzelnen strengste Beschränkung. Es wäre leichter gewesen, den dreifachen Raum zu füllen, als auf wenigen Seiten Entscheidendes und Wesentliches zu sagen.

LeerVon welcher Kirche ist hier die Rede; von der sichtbaren oder von der unsichtbaren Kirche? Die so fragen, gehen schon an dem Geheimnis der Kirche vorüber. Die Kirche ist immer sichtbar und unsichtbar zugleich. Sie ist in der Bildersprache des Neuen Testaments gesprochen ein Leib auf Erden, der sein Haupt im Himmel hat. Sie ist irdische Gestalt; ihre Lehre ist menschliche Rede, mißverständlich und in ständigem Ringen mit dem Irrtum. Ihre Verfassung ist mitten hineingestellt zwischen die großen Gebilde menschlicher Gemeinschaften, des Staates und seines Rechts. Auch an ihren Altären stehen sündige Menschen und entdecken wahrhaftig gerade dort, wie sehr all ihr Tun von der Sünde vergiftet ist. Und doch ist diese Kirche die heilige Kirche Gottes, das Gehäuse seines Geistes; der Ort seiner Gnade und der Anbruch der neuen Schöpfung. Von diesem Ineinander reden alle Beiträge dieses Jahrbuchs, ob sie auch im einzelnen von dem Dogma und von dem Wort der Kirche, von Taufe und Herrenmahl, von dem Amt oder von den Ämtern in der Gemeinde, von der betenden und singenden oder von der leidenden und triumphierenden Kirche reden.

LeerDer Kreis der Mitarbeiter ist in diesem Jahr weiter gespannt als sonst. Wir begrüßen es mit dankbarer Freude, das; Freunde, die nicht zu der deutschen evangelischen Kirche gehören, ihre Verbundenheit mit dieser Kirche und mit unserer besonderen Arbeit bezeugen, indem sie in diesem Jahrbuch ihr Wort sagen. Wenn hier die mystische Erfahrung der Ostkirche davon zeugt, „welches da sei die Breite und die Länge und die Tiefe und die Höhe” des Christusraumes, wenn Lutheraner aus den nordischen Kirchen von der betenden Kirche und von der Gemeinschaft der Heiligen sprechen, so darf daran die ökumenische Weitschaft der christlichen Kirche auch ganz äußerlich sichtbar werden.

LeerMan kann aber den Glauben an die Kirche im Grunde nicht literarisch bekennen. Dies ist die notwendige Grenze der Aufgabe, der wir mit diesem Band dienen wollen. Ein solches Jahrbuch kann im allerbesten Fall, das heißt wenn Gott zu menschlichem Werk seinen Segen gibt, nur ein Ausruf und eine Hilfe sein, die Eine heilige christliche Kirche, die immer da ist, weil Christus da ist, zu suchen und zu finden zwischen allem Unheil, das Irrtum, Torheit, Leidenschaft und Sünde ihrer menschlichen Träger angerichtet haben. „Ich glaube an Eine heilige christliche Kirche”, das heißt: ich gehöre zu dieser Kirche und will als ihr Glied leben und sterben; ich will mein Leben ordnen durch ihre geistgewirkte Ordnung; ich will mit ihr singen und beten; ich will an ihren Altären essen von dem Brot des Lebens und trinken aus dem Kelch des Heils.

LeerÜber das Monatswerk brauchen nur wenige Worte gesagt zu werden. Die Einteilung des Kirchenjahres ist unverändert geblieben, und auch die Wochensprüche der einzelnen Sonntage sind die gleichen, die uns durch die vergangenen Jahre geleitet haben. In der Reihe der Gedenktage freilich ist vieles geändert. Pfarrer Lic. W. Maurer in Michelbach bei Marburg hat diesen Namenkalender ganz neu bearbeitet, viele Fehler berichtigt, die sich im Lauf der Jahre eingeschlichen hatten, manche Namen gestrichen, die kein Heimatrecht in dieser Reihe haben, neue Namen, in Sonderheit aus der Geschichte der evangelischen Kirche eingefügt, und vieles anders geordnet, sodaß kein Tag mehr ohne das Gedächtnis eines besonderen Namens geblieben ist. Wir hoffen, daß wir dem Ziel eines evangelischen Kirchenkalenders um einen großen Schritt näher gekommen sind und hoffen, daß wir im nächsten Jahr unsern Lesern Nachricht geben können über das seit vielen Jahren geplante Werk, das diese vielen und vielfach unbekannten Namen mit der Fülle lebendiger Anschauung umkleiden soll und dann erst die rechte Hilfe bieten wird zum Gebrauch dieses evangelischen Kalenders.

Das Gottesjahr 1935, S. 19-23
© Bärenreiter-Verlag Kassel (1935)

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 13-05-07
TOP

Impressum
Haftungsausschluss