|
von Paul Girkon |
Daß nicht nur von der Musik und Dichtung erziehliche Einflüsse ihren Ursprung nehmen, daß in einer besonderen Weise auch die bildende Kunst über Kräfte für den Aufbau der geistigen Persönlichkeit und der geistigen Gemeinschaft verfügt, dieses Wissen ist heute Gemeingut der Pädagogik. Aber es ist für den Zeitabschnitt, der seinem Wesen nach dem Gestern gehört, in seiner Auswirkung jedoch noch heute breite Lebensgebiete beherrscht, bezeichnend, daß die Bildungskraft der Architektur, der Malerei und Plastik gegenüber der Bildungskraft der Dichtkunst weithin noch heute als unterwertig gilt. Diese Unterwertigkeit kommt darin zum Ausdruck, daß die Dichtkunst stets als ein sehr wesentliches Erziehungsmittel einen bevorzugten Platz im Lehrplan beansprucht, während die bildende Kunst als ein bloßes Erziehungshilfsmittel sich mit einer weit bescheideneren Stellung begnügen mußte. In diesem Wertungsverhältnis spiegelt sich die allgemeine Überbetonung des gesprochenen oder geschriebenen Wortes gegenüber der Gestalt. Im Bereich der Schulerziehung bestand diese Unterbewertung der bildenden Kunst nicht ganz zu Unrecht. Eine zeitgemäße Baukunst gab es nicht - sondern nur eine akademische Bautechnik, überkleidet mit entliehenen Stilgewanden aus dem Depot der Kunstgeschichte. Malerei und Plastik aber waren zum Edel-Luxus geworden, zu überzüchteten Genußmitteln für eine höchst verfeinerte Kultur der Aesthetik. Daß eine derartige Kunstübung und Kunstaufnahme sich gänzlich aus der Nachbarschaft des Kindhaften zurückgezogen hatten, ist verständlich. Infolgedessen griff die Pädagogik zu der künstlerischen Arbeit vergangener Epochen. Und gehorsam dem Lebenstrieb der Renaissance, dem wiedergeborenen Geist des klassischen Griechentums, der 4 Jahrhunderte lang eine kaum bestrittene Herrschaft über die geistige Kultur Europas geübt hat, wandte die Schulbildung sich fast ausschließlich zu den Werken der griechisch-römischen Kunst und ihrer Neulebendigkeit in der italienischen und niederländischen Renaissance. Aber auch diese, fast ausnahmslos nur in Nachbildungen dargebotenen Werke wurden nicht in ihrem eigentlichen künstlerischen Wesen anzueignen versucht sondern vielmehr in ihrem Inhalt, der nun wiederum der Einwirkung des gesprochenen Wortes als Anschauungsmittel Hilfsdienste zu leisten bestimmt war. Die Deutung des Kunstwerks war demgemäß pädagogisch viel wichtiger als das Kunstwerk selbst. Wo aber die Aufmerksamkeit auf den Vorgang des künstlerischen Bildens selbst gerichtet wurde, bewegte sie sich auf Abwegen, die vom Kerngebiet des künstlerisch Geistigen fortführten: die künstlerische Arbeit wurde als Nachbildung der Natur gewertet. Die technisch-virtuose Befähigung zum Vortäuschen naturhafter Wirklichkeit war der eigentliche Gegenstand der Kunstauffassung und nicht weniger des Unterrichtes im Zeichnen, Malen und Modellieren. Das Urelement des Schöpferischen in der Kunst blieb unbekanntes Gebiet. Die Beschäftigung mit Kopien statt mit Originalen vollendete die Wirksamkeit dieser zentrifugalen Tendenz. Das entscheidende Urteil über die erziehliche Minderbefähigung der bildenden Kunst wurde auf religiösem Gebiet gefällt: das Bild vermag den Menschen nicht zu bekehren. Nur das Wort hat die Kraft, das Herz zu erneuern. Es ist noch nie geschehen, daß jemand durch die Einwirkung eines Bildes zu einem neuen Menschen geworden wäre. Dieses Urteil ist gegenüber dem Zustand der damaligen christlichen Kunst durchaus überzeugend. Es kann als Symbol gelten für die Allgemeinbewertung der bildenden Kunst als Erziehungsfaktor. Die Annahme, daß die Bildung der Masse erst mit der Einrichtung der Volksschule und der Einführung der allgemeinen Schulpflicht begonnen habe, ist ein intellektualistischer Aberglaube. Das Gesamtbild der romanisch-gotischen Kultur, die ihre Wurzeln durchaus im Herzen des Volkes hatte, zeigt eine geistige Hochwertigkeit, die der kulturellen Entwicklung seit der Renaissance bis zur Neuzeit Ursache zur Selbstkritik werden sollte. Die gegenwärtige Lage des geistigen Lebens zeigt den Beginn einer grundstürzenden Veränderung, die sich als sehr leidenschaftliche, sehr radikale Befreiung von der durch die Renaissance bestimmten geistigen Entwickelungsepoche und als Neubeginn und Wiedergeburt des gotischen Geistes bekundet. Nicht als ob eine Nachahmung romanisch-gotischer Formbildungen in Kunst, Kultus, Erziehung oder Leben daraus hervorginge. Das sind lediglich periphere Begleiterscheinungen. Sondern aus einer neuen schöpferischen Geistigkeit, die dem Wesen des gotischen Geistes aus Innerstem verwandt ist, ringen sich neue, im wesentlichsten Sinne moderne Verkörperungen ans Dasein. Diese geistige Neubildung äußert sich in einer neuen Kunstschöpfung, die dem heiligen Gebot gehorcht, nicht mehr Nachbildung sondern Urbildung zu sein, und in einer neuen Empfänglichkeit für künstlerisches Schaffen ein Echo findet. Im Bereich des Schöpferischen ist diese neue Kunst zugleich im Bereich des Kindhaften. Nicht immer ist das primitiv-infantile Formgestammel vieler Werke der sogenannten Ausdruckskunst das Ergebnis und Zeugnis einer echten, schöpferischen Kindhaftigkeit des künstlerischen Gestaltens. Aber einige Werke tragen den Stempel solcher eingeborenen Kindhaftigkeit - und diese Tatsache ist entscheidend und gibt selbst der Masse des zweifelhaft Echten oder zweifellos Unechten die Beglaubigung, in einer fernen Verbindung mit den Wurzeltiefen des Wesentlichen zu stehen, - wenn auch als Entartungserscheinung. Diesem künstlerischen Infantilismus der Erwachsenen, der sowohl im Expressionismus wie in der neuen Sachlichkeit nachweisbar ist, entspricht eine Hochkonjunktur des künstlerischen Gestaltens in der Schule und besonders in ihren untersten Klassen. Das Kunstwerk des Kindes, das selbst technisch-formal mit dem des Erwachsenen eine erstaunliche Ähnlichkeit aufweist, wird ein besonderes Gebiet der kunstwissenschaftlichen Forschung. Die Anregung und Ausbildung des künstlerischen Formtriebes im Kind und im Jugendlichen wird auf einmal eine Hauptaufgabe der Unterrichtsreform. Und es entstehen eigene Kunstzeitschriften für Schülerarbeiten. Fraglos eine ebenso plötzliche wie gänzliche Veränderung in den Beziehungen von Unterricht und bildender Kunst. Dieser Wandlung auf dem Gebiet des Kunstschaffens und seiner erziehlichen Auswertung antwortet eine verwandte Wandlung bei den Kunst-Schauenden. Bei Einzelnen, ja auch schon in besonderen Kreisen des geistigen Lebens der Gegenwart, bezeugt sich eine ganz andersartige, sehr vertiefte Empfänglichkeit für die Einwirkungen der bildenden Kunst. Man kann heutzutage Menschen begegnen, die von sich bekennen, ihre entscheidenden Eindrücke für den Aufbau ihrer inneren Lebendigkeit nicht von Büchern sondern von Bildern, nicht von Worten sondern von Gestalten empfangen zu haben. Und auch auf dem Gebiet des innersten christlich religiösen Lebens und seiner Strebungen nach der Neugeburt des inwendigen Menschen beginnt eine schöpferische kultische Kunst Wunder zu wirken. Die Stätte der geistigen Schöpfung ist die ins Jenseitige mündende Innenferne des Unterbewußtseins. Das Reich des Bewußten gehört bereits zur Welt des Geformten, zur Region der Entäußerung. Der Werdeprozeß eines Werkes der bildenden Kunst gestaltet seine Körperform nicht im Bezirk des Bewußtseins, sondern ist ein fast unmittelbarer Übergang des Unterbewußten in die sinnenhaft wahrnehmbare Außenwelt des Räumlichen. Alle bewußten Vermittelungen, wie sie in Form von Gedanken, Tendenzen, Willensspannungen oder auch Versuchen, ein klares Vorstellungsbild des Werkes zu gewinnen, sich allzuleicht in die künstlerische Arbeit einschieben, sind im wesentlichen Hemmung, sehr selten nur Wegbereitung. Das Tages-klare Zentralbewußtsein ist nicht die Heimat des Schöpferischen. Seit Anbeginn ist die Stätte der Schöpfung, da der Geist Gottes über den Wassern schwebt, das Dunkel der Tiefe, der inwendigen Tiefe, die über das diesseitige Dasein hinausreicht. Und auch das sehr aufschlußreiche Pauluswort vom unaussprechlichen Seufzen des Geistes weist auf das, was jenseits aller Worte, aller bewußten Formgebung ist. Eine derartige, geistig schöpferische Kunst ist dem Bereich des luxuriösen Überflußes und eines geistig-sinnenhaften Genusses enthoben. Sie ist Selbstgestaltung innerster Lebendigkeit und gehört in die Herzstätte des arbeitenden, kämpfenden, leidenden Lebens. Wir erleben heute das Werden einer Kunst, in der das Leben um seinen Sinn, seinen Sieg und seine Erlösung ringt. Die kurze Besinnung auf ihr Wesen weist den Weg zu ihrer erziehlichen Auswirkung. Wenn die Form des Kunstwerks die Erscheinung seines Sinnes, die Verwirklichung seines Geistes ist, dann ist sie auch zugleich die Kraft seiner Wirksamkeit und das Medium seiner Ausstrahlung. Wenn der Geist seine Verkörperung vollbringt, dann wächst er empor in den Bereich der wirkenden Tat. Seine Wirklichkeit ist seine Wirkungskraft. Das ist der Sinn des Glaubens an die Magie des gestalteten Geistes. Wenn die Kunst für die Erziehung ausgewertet werden soll, dann ist es eine selbstverständliche Forderung, daß die heutige Kunst, in der sich das Lebensgefühl der Gegenwart und ihres Zukunftswillens gestaltet, das Recht auf die zentrale Stelle in der Kunsterziehung besitzt. Zugleich aber sollte die ihr verwandte Kunst des romanisch-gotischen Mittelalters, statt der Klassik und Renaissance, in die Lehrpläne der Schulen aufgenommen werden. Man wird dabei die Wandlung im gegenwärtigen Verhältnis der Kunstgattungen zu einander entscheidend beachten müssen. Die Architektur hat den ihr gebührenden Platz im Zentrum des Kunstschaffens zurückgewonnen. In Verbindung mit dem konstruktiven Jngenieursbau und der gewaltigen Formenwelt der Maschine prägt sie dem heutigen Lebensgefühl eine Verkörperung, die für die weiten Kreise der Industriebevölkerung, aber darüber hinaus auch ganz allgemein für die heranwachsende Jugend der Großstädte eine suggestive Eindringlichkeit besitzt, wie im Mittelalter die Dome und Kathedralen. Es wäre abwegig, in der Welt der Maschine, des Ingenieurbaus und der Architektur, weil sie fast gänzlich im Dienst von Industrie, Wirtschaft und Verkehr stehen, die Verkörperung des Profanen, den Ausdruck eines materialistischen Zeitgeistes zu sehen. Vielmehr sind gerade die künstlerischen, aber auch mehr und mehr die technisch konstruktiven Lösungen der hier gegebenen gewaltigen Ausgaben durch ein unbewußtes Bekenntnis zu einem übergeordneten Heiligen,das absichtslos in der architektonischen und konstruktiven Formenspräche sich bekundet, eine Weissagung von der Bemächtigung aller irdischen Zweckhaftigkeit durch den Geist in seiner überirdischen Bestimmung. Die Empfänglichkeit für diesen Ausdruck höherer Geistigkeit im modernen Profanbau zu wecken, heißt eine Magie von ungeahnter Aufbaukraft aus der Welt des geformten Geistes in die Welt des keimenden Geistes zu leiten. Diese Erziehung zur Kunst, die eine Wegbereitung für eine unmittelbar und elementar sich auswirkende Erziehung durch die Kunst ist, findet Krönung und Vollendung in der Sphäre der kultischen Kunst. Wer die Magie des gestalteten Geistes begriffen hat, wird es ohne weiteres verständlich finden, daß eine kultische Kunst, die nur der Dekoration oder der Illustration des gesprochenen Wortes dient, kein Herz zu erneuern imstande ist, daß aber eine Kunst, in der sich der Geist Gottes durch das Werk des Menschen bezeugt, schweigende Verkündigung ist, gestalteter Logos, der auch in dieser seiner Erscheinungsform das Wunder der Erneuerung vollbringt. Welch eine Aufbaukraft für das gesamte innere Leben gespendet wird, wenn eine Treppe nicht nur äußerer Zugang ist, sondern durch ihre Gestalt und Steigung Aufstieg und Wendung des inwendigen Menschen verkündigt, wenn ein Portal nicht allein als äußerer Zugang s sondern als Einladung und Aufnahme empfunden wird, wenn der sakrale Bezirk über die Absonderung der Straßengeräusche hinaus die Seele vom . Alltag scheidet und in die Stille des Inwendigen leitet, wenn der ganze Bau mit seinem Raum und all seinen Einzelwerken als gestaltete Verkündigung vernehmbar wird - wer vermag das zuende zu denken? Die Aufgaben auf diesem Gebiet sind ebenso groß wie schwierig. Denn wir haben im Bereich des kirchlichen Lebens so gänzlich verlernt, die Sprache des gestalteten Geistes zu verstehen, daß der Beginn wesenhafter Formschöpfung notwendig Befremden erregen und Ablehnung hervorrufen muß. Dennoch beginnen auch hier die ersten Keime zu treiben. Vom gläsernen Kultraum der evangelischen Presseschau in Köln liegen Zeugnisse vor, daß Menschen durch ihn eine innere Erneuerung erfahren haben. Diese kaum zu hoffende, in ihrer Bedeutung gar nicht überschätzbare Bekundung zeigt den ganzen Ernst der Aufgabe, durch Schöpfung einer wahrhaften christlichen Kunst mitzuarbeiten an wahrhaft christlicher Erziehung. Gottesjahr 1930, S. 92-99 © Bärenreiter-Verlag zu Kassel (1929) |
© Joachim Januschek Letzte Änderung: 16-01-29 |