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von Martin Donath |
Durch die Straßen der Vorstadt, dorthin, wo der Weg in die grüne Weite führt, zieht ein Trupp von Jungen. Nicht ein wahlloses Durcheinander, sondern eine geordnete Gruppe. Die Reihen sind gegliedert. Eine einheitliche Tracht, die kniefreie Hose und das gleichfarbige Fahrtenhemd, kennzeichnet äußerlich einen Zusammenhalt. Eine frische, sehnige Gestalt schreitet an der Spitze und trägt den Wimpel, der im Winde weht. Der Wimpel ist das Symbol dieser jungen Menschen. Von ihren Lippen klingt ein jugendfroher, kampfentschlossener Sang und verhallt in der Ferne. Du hast ein Stück der Gemeinschaft „Bund” gesehen. Es ist Nacht. Über die leise rauschenden Tannen breitet die Nacht ihre dunkelblaue, mit silbernen Sternen besetzte Samtdecke. Am Waldrand steht ein Ring von Spitzzelten. In der Mitte des Kreises lodert das Feuer und wirft die gespenstischen Schatten der hingelagerten Zeltgemeinschaft auf die grauen Planen. Einer ist in den Ring getreten und erzählt von den Vorzeiten der Heimat, ihren Märchen und Sagen, ihren Kämpfen und Helden, ihren Nöten und Siegen. Wie geordneter Wille sie formte und irrender Hader sie stürzte. Balladen berichten, Lied kündet Lust und Leid, die Fiedel klagt und jauchzt. Zum Schluß greift Hand in Hand, die Kette ist geschlossen, und der Druck geht wie ein Kraftstrom durch die jungen Erben alter Heimat: Trutz Not und Leid! Die Macht des Bundes ist am Werk. Und ein letztes Bild: Hoch in der Bergeinsamkeit liegt, begraben in tiefem Schnee, die verlassene Sennhütte. Verlassen? Nein. Aufsteigender Rauch verkündet, daß sich Menschen im Innern befinden, und der Klang der Stimmen verrät, daß es Jugend ist, die hier Haus hält. Es fällt den zweien oder dreien nicht leicht, die Schlafstellen zu ordnen und die Mahlzeiten vorzubereiten, während die Schar der Kameraden auf ihren Skiern am Hange übt, durch den stäubenden Schnee ihre Furchen zieht und den Körper durchschult, um gestählt zu sein für die Forderungen des kommenden Berufes und den Kampf des Lebens. Aber sie wissen: ohne ihren Verzicht und ihren Dienst kann die Freude der Gruppe, kann das bündische Leben nicht sein - und morgen hat eine andere Abteilung Hüttendienst. ... Wenn sie sich abends um den Kamin sammeln, in dem die Glut der Holzscheite knistert, wenn unter den bänderdurchflochtenen Weihnachtskränzen und ihrem Kerzenglanz die alten Volkslieder und die neuen Weisen der Jugend ertönen, dann ist auch die äußere Einheit wieder versichtbart. Diese Skizzen sind nötig, um eine erste Einführung in das Wesen des Bundes zu ermöglichen. So sicher man das Leben nicht begreifen kann, indem man seine Teilerscheinungen zusammenzählt, so fest steht auch, daß der Außenstehende eine Erscheinung zuerst bei ihren Symptomen nimmt. Aber von den „Äußerungen” muß man zum „Wesen”, zum inneren Gestaltungsprinzip kommen. Der Bund ist weder eine militärische Jugendorganisation noch ein Beieinander von „Romantikern”, der Bund ist erst recht keine Sportschule. Er ist eine allumfassende jugendliche Erziehungs- und Lebensgemeinschaft . Die Familie genügt ihr nur zum Teil; am besten oft noch dort, wo sie ein von der Zivilisation abgesondertes Dasein führt, auf dem Lande und in den vom Kampf um das tägliche Brot nicht sonderlich belasteten Teilen der städtischen Gesellschaft. Wo aber der Vater vom Morgen bis zum Spätnachmittag in die Berufspflicht eingespannt ist, seine Abende häufig gesellschaftlichen Notwendigkeiten opfern muß und die Mutter teils durch den Haushalt und Standespflichten, teils freilich auch durch eine bedauerliche Waffenstreckung vor dem Zeitgeist von der ernsthaften Erziehung ihrer Kinder ferngehalten wird, da ist die lebendige Inbeziehung-Setzung der Werte zweier Generationen in dem entscheidenden Entwicklungsabschnitt gefährdet, oft gehemmt oder ganz unterbrochen. Nicht der Altersabstand ist das letztlich Entscheidende, sondern dies, daß das Elternhaus im Tempo der Zeit keine Ruhe und Liebe mehr findet, über den Seelen seiner Kinder zu wachen. Zwei kraft Schöpfungsrechtes zugeordnete Größen stehen sich ohne entscheidende Aus- und Rückstrahlungen gegenüber. Schließt die Schule diese Lücke? Ein Ja auf die Frage läßt sich nicht finden, ist auch nach Lage der Dinge von vornherein nicht zu erwarten. Innerlich ist das in der Struktur der Schule als einer Anstalt des Staates begründet. Ihre Aufgabe sieht sie darin, sachliches Wissen zu vermitteln. Ausgeweitet wird dies Ziel allenfalls durch das Streben des Staates, die Lehranstalten mit „seinem Geist” zu erfüllen. Der weltanschaulich unverwurzelte moderne Staat ist gegenüber der Rangordnung der Werte hilflos und damit in der Erfüllung seiner erzieherischen Pflichten gelähmt. Er dient der Schulung des Verstandes. Wo er ernsthaft organische Erziehung versucht, stößt er an die Gerüste, die er für den eigenen Bestand gezimmert hat. Und zu dieser entscheidenden inneren Hilflosigkeit tritt eine technische Schwäche: Selbst wenn die Wertordnung bejaht wird - wäre die lebendige Inbeziehung-Setzung möglich? Es ist ein weiter Schritt von der „Belehrung” zur „Bildung”. Zwischen Beamtengeist und erzieherischer Sendung können Welten liegen, und auch bei Lehrer und Schüler bleibt in hohem Trade die Spannung zwischen jung und alt. Die Schule schließt die Lücke nicht. Der seelische Vorgang im Bunde läßt sich durch die Form einer Pyramide verbildlichen. Die unteren Quaderschichten, in großer Länge und Breite, sind unlösbar mit dem tragenden Grund der Erde verbunden; aber von Meter zu Meter verengt sich der Bau nach oben und läuft in schmaler Spitze aus. Noch ruht die Spitze auf dem Ganzen, aber wie leicht wirkt sie im Verhältnis zur Basis, wie ist sie schon auf allen Seiten von freier Luft umweht, wie scheint sie dem Himmel näher als der Erde! So steigt der Bund von Stufe zu Stufe zur Spitze der Freiheit empor. In den jüngeren Jahrgängen herrscht noch ausschließlich die Geltung des Führers, ohne jedoch ins Militärische abzugleiten. Pfadfinderfertigkeifen, Geländespiel, Sport füllen das Leben; Legenden und Sagen von Gehorsam, Treue, Heldentum, Not und Sieg find Ansporn zur Leistung. Der Fahrtenbetrieb und sein Zubehör bindet und schult. Für die mittleren und älteren Schichten gibt die Einsicht des Führers auf der Fahrt, bei Heim- und Nestabenden, im Zeltlager oder beim großen Treffen des Bundes schon größere Selbständigkeiten und Verantwortungen: Küchendienst, Lagerwache, Arbeitshilfe, Sorge für Schwächere und Jüngere. Abende beim Volkslied, Fahrtenberichte, Vertiefung in Art und Geschichte der Heimat führen innerlich weiter. Neben der Freude an der Schulung des Körpers erwacht der Trieb zum eigenen Schaffen, zur Stellungnahme, zur Eroberung der Welt. Der Vorrang des Führers tritt allmählich zurück, er ist nur mehr primus inter pares. Die Welt ist bunt, groß, geheimnisvoll, aber der Instinkt, geleitet von den unverfälschten Kräften der Natur und genährt ans den Wurzeln der Heimat, bewahrt vor einem falschen Sichverlieren. Oft liegt alle Entscheidung in der geistigen Reife des älteren Kameraden und Freundes. Vom Schauen und Fühlen geht es zum Erheben ins Bewußtsein und zum Willen, zu gestalten. Die großen Fragen des Volkes, dessen Herzschlag man auf der Fahrt verspürt, die Entscheidung über den Lebensberuf, die getroffen werden muß, die Wirklichkeit Geschlechtstrieb, über die man Herr zu bleiben hat, rücken entscheidend in das persönliche Blick- und Kraftfeld. Und doch wird das Handeln auch in den obersten Lagen des Bundes durch den Arbeitskreis und den Rat der Freunde geklärt und wäre andererseits wieder undenkbar ohne Auswirkung dessen, was der Bund in seinen unteren Schichten bedeutet hat. Schon der bündische Kreis des einzelnen Ortes, gefügt aus den verschiedenaltrigen Gruppen, zeigt diese Überkreuzungen. Sie erfahren eine Verstärkung durch das Ineinandergreifen der Glieder des großen Bundes. Aus Kreisen, Gauen, Landesverbänden baut sich, wiederum einer Pyramide vergleichbar, der Bund hinauf bis zu seiner höchsten Spitze, dem Führer. Pflichten und Rechte sind organisch verteilt; die Leistung und die geistige Vollmacht entscheiden. Der Bund der Jugend ist ein Staat im Kleinen. Nur darf man ihn nicht als spielerische Nachahmung des konkreten Staates werten. Er ist nicht Konstruktion, sondern gewachsene Lebensform, quellendes Ja zum jungen, jauchzenden Leben. Auf Treffen, Gautagen, Festen und im Bundeslager greifen die Lebensbeziehungen ineinander über; der Wettkampf, das Spiel, der Tanz, praktische Übung, Besinnung, Beratung, Entschlußfassung, Feier und Andacht - sie alle haben Recht und Stätte im Leben des Bundes. Er ist nicht zweckgefesselt, aber auch nicht ziellos verschäumend; er ist besinntes, sinnvolles, buntes, reiches Leben. Es ist klar, daß dem das Ganze erfassenden Bunde auch religiöse Möglichkeiten zu eigen sind. Wenn Religion Rückverknüpfung heißt und die bündische Jugend die Rückverbindung zur Natur, zu ihren Kräften und Gesetzen gefunden hat, so wäre es verwunderlich, wenn nicht auch zumindest ein Ahnen um die Geheimnisse dieser Welt in ihr wäre. Wenn der Bach murmelt und die Tannen im Nachtwinde rauschen, wenn die schwermütige Heide schlafen geht oder die Sonne ihr letztes Rot über den weißen Alpenzinnen verblutet, brechen verborgene Quellen der Seele auf. „Dir wächst dein Herz noch bei der Wälder Sausen, dich rühren noch die wilden Riesenworte ...” Das Lied träumt und fragt, klagt und verheißt; die Geige formt Bogen und Brücken; die Musik führt zu den verborgenen Mächten der Kunst. Seele findet sich zu Seele im Gleichklang der Herzen. Freundschaft und Gefolgschaft, Trotz und Treue, Unbedingtheiten brechen auf. So ist der Bund in der vollen Schwingung des Lebens die Einfallpforte metaphysischer Grundmächte. Bei einer Jugend, deren wesentliche Leistung die Herausstellung einer Entsprechung von Inhalt und Form ist, muß auch die metaphysische Empfindung nach angemessenen Formen tasten. Die Frühlingsfeier, die Flammen des Sonnenwendfeuers, das Rosenfest, der Adventskranz im Landheim, die brennenden Kerzen der Christnacht im verschneiten Walde, das Erwarten des neuen Jahres auf freier Bergeshöhe bezeichnen neue, angemessene Formen, zu denen bündisches Jungvolk hindurchfand. Sankt Hubertus, der Jäger, Sankt Georg, der weiße Ritter, Christopherus, der Träger des Christusknaben, sind Namen von symbolischer Kraft. Wölfinge nennen sich die Jüngsten nach der unbedingten Gefolgschaft der treuesten Goten, Knappen die Mittleren nach ihrer Schulung zum Dienst, Ritter die Träger der Verantwortung. Feierlich ist nicht selten der Verspruch zum Gehorsam, das Gelöbnis zum Dienst. Die Jugend der farbenfrohen Kleider und der bunten Wimpel ist die Verkörperung eines ungetrübten Formsinnes, sie ist gleichzeitig die Verheißung neuer kultischer Möglichkeiten. Daß nur die Pyramide zur Höhe steigt! Man hat die Frage nach dem Verhältnis des Bundes zur christlichen Gemeinde gestellt. Der Bund ist eine jugendgemäße Lebensgemeinschaft, während die Gemeinde keine geschlechts- und altersmäßige Einengung verträgt, sondern ihren Anspruch an die ganze Weite des Lebens stellt. Bund und Gemeinde stehen daher in Spannung, aber keinesfalls in einem sich ausschließenden Gegensatz. Im Bunde vermag sich sehr wohl ein Stück Gemeinde, „junge Gemeinde” als Glied eines größeren Ganzen, zu versichtbaren. Aber doch eben nur ein Stück! Eine Brücke, über die der Weg weiter führt, eine Stufe, auf der man emporschreitet. Nichts Letztes, bei dem man verharren dürfte! Es wird ein entscheidungsvoller Prüfstein sein, ob der bündische Mensch in sektenhafter Enge enden oder das Ja zur Gemeinde und den Willen zur Kirche finden wird. Wir können nur wünschen und daran arbeiten, daß die Verheißungen des Bundes zur Wirklichkeit reifen. Alle wahre Erfüllung aber ist Geschenk. Gottesjahr 1930, S. 83-89 © Bärenreiter-Verlag zu Kassel (1929) |
© Joachim Januschek Letzte Änderung: 16-01-29 |