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von Carl Happich |
Wir protestantischen Christen kennen nur die allgemeine Beichte der Gemeinde, die sich darstellt in dem Sündenbekenntnis des Geistlichen vor dem Altar und der darauf folgenden allgemeinen Absolution. Der Protestantismus hat von jeher die katholische Ohrenbeichte gänzlich abgelehnt. In früheren Jahrhunderten ist gelegentlich damit Mißbrauch getrieben worden. Die Macht des Priesters über den Einzelnen durch die intime Kenntnis seines geheimsten Innern erschien unerträglich und der Selbstverantwortung eines Christen vor Gott nicht würdig. Hier, wie in vielen anderen Punkten, hat der Protest der Reformation mit Recht eingesetzt, Schäden aufgedeckt und ihre Weiterfortentwicklung verhindert. Dies ist aber nur die negative Seite. Eine so außerordentlich weitsichtige und psychologisch gegründete Macht, wie die der katholischen Kirche, weiß ganz genau, daß die Ohrenbeichte auch eine Bedeutung für die einzelnen Laienmitglieder haben kann, ja eigentlich haben muß. Bei uns ist es heute so, daß so gut wie niemand mehr das Bedürfnis oder den Mut fühlt, sich bei seinem Geistlichen auszusprechen und daß infolgedessen die große Mehrzahl unserer Geistlichen auch nicht mehr fähig ist, ein Mitglied ihrer Gemeinde in schwierigen seelischen Zuständen entsprechend zu beraten. Das Aufkommen einer neuen und sehr weit greifenden Seelenkunde m der Medizin hat heute dazu geführt, daß der Arzt, insbesondere der Nervenarzt, in einem weit größeren Umfang Beichtvater geworden ist, als es der protestantische Geistliche in den letzten Jahrhunderten jemals war. Das Bekanntwerden der Geschehnisse im seelischen Unterbewußten und Unbewußten, das Kennenlernen der großen Kämpfe, die sich im Seeleninnern, zum großen Teil dem betreffenden Patienten ganz unbewußt, abspielen können, haben auch neue Wege gezeigt, wie man seelisch Leidenden helfen kann und vor allem wie man sie anhören muß. Wir wissen zwar, daß man einen Schmerz, einen Kummer, ein Schuldbewußtsein lange in sich herumtragen kann, im tiefsten Herzen verschlossen, um unter dieser Verschlossenheit und unter diesem Tragen stärker zu werden, herber und aufrichtiger, aufrichtiger vor allem sich selbst gegenüber. Insofern ist es nicht richtig, jederzeit sofort sein Herz zu entleeren, alles umgehend aus sich herauszuwerfen, um ja allen Ballast los zu werden. Erst der Ballast ist es, der einem Schiff ruhigen Tiefgang ermöglicht - ist es entleert, so tanzt es vor dem Wind und kippt um. Ein Charakter bildet sich nicht durch dauernde Entblößung des seelischen Schamgefühls und von hier aus sind alle Einwendungen gegen die erzwungene, regelmäßige Ohrenbeichte zu machen. Anders aber, wenn der gequälte Mensch mit sich gerungen hat, seine Last nicht loswerden kann, in der Verzweiflung keinen Ausweg weiß, auch den Weg zu Gott sich versperrt sieht, dann braucht er eine Hilfe, dann muß er unbedingt geführt werden. An sehr vielen Orten werden ja die Gemeindemitglieder vertrauensvoll zu ihrem Geistlichen gehen und „ihr Herz ausschütten”. Es ist schon außerordentlich viel, wenn der Mensch zu einem anderen gehen kann, zu dessen Güte, Verstehen und Verschwiegenheit er Vertrauen hat. An vielen Orten wird dies der Geistliche sein, es könnte aber ebensogut ein anderer der Vertraute und Hörer der „Beichte” sein. Schon daß man die peinigenden Gedanken und Gefühle in Worte gefaßt hat, ist eine Erleichterung. Dadurch daß man sie in Worte und Sätze formuliert hat, hat man sie in einem gewissen Grad selbst geschaffen, besitzt dann auch die Überlegenheit des Schöpfers und Künstlers gegenüber dem Werk. „Man hat jetzt die Sache” und nicht mehr „hat die Sache einen selbst”. Dazu kommt, daß man durch das Hinaussprechen seiner Gedanken und Gefühle sie von sich hinweg stellt, eine Distanz, einen Abstand zu ihnen gewinnt und sie, so zu sagen, ans der Entfernung betrachten kann; sie sind draußen, sie hocken nicht mehr in mir drin. Eine wichtige Frage, die uns in der Seelenheilkunde, in der Psychotherapie, heute bewegt, ist: In wessen Auftrag handelt der Seelenarzt? Hat er die Gesetze seines Handelns aus seiner eigenen Person und seiner eigenen Erfahrung herausgenommen, stellt er sich also als einzelner Mensch selbst über andere oder handelt und heilt er auf Grund der Erfahrung vieler Generationen oder als Schüler eines überragend großen Meisters oder hat er sich orientiert an Übermenschlichem und Überzeitlichem - kurz und endlich gesagt, nimmt er seinen Auftrag aus dem Bereich des Göttlichen. Nur der kann wirklich Seelen führen und heilen, der selbst ein fertiger Mensch geworden ist, der die Vielfältigkeit und die Schwachheit der menschlichen Seele zu tiefst kennen gelernt hat, der so klar und unerbittlich gegen sich selbst gewesen ist, daß er nichts Egoistisches und nichts Egozentrisches mehr für sich will, sicher nicht bei der Beratung des Seelenkranken; der weiß, daß alle Vollendung, alle Harmonie nur möglich ist in der Selbstlosigkeit und Güte - im höchsten Maße nur möglich ist in Gott selbst. Die gegebenen Seelenberater wären von hier aus gesehen zweifellos die Geistlichen, als die Verkünder der Lehre Christi. Sehr viele Geistliche sind dazu heute nicht in der Lage und nicht bereit in der oben geschilderten Weise als Seelenführer zu wirken. Zum Teil liegt es an ihrer Ausbildung, wozu ich aber sagen muß, daß es nicht damit getan ist, daß ein Geistlicher sich über Psychoanalyse orientiert. Wer in seelischer Not ist und sein Herz entlasten muß, gehe also zu einem Menschen seines Vertrauens. So wie das Kind von der Mutter seelische Hilfe bekommt, bei der es sich ausspricht, oder ein Mann zu seinem Freund gehen kann, so genügt oft schon eine erleichternde Aussprache bei vertrauten Menschen. Zu warnen ist nur vor übermäßig häufigem Wiederholen, was zur Entleerung, Aushöhlung, zu sentimentaler Gefühlsduselei führen kann. Dem Erfahrenen sind ein Greuel die Menschen, die in immer wiederkehrender seelischer Prostitution es bis zu einer genießerischen Schamlosigkeit gebracht haben, sich in ihrer seelischen Nacktheit immer wieder selbst zu bespiegeln. In solchen Fällen würde der Berater mit größter Strenge vorgehen - wenn es nicht schon zu spät ist und das Seelenleben sich nicht schon in gefühlsselige Hysterie aufgelöst hat. In Not suche den Freund, den Seelenberater, aber nur den, der dich hinführt zur höchsten Harmonie, der dich hinführen kann zum Göttlichen. Gottesjahr 1930, S. 100-102 © Bärenreiter-Verlag zu Kassel (1929) |
© Joachim Januschek Letzte Änderung: 16-01-29 |