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von Carl Happich |
Wenn wir an Erziehung denken, dann stellen wir uns meistens vor, daß jetzt eine Anspannung, eine Anstrengung geleistet werden muß. Das ist zweifellos richtig, wenn es sich um Kinder handelt, die erst einmal lernen müssen ihren Körper und Geist mit Überlegung, mit Einstellung und mit Zielrichtung und Anspannung ihrer Kraft wirken zu lassen. In unserem heutigen europäischen Leben ist es dahin gekommen, daß wir nichts anderes mehr können und tuen als Blickrichtung herzustellen, Ziel zu fixieren und mit gespannten Kräften darauf loszugehen. Wir alle kennen die ungeheure Entwicklung der Technik und die jammervolle seelische Entleerung als die Folge.
Ein erwachsener, geübter, erfahrener, disziplinierter Mensch muß noch nach einer ganz anderen Richtung hin erzogen werden. Als Arzt muß ich so häufig sagen, jeder Mensch tut alles mögliche um sich anzuregen und die allerwenigsten etwas zur Abregung oder zur Entspannung. Alles was wir mit Betriebsamkeit tun, was wir mit gespannten Muskeln, zusammengebissenen Zähnen und hellstem, beweglichem Geist erreichen wollen, all das, was etwa der Lehrer in der Schule, der Unteroffizier von seinen Rekruten oder der kaufmännische Direktor von seinen Angestellten haben will, all dies ist nur äußerste Peripherie des menschlichen Geschehens, es reicht nicht bis in die Tiefe, berührt kaum die Seele. Wenn wir nun wissen, daß diese immerwährende Arbeit an der Peripherie (und Peripherie sind alle Handlungen, auch die scheinbar seelischsten, sowie sie zur automatischen Gewohnheit werden) das seelische Zentrum des Menschen verkümmern läßt, wenn wir wissen, daß der Zugang zum tiefsten Innenmenschen verschüttet wird, dann ist es uns verständlich, daß dieser Mensch unharmonisch, zerrissen, krankhaft werden muß. Der moderne Europäer hat eine Fähigkeit verloren, die in früheren Jahrhunderten in Europa und heute noch bei allen großen Kulturvölkern außerhalb Europas bekannt ist, die Fähigkeit zur Meditation. Erst wenn es uns gelingt alle Gedanken und Gefühle für das äußere periphere Geschehen abzustellen, erst dann können wir den eigentlichen, den innersten Kern unseres Wesens lebendig machen. Es besteht so etwas gedankenlos, und sicher aus einer Unkenntnis herrührend, eine Scheu vor diesem Geschehen. Die einen fürchten, man könne wie ein indischer Büßer diesem Leben absterben und interesselos werden, und die anderen glauben, eine solche Haltung könne zu einem faulen, geistigen Genießertum bringen. Diese beiden Ansichten sind nicht ohne Berechtigung - eine wirkliche Meditation darf nur ausgeübt werden unter der Leitung eines Erfahrenen, am besten nur in gewissen Exerzitienzeiten. Auch dazu wünschen wir uns ein protestantisches Kloster mit Übungswochen. Wem es aber einmal gelungen ist seine technisch rechnende Intelligenz abzustellen und auf das zu lauschen, was - vielleicht zum allerersten Mal in seinem Leben - das Innerste in ihm zu sagen hat, der wird erschüttert sein von der Erkenntnis, wie oberflächlich er bisher gelebt hat. Wir können das äußere Leben nur bemeistern, indem wir es zu ordnen versuchen. Es ist aber sicher, daß jede Ordnung, all diese notwendige Logik, in dem Augenblick, in dem sie ein System aufstellt, das organische Leben bereits getötet hat. Deshalb sagt auch Nietzsche so sehr richtig: „Nur das Chaos kann die Sterne gebären”, womit gemeint ist, daß nur aus dem Urlebendigen, in dem alle Möglichkeiten noch gemischt sind, neues Leben entstehen kann, und solche Bezirke, in denen zum Glück der kurzsichtige Menschenverstand noch nichts nach toten Gesetzen geordnet hat, solche Bezirke mit zeugungsfähigen Kräften hat jeder Mensch in sich verschlossen. Die meisten nur haben sie wirklich in sich verschlossen und finden den Zugang nicht mehr zu ihnen. Alles wirklich Schöpferische, alles Genialische stammt ans diesen Tiefen und wenn wir heute klagen, daß wir keine genialen Menschen mehr hätten, so stammt es zum großen Teil daher, daß wir so verzweifelt viel Ordnung in unser Gehirn gebracht haben, sodaß ihm gar nichts mehr einfällt, sodaß das Seelische, das als treibende Kraft im Hintergrund wirkt, verdorren muß. Dieses Kennenlernen einer Unergründlichkeit in sich selbst ermöglicht aber dem Menschen über die Grenzen seiner endlichen Persönlichkeit hinaus sich bewußt zu werden, nämlich daß es außer ihm und über ihm andere Unendlichkeiten gibt, die verstandesmäßig nicht zu fassen sind. An dieser Stelle setzt auch die Bedeutung der Symbole ein. Ein Symbol, vor allen Dingen das Symbol, das im religiösen Leben in langen Zeiten von vielen Manschen gebraucht wird, ist niemals nur logisch auszudenken und ganz zu begreifen. Man stelle sich nur das Bild der brennenden Kerze auf dem Altar vor, über das man logisch und diskursiv alles mögliche sagen kann, ob sie bedeutet das Gebet der Gemeinde, das des Einzelnen oder des Geistlichen für die Gemeinde oder ob sie selbst ein Symbol für das göttliche Leuchten sei oder was sie sonst noch alles bedeuten könne. Alle diese einzelnen Vorstellungen, die ja doch nur Raumbilder sind, schrumpfen zusammen vor der Erscheinung der Flamme in der Meditation, einer Erscheinung, in der die Seele sich selbst darbringt und geläutert von erdenhaftem Ballast sich verzehren und ausgehen will im Göttlichen. Es ist hier nicht der Ort davon zu reden, wie sehr in der Meditation das Ereignis der Identifikation auftreten kann, welche Erhabenheit und welche Gefahr damit verbunden ist. Es sollte hier nur kurz gezeigt werden, wie sehr wir innere Sammlung, Entspannung und Meditation nötig haben, um von all dem äußeren Gezerre, das wir für Leben halten, abzukommen, um endlich wieder zu lernen, daß wir Gott spüren müssen, nicht nur in dem äußeren Werk unserer Hände, sondern ganz besonders in der Kammer unseres Herzens, die wir in der Hetze des Tages immer verschlossen gehalten haben. Gottesjahr 1930, S. 89-91 © Bärenreiter-Verlag zu Kassel (1929) |
© Joachim Januschek Letzte Änderung: 16-01-29 |