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von Johannes Iversen |
Wie groß einmal die Sitte als erziehende Macht gewesen ist, das können wir heutigen Manschen nur ahnen. Wir müssen uns schon in vergangene Zeiten zurückversetzen, um das zu erkennen. Aber dann steht vor uns ein Bild des Menschen- und Volkslebens, das durch die Sitte als erziehende Macht geformt ist. Drei Züge hat im Wesentlichen dies Bild vergangener Sitte. Sitte tritt uns zunächst entgegen als Form gewordene Weisheit der Väter, die in dieser Form jahrhundertelange Erfahrung den Söhnen und Enkeln überlieferte, dem einzelnen in wichtigen Lebensstunden die Entscheidung erleichternd und ihn vor Um- und Abwegen bewahrend. Das Brautpaar aß nach der Trauung gemeinsam einen Teller Suppe. Welch eine erziehende Macht in dieser Sitte, die von einem Geschlecht geschaffen ist, das noch wußte, daß zwei Menschen nichts mehr verbindet als das gemeinsame Mahl. Von dieser Sitte führt ein direkter Weg zum gemeinsamen Abendmahlsgang des ganzen Hauses. Wie armselig ist daneben eine moderne Trauung mit anschließendem Frühstück im Hotel! Oder ein anderes Beispiel. Nach der Hochzeit wurde dem jungen Paare als Erstes ein Brot, ein Besen und eine Bibel ins Haus getragen. In dieser Sitte steckt mehr Weisheit und Erziehung als in allen modernen Ehebüchern zusammen. Denn so wurde jedem jungen Paare in einem unvergeßlichen Bilde aufs neue verkündigt, daß Ernährung, Ordnung und Gottesfurcht die drei Grundlagen des häuslichen Glückes sind, und daß sie zu erhalten ihre erste und vornehmste Aufgabe sei. Die Zeit, in der solche Sitte lebendig war, kannte keine Ehescheidung! Endlich ein Drittes, das zeigt, wie die Sitte in einer einzigen Handlung erzieherisch das ganze Menschenleben umfassen konnte. Man pflanzte bei der Geburt eines Kindes einen Baum. Warum? Weil der junge Baum ein Bild und Ausdruck des neugepflanzten Menschenlebens ist und weil gleichsam das ganze Menschenleben in Werden und Wachsen, in Kampf mit Wind und Wetter, im Blühen und Fruchtkragen, in Erdverwurzelung und Himmelssehnsucht durch nichts eindringlicher abgebildet ist als durch einen Baum. Welch eine Ehrfurcht vor dem Leben spricht aus dieser Sitte! Ihre Ablösung durch das, was wir Sittenlosigkeit nennen, wird durch nichts deutlicher als durch die Tatsache, daß heute Vernichtung des keimenden Lebens bei unserem Volke im Schwange ist. Die zweite erzieherische Bedeutung der Sitte lag in der Gestaltung des Jahreslaufs durch sie. Sie gab Fest und Feier des Volkes Form und Gestalt und wirkte dadurch als erziehende Macht. Wir können uns nur schwer ein Bild machen von der Farbenpracht dieser Zeit, die den Winter mit Hallo vertrieb und den Frühling mit Tanz und Reigen grüßte, die im Winter die Dorfjugend in der Spinnstube zur Gemeinschaft verband und die heiligen drei Könige leibhaft durchs Dorf schickte. Es war eine Zeit, in der es willkürliche Feste und Feiern nicht gab, sondern alles hatte Sinn und Form. Und alles, was Sinn und Form hat, ist zugleich eine erziehende Macht im höchsten Sinn. Bei uns ist Volkserziehung darum fast unmöglich geworden, weil nichts mehr Form und Sinn hat. So kann es keinem Zweifel unterliegen, daß Sitte eine erziehende Macht allerersten Ranges ist und daß sie kaum durch etwas anderes ersetzt werden kann. Wenn die Zerstörung alter Sitte durch die große Massenmörderin, die Zivilisation, so weitergeht wie bisher, dann ist die Zeit abzusehen, wo das deutsche Volk seine Eigenart verloren und begraben haben wird. Dann wird die große Angleichung von Ost bis West alle gleich machen. Wir werden alle dasselbe Gesicht, dasselbe Lächeln, dasselbe Benehmen, dieselbe Kleidung, dieselben Gewohnheiten haben von New York bis Peking. Aber das wird nicht ein Fortschritt sein, sondern das Ende. Aus dieser Lage erwächst das Bemühen, Sitte als erziehende Macht wiederzugestalten. Dabei aber müssen wir über zwei Dinge Klarheit haben. Sitte ist Form gewordene Innerlichkeit, wurzelt in einem letzten Denken, in einer letzten Lebensschau. Sitte wurzelt in einer Lebensschau, die den tragenden Grund des Lebens in der Bindung sieht, im Zusammenhang der Geschlechter, in der Gliedhaftigkeit der Lebenskette. Sitte begann sich aufzulösen, als die Aufklärung über unser Volk kam, die Jenseitigkeit als Hintergrund des Lebens versank und die Diesseitigkeit heraufzog. Nun kam die Zeit, wo ein jeder von sich aus dachte, von sich aus lebte, von sich aus handelte. Der Satz: „Der Mensch ist das Maß aller Dinge”, der losgelöste, abgesplitterte Mensch, hat die Sitte aufgelöst. Solange dieser Satz noch das Leben des Einzelnen und des Volkes beherrscht, kann keine Sitte sich gestalten. Darum müssen wir darüber klar sein: Sitte als erziehende Macht kommt nur wieder auf dem innersten Wege, auf dem Wege der Umkehr, der Buße, der Bekehrung. Sie kann nur ausgehen von Menschen, die im Feuer dieser Zeit ihr Ich haben verbrennen lassen, die etwas davon wissen, daß man sein Leben nur findet, indem man es verliert, sein Ich nur gewinnt, indem man es dem Ganzen zum Opfer bringt. Die große Reihe: Vater, Sohn und Enkel muß erst wieder als etwas Heiliges vor uns stehen und darüber das Volk als die große Gliedschaft, in die Gott der Herr uns hineingestellt hat. Dann erst wirds möglich sein, daß neue Sitte wird. Vor jeder neuen Sitte steht die Verheißung: „Ich will Mein Gesetz in ihr Herz geben und in ihren Sinn schreiben; und sie sollen Mein Volk sein, so will Ich ihr Gott sein.” Menschen aber, die in der Gläubigkeit an diese Verheißung stehen, werden nicht warten, bis sie sich irgendwann einmal erfüllt, sondern werden anfangen, im Glauben an sie Sitte als erziehende Macht wieder zu gestalten. Drei Möglichkeiten stehen ihnen dabei offen. Die erste Möglichkeit ist die der Selbsterziehung durch Sitte. Welch eine Befreiung bringt für jeden in die Willkür des heutigen Lebens Eingespannten die selbstgewollte Beugung unter eine Sitte. Wie geregelt wird unser Innenleben, wenn es nicht mehr abhängig ist von irgend einer zufälligen Erbauung, sondern sich nährt vom Wochenspruch und vom Gebet der Tageszeiten und der Bibellese unsres Kreises. Wie wird man unabhängig von Stimmung und Jnteressantheit der Predigt, wenn man den Besuch des Gottesdienstes wieder empfindet als Opfergang mit dem Volk und für das Volk, als Sitte im tiefsten und heiligsten Sinn. Welch ein Kraftzuwachs, wenn man es sich in der Hetze des Winters selbst zum Gesetz macht, wenigstens einen Abend in der Woche zum Familienabend zu machen, wo gelesen, gespielt und gesungen wird. Da muß Sitte wieder anfangen: in der freiwilligen Bindung an alte und neue Ordnung, in der Durchbrechung der Willkür durch Selbsterziehung. Der dritte Kreis, in dem Sitte als Erziehungsmacht wieder Boden gewinnen kann, geht über den Einzelnen und das Haus hinaus und schließt all die Menschen zusammen, die von den verschiedensten Stellen aus volkserzieherische Arbeit leisten oder mit ihrem Leben sich wieder eingliedern in das Ganze des Volkes. Hier ist alles noch Werden und Kampf. Aber dieser Kampf steht unter der Verheißung, daß neue Sitte und Zucht nie durch Massenbewegungen entstanden sind, sondern durch den entschlossenen Mut und die beharrliche Treue einzelner Pioniere. So allein ist es möglich gewesen, daß nach der verrohenden Verwüstung des dreißigjährigen Krieges wieder Sitte und Zucht aufblühten. So allein wird auch aus dem Chaos dieser Zeit wieder Sitte als erziehende Macht entstehen. Es gibt Jugend in allen Lagern, die sich sehnt nach Sitte und Symbol, um daran zu erstarken und ihr Leben emporzuranken. Sie will nicht mehr die Willkür, sie will Sitte als erziehende Macht. Sie will keine Horde und kein ungezügelter Haufen mehr sein, sondern eine Schar oder ein Bund oder ein Orden oder eine Gruppe. Sie will feste Ordnung für ihr Leben, sie will Symbole, die verpflichten, sie will schweigend am Feuer stehen, sie will Zeltlager, die unter Gehorsam und straffer Zucht stehen, sie will Feste, die einen inneren Sinn und eine Ordnung des Geistes haben, sie trägt Sitte ins Dorf hinein und lebt mitten im Chaos der Städte, getragen von der Sitte, ihr Leben. Sie übt und stählt ihren Leib in Turnen, Sport und Spiel. Sie wird aber auch wieder den Gedanken der Zucht als eines Edeltums, einer wahren Freiheit dem Herzen des Volkes einprägen. Sie wird uns wieder vor Augen führen, daß nur das Volk sich selbst gestaltet, das sich in Zucht nimmt, und sich nach seinem eigenen inneren Bilde formt. Ob und wann einmal dieser dritte Kreis die Kraft haben wird, ins Ganze des Volkes durchzustoßen, steht dahin. Hier ist menschliches Denken und menschliches Wollen am Ende. Hier hilft zuletzt nur die Hilfe und die erziehende Macht dessen, der uns jetzt durch die Not in Zucht nimmt, damit wir wieder Zucht lernen. Durch ihn und seine Erziehung allein kann auch an uns sich das alte Wort erfüllen: Wie die Erze vom Hammer Quatember 1930, S. 78-83 © Bärenreiter-Verlag zu Kassel (1929) |
© Joachim Januschek Letzte Änderung: 16-01-29 |