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Katechismus
von Wilhelm Stählin

LeerEs gibt zwei Büchlein, die durch mehr als drei Jahrhunderte hindurch ein Volk religiös erzogen haben, das Book of Common Prayer und Luthers kleiner Katechismus. Weit über die Kreise der anglikanischen Staatskirche hinaus hat das Common Prayer Book das englische Volk gelehrt, wie es beten und wie es seine Gottesdienste halten soll. Es ist für viele Millionen von Menschen das stärkste einigende Band über die ganze Welt hin und verbindet sie zugleich mit der Geschichte ihres Volkes und mit der Geschichte der christlichen Kirche. Es ist bezeichnend, daß das Buch, dem wie keinem anderen das englische Volk seine religiöse Erziehung verdankt, die Ordnung des Gottesdienstes, des täglichen und des sonntäglichen Gebetes enthält. Es ist die Form, die Gestaltung, die Sitte, die hier ihre erzieherische Macht bewährt und die durch Generationen hindurch an der Frömmigkeit des englischen Volkes gearbeitet hat. In der Bedeutung für die religiöse Erziehung eines Volkes ist dem Common Prayer Book nur Luthers kleiner Katechismus zu vergleichen. Aber welcher Unterschied! Hier ist keine Gottesdienstordnung; nur ein paar Gebete, mehr für häuslichen als für kirchlichen Gebrauch bestimmt. Der deutsche Protestantismus entbehrt der gemeinsamen Form seines Gottesdienstes und vielleicht leidet er bis heute darunter, daß die Reformationszeit ihm kein Büchlein des gemeinsamen Gebets, der gemeinsamen Andacht beschert hat. Aber dafür hat das deutsche Volk, soweit es unter dem Einfluß der Reformation stand, aus diesem Büchlein etwas noch viel wichtigeres gelernt: Wie ein Christenmensch glauben und leben soll. Dreizehn Generationen haben aus den wenigen Seiten dieses Büchleins ihre Gedanken über Gott und ihre Vorstellungen von einem rechten Christenleben empfangen. Kann man anders als mit der tiefsten Ehrfurcht an diesen Lehrmeister unseres Volkes denken, der so tiefe Segensspuren in die Geschichte unseres Volkes eingegraben hat?

LeerFreilich werden wir das Jubiläum von Luthers Katechismus im vergangenen Jahr gewiß nicht einfach mit der ungehemmten Freude gefeiert haben: Wir haben die deutsche Bibel, wir haben das evangelische Lied, wir haben unseren Katechismus. Haben wir ihn wirklich? die Zahl der Menschen, denen Luthers Katechismus die Heimat ihrer Seele bedeutet, die ihn beten auf ihren Arbeitswegen, denen er das tägliche Brot ihres Lebens und die Wegzehrung im Sterben ist, wird immer kleiner. Heute wächst zum ersten Mal seit 400 Jahren innerhalb der evangelischen Kirche selbst eine Jugend heran, die diesen Katechismus kaum mehr kennt. Manche der Gründe liegen am Tage. Wir hören alles, was gegen diesen Katechismus gesagt wird. Wie vielen von uns ist dieses Büchlein in einem schrecklichen Unterricht ein für allemal verleidet worden; wer kann aus diesen lehrhaften Künsteleien, mit denen uns abstrakte Erklärungen zu Luthers Erklärungen erklärt worden sind, das Zeugnis einer befreienden Wahrheit heraushören! Wie viele haben geseufzt über die seltsam fremden Worte, über die langen und kunstvollen Sätze, über das schwere und unbequeme altertümliche Gewand, in das wir schlüpfen sollten! Freilich das alles bleibt ja gänzlich an der Oberfläche; was wirklich wert ist, verstanden zu werden, das kann man schließlich verstehen; was wert ist, daß wir es als unverlierbaren Besitz in uns tragen, das können wir uns schließlich erringen; die sprachlichen Schwierigkeiten lassen sich überwinden, wenn man nicht meint, es müßte auch die Rede von Gott in einem leichten und bequemen Zeitungsstil bekannt und verkündigt werden.

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LeerEs ist etwas anderes, was uns heute den Zugang zu diesem Büchlein erschwert. Das war ja Luthers genialer erzieherischer Instinkt, daß er von Glaube und Liebe nicht abstrakt geredet hat, sondern daß er beides ganz und gar hinein gestellt hat in die konkrete Lebenssituation der Menschen, für die er seinen kleinen Katechismus geschrieben hat. Aber dieser Lebensraum war der des Bauern und des Handwerkers. Das war der „Stand”, in dem der Mensch zu Luthers Zeit seinen Ort hatte. Diesen seinen Stand lernte er aus Luthers Katechismus im Licht der göttlichen Gnade und des göttlichen Gebots sehen. Haus und Hof, Äcker, Vieh und alle Güter, Weib, Kind und Gesinde, auch des Nächsten Leib und Leben, Hab und Gut stehen hier in dem neuen Lichte der göttlichen Wahrheit. Gottes Schöpfermacht lernt der Mensch erkennen an alle dem, das ihm „aus lauter väterlicher göttlicher Güte und Barmherzigkeit” als das tägliche Brot beschert ist; und dazu gehört das „gute Regiment” ebenso wie das gute Wetter. Und wenn er wissen will, was er Gott schuldig ist, so empfängt er den Rat: Sieh deinen Stand an nach den zehn Geboten. Auf den Stand ist aufgebaut die Kirche, und es wirkt bis zum heutigen Tage nach, daß das lutherische Christentum sein Wesen zuerst und am reinsten ausgeprägt hat in dem Stand des Bauern und des Handwerkers, während das calvinistische Christentum in eine ebenso enge Verbindung mit dem Kaufmannsstand eingegangen ist. Aber was die Stärke dieses Büchleins gewesen ist, wird heute für unser Geschlecht zugleich seine Schwäche. Nicht nur, daß die alte soziale Bindung und die alte Arbeitssituation aufgelöst ist; auch der Handwerker und auch der Bauer stehen heute unter ganz anderen wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen. In irgend einem Grade ist die Lebenssituation der heutigen Menschen durch die Großstadt als die typische heutige Lebensform gestaltet. An der Stelle der Familie, die das Gesinde in sich schloß, steht die Gewerkschaft; die Technik hat ein radikal anderes Lebensgefühl geschaffen, ein Lebensgefühl der Weltbeherrschung und Weltgestaltung; ganz anders als es das Lebensgefühl des frommen Bauern war, der alles, was zu des Leibes Nahrung und Notdurft gehört, aus Gottes Hand empfängt. Auch die landwirtschaftliche Arbeit selber hat durch die notwendige Rationalisierung und Technisierung und durch die Einbeziehung der Bauernarbeit in die Weltwirtschaft ihr Gesicht völlig gewandelt. Die Lebensformen, an denen Luthers Katechismus Glauben und Leben eines Christenmenschen verdeutlichte, sind aufgelöst, und nur eine Romantik vermag sich über dieses Schicksal zu täuschen. Wo haben wir heute noch Formen der menschlichen Arbeit und des menschlichen Zusammenlebens, durch die so sehr Gottes guter und gnädiger Wille fragend und verpflichtend hindurch leuchtet, wie es in dem Stand des frommen Bauern der Fall war? Die ungeheure Unkirchlichkeit, die heute gerade das flache Land bedroht, ist der erschütternde Ausdruck dafür, daß auch dort - von der Lage des großstädtischen Industriearbeiters ganz zu schweigen - das Leben nicht mehr „transparent”, die irdische Arbeit nicht mehr an die Ewigkeit gebunden und dadurch geheiligt ist.

LeerWer also daran glaubt und dazu mithelfen will, daß Luthers kleiner Katechismus wie in der Vergangenheit so auch in der Zukunft eine Erziehungsarbeit an der Seele unseres Volkes tun darf und tun kann, muß die überaus schwierige Übersetzungsarbeit in Angriff nehmen, die das, was Luther für den Bauernstand seiner Zeit gesagt hat, für die Lage des heutigen Menschen hörbar und verständlich macht. Diese Übersetzungsarbeit ist notwendig und sie ist möglich, und wir haben nichts, kein anderes Büchlein, keine Formulierung, an die wir heute besser anknüpfen könnten als an den alten Katechismus.

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LeerAber dieser Katechismus ist doch so lehrhaft! Eben darum! Unsere Zeit, die an klaren Gedanken, an sicherer Erkenntnis so schrecklich arm ist, wo jeder gebahnte Weg sofort wieder von Unkraut, Schlinggewächs und Gestrüpp aller möglichen Tagesmeinungen überwuchert wird, braucht nichts so notwendig, wie eine feste Ordnung der Wahrheit, die die unsicheren Gedanken in ihre Zucht nimmt. Nicht irgend ein Licht neben andern Lichtern, sondern eine Wahrheit, die gilt; nicht eine neue Aufgeregtheit, die zu einem neuen Zappeln und Strampeln führt, sondern die Kraft sicherer Bewegung, durch die man wirklich gehen und greifen kann; eine Gesamtschau des Lebens, in die das Einzelne an seinem Ort eingegliedert werden kann, ein unbedingt Gültiges, von dem aus das Einzelne an seinen Platz gestellt wird. Noch mehr! Gedanken gewinnen Macht nur in sprachlicher Prägung. Die feste, bleibende und für viele gemeinsame Form ist ein unersetzliches wichtiges Bollwerk gegen die völlige Auflösung des geistigen Lebens in vorübergehende Einfälle einzelner Menschen. Sagt man, eben das wolle der heutige Mensch nicht, die Ordnung des Denkens, das bindende Losungswort? Ist nicht viel mehr das der große Sehnsuchtsschrei, der uns aus Tausenden und Abertausenden entgegendringt: Gebt uns Wahrheit als ein Licht auf unserem Wege! Wir wollen nicht tappen, sondern gehen. Wir wollen nicht geblendet werden durch geistige Lichtreklame, sondern wir wollen sehen. Gebt uns ein Wort, an das wir uns halten können und das nicht wie ein morscher Stab in unserer Hand zerbricht. Ein Geschlecht, dem es wieder ernst darum ist, die Flattergeister zu hassen, das neu fragt nach dem Gesetz, das uns gesetzt ist, wird erst wieder begreifen, was ein Katechismus ist und bedeutet. Es ist die kurze und knappe Rede von der Wahrheit, die nicht erfunden, sondern gefunden und gehört werden will; der Hinweis auf die Ordnung, die uns gesetzt ist. Hier ist nicht die Rede von dem, was wir Menschen meinen, erleben, wünschen, sondern von dem, was Gott tut und was Gott will. „Ich bin der Herr dein Gott, du sollst keine anderen Götter neben Mir haben”. Damit ist der Mensch zur Ordnung gerufen. Das was einen jeden von uns unbedingt angeht, „von allem Notwendigen die nötigste Notwendigkeit”, das ist das, wovon der Katechismus reden will und redet.

LeerGottes Gesetz, nicht Gottes Gesetze. Denn das was uns gesetzt ist, ist nicht ein Vieles, sondern das Eine. Es gilt nicht eine Summe von Wahrheiten zu erfahren und anzuerkennen, sondern die Wahrheit als eine in sich geschlossene Einheit zu ehren. Oft ist es als eine besondere pädagogische Klugheit gerühmt worden, daß Luther in seinem Katechismus den Hausvätern, für die er bestimmt war, nicht ein System, sondern Hauptstücke dargeboten hat, nicht einen kunstvollen Aufbau theologischer Gedanken, sondern die großen Bilder dessen, wie ein Christenmensch glauben und leben soll. Dennoch sind diese Hauptstücke Glieder eines Organismus. Nicht nur der christliche Glaube hat seine „Artikel”, das heißt seine ineinander gefügten und aneinander hängenden Gelenke und Glieder, sondern die ganze christliche Wahrheit ist ein gegliedertes Ganzes. So wie Luther jedes einzelne Gebot als den Ausfluß des einen, was not ist, aufgezeigt hat: „Wir sollen Gott fürchten und lieben, daß wir...”, so wie er einmal über jeden der drei Glaubensartikel das Wort Jesus geschrieben hat, so ist im Grund alles auf die eine Mitte bezogen, alles wird hell und deutlich nur in dem Strahl des Lichtes, der von Christus aus auf alle Fragen des Lebens fällt.

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LeerDie „Mitte” ist Gott, der Vater Jesu Christi. Er ist zugleich der fordernde und der schenkende, richtende und der erlösende Gott. Alle Gegensätze, die von den Polen Furcht und Vertrauen umspannt sind, sind in der Paradoxie dieses Gottesglaubens zusammengefaßt; wer den einen der beiden Pfeiler umstoßen wollte, die die Spannung dieses Gewölbes tragen, der zerbräche den christlichen Gottesglauben überhaupt. Das unerbittliche „du sollst” steht hart und unverbrüchlich gegen allen menschlichen Lebensanspruch; das Gebot, das uns gegeben ist, ruft zum Gehorsam. Gott ist der „eifrige” Gott, der droht zu strafen, und es gibt keinen Weg, vor diesem Gott Verdienst und Würdigkeit zu erringen. Und doch lockt derselbe Gott, daß wir zu ihm kommen, wie die lieben Kinder zu ihrem lieben Vater; und von diesem Vertrauen aus verbreitet sich der Glanz einer großen Freudigkeit über alles, das von Gott gesagt ist.

LeerDie Paradoxie dieses Gottesglaubens spiegelt sich in dem, was von den Menschen gesagt ist. Vielleicht ist den meisten heutigen Menschen dies am schwersten zugänglich von allem, was in dem kleinen Katechismus steht, ferner und fremder als die Sprache. Hier ist in der Tat von den Menschen, von seiner Lage und seinem Wert ganz und gar nüchtern geredet, ohne alle Illusion, ohne alle Romantik, ohne jeden feierlichen Respekt vor allem „was Menschenantlitz trägt”. Die Erde ist ein Jammertal und auf ihr lebt der Mensch als ein „verlorener und verdammter Sünder”, der angefochten wird von dem Teufel und dem eigenen Fleisch, und der der Erlösung bedarf. Aber eben dieser Mensch steht im Licht. Bei uns will der Name Gottes heilig werden, zu uns will Gottes Reich kommen, bei uns will Gottes Wille geschehen; uns sind die Sünden vergeben. Wir sind mit Christus auferweckt, daß wir „in seinem Reiche unter ihm leben und ihm dienen in ewiger Gerechtigkeit, Unschuld und Seligkeit”. Denn wo Vergebung der Sünden ist, da ist Leben und Seligkeit. Mit anderen theologischen Begriffen fehlt auch das Wort von der Rechtfertigung im kleinen Katechismus; aber die Sache selber füllt dieses Büchlein auf allen seinen Seiten. Der Ritter, der von Tod und Teufel umdrängt seines Weges zieht, weil er in der festen Burg daheim ist, ist genau das Bild dessen, wozu der Katechismus helfen will. Und das ist gerade das, wozu dem heutigen Geschlecht geholfen werden muß. Wir müssen lernen, den Katechismus mit neuen Augen zu sehen und mit neuen Ohren zu hören. Wir sollen uns von ihm erziehen lassen zur Freiheit, statt daß wir ihn uns und unseren Kindern als ein Joch auf die Hälse legen. Wir sollten allenthalben anfangen, mit erwachsenen Menschen dieses Büchlein zu lesen und wo es sein kann, in einem Katechismusunterricht für reife Menschen um ihn uns mühen. Ein Erzieher soll nicht bequem sein; ein Erzieher muß manches sagen, das wir zunächst nicht verstehen. Es ist nichts größeres von einem Erzieher zu erwarten, als daß er uns hilft, die Wahrheit zu sehen und durch die Wahrheit frei zu werden.

LeerWir würden diese Blätter, die von evangelischer Erziehung handeln, nicht mit einem Wort vom Katechismus schließen, wenn er nur das kostbare Erbe der Vergangenheit wäre. Wir grüßen die jungen Menschen und die alten, die durch Wirrsale und Irrwege der Zeit den Weg suchen. Wir grüßen die, die von Herzen die Flattergeister hassen und Liebe gewinnen zu dem, was uns gesetzt ist. Wir grüßen die, die bereit sind, ihre Götzen zu verbrennen, um dem, der allein wahrer Gott ist, die Ehre zu geben. Wir grüßen die, die willens sind, sich von jedem Wahn menschlicher Eitelkeit zu lösen und die wirklich von Herzen nichts anderes mehr begehren als von Gottes Gnade zu leben und aus der Kraft dieser Gnade wirklich lebendig zu werden. Auf euch wartet der Katechismus, um an euch den Dienst zu tun, den er an unseren Vätern getan hat.

Gottesjahr 1930, S. 124-129
© Bärenreiter-Verlag zu Kassel (1929)

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 16-01-29
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