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Kultus und Erziehung
von Karl Bernhard Ritter

LeerIm Blick darauf, wie der weitaus überwiegende Teil der evangelischen Pfarrer und ihrer Gemeinden heute noch über Sinn und Bedeutung des Kultus urteilen, könnte man sich versucht fühlen, jede Beziehung zwischen Kultus und Erziehung abzustreiten. Denn es kann kein Zweifel darüber bestehen, daß in der evangelischen Kirche das Wissen um echten Kultus nicht zuletzt darum so erschreckend fehlt, weil man den Kultus fast ausschließlich im Zusammenhang mit seiner erziehlichen Bedeutung gesehen und gewertet hat. Ja, man muß eingestehen, daß der Kultus in seinem wesentlichen Charakter durch diese Beziehung verfälscht worden ist. Der Gottesdienst wird zu einem Mittel moralischer Belehrung und religiöser Erziehung herabgesetzt. Sein Zweck liegt nicht in ihm selbst. Er ist also gar kein Gottesdienst mehr, als solcher wird er jedenfalls nicht ernst genommen. Was Wunder, daß es immer mehr Menschen zweifelhaft wird, ob sie sich dieser pädagogischen Veranstaltung aussetzen sollen. Man sucht allenfalls im Gottesdienst die bedeutende religiöse Persönlichkeit, durch die man sich erbauen lassen möchte. Aber Kultus ist das alles nicht. Nichts kennzeichnet diese Kultuslosigkeit der evangelischen Kirche in der Gegenwart so unzweideutig wie die Stellung, die dem Abendmahl, dem Herz- und Kernstück alles christlichen Kultus in ihr angewiesen ist. Auch dort, wo die Feier des Sakraments noch nicht zum völligen Winkeldasein verurteilt ist, ist sie gegenüber der Beichtermahnung zusammengeschrumpft, die als ein Versuch zu sittlicher Einwirkung auf die Gemeindeglieder in diesem System pädagogischer Veranstaltungen viel eher eine Würdigung findet als das Sakrament selbst.

LeerEs muß darum zunächst mit aller Schärfe ausgesprochen werden, daß Kultus überhaupt erst unter Menschen möglich wird, die jede pädagogische Absicht, jedes Zielen auf eine irgendwie geartete z. B. eine erziehliche Wirkung hinter sich gelassen haben, weil sie ganz und ausschließlich der Wirklichkeit Gottes zugewandt sind. Sie sind in ihrer ganzen Haltung nach Leib, Seele und Geist dadurch bestimmt, baß sie sich von Gott angerufen wissen und zu hören bereit sind. Das Gebet: „Rede, Herr, Dein Knecht höret” steht am Anfang alles kultischen Handelns. Wo dies Gebet aber ernstlich ist, da bedeutet es Sammlung aller Kräfte der Seele und des Gemütes auf die Gegenwart dessen, der verheißen hat: „Wo zwei ober drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen.” Alles, was im Kultus geschieht, alle seine Formen, alle Worte, die in ihm gesprochen werden, können und wollen darum nichts anderes fein als Hinweis auf diese Gegenwart. Der ganze Kultus ist ein einziger Ausdruck dafür, baß wir in dieser Gegenwart leben.

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LeerAber gerade dieser echte Kultus ist nun ganz selbstverständlich von der größten Bedeutung für alle Erziehung. Die innerste Not der Erzieher in der Gegenwart ist doch, baß sie erziehen sollen in einer Welt, der die letzte Ausrichtung des Lebens fehlt. Innerhalb einer Welt nur relativer Werte und Gültigkeiten ist aber wirkliche Erziehung gar nicht möglich. Es bedeutet darum für den Erzieher eine ungeheuerliche Überforderung, daß er, was dem wirklichen Leben fehlt, gleichsam von der Pädagogik her erschaffen muß. Dabei kommt dann unvermeidlich jene fatale, durch den pädagogischen Zweck bestimmte Summe von Idealen und Grundsätzen heraus, die früher oder später in ihrer Ungültigkeit von dem Zögling durchschaut wird. Dem gegenüber entsinnt sich jeder von uns mit tiefer Dankbarkeit der Augenblicke, in denen eine Erzieherpersönlichkeit jenseits aller Absichten aus der Ergriffenheit durch die Sache selbst zu uns gesprochen oder gehandelt hat. Das aber ist ein Erlebnis, das dem des echten Kultus nahe kommt. Denn in ihm ist alles Ausdruck einer zweckfreien Hinwendung zur Sache selbst, die eine Sammlung aller unserer Sinne und Gedanken, unsern innersten Gehorsam, unser gesamtes Dasein in Anspruch nimmt. Im Kultus ist eine, alle Lebensäußerungen umfassende, gültige Ausrichtung unseres Daseins anschaulich, in die wir hineingezogen werden, einfach deshalb, weil sie durch ihr Sosein überzeugt.

LeerDem gegenüber erstickt unser Leben heute im zweckhaften Betrieb, in einem rastlosen Wirkenmüssen und Wirkenwollen. Der Mensch ist in unserer Zeit zu einem Willensmotor geworden, der unablässig das Schwungrad des Daseins in Umlauf erhalten muß. Dieser Zustand bedeutet aber für alles wesentliche, ans der Tiefe wachsende Leben den sicheren Tod. Es ist, als ob wir alle miteinander in einem dahinrasenden Zuge sässen, dessen donnernde Bewegung nicht zur Besinnung kommen läßt. Keiner hat Zeit auszusteigen. Die Bewegung des Zuges sollte uns fördern, aber wir sind längst Gefangene dieser Bewegung geworben. Unser der Zweckhaftigkeit verfallenes Leben ist der äußerste Gegenpol aller kultischen Haltung.

LeerDie Menschen der Gegenwart verkümmern in ihrem inneren Leben auch darum, weil sie zu der Wirklichkeit gemeinhin nur ein intellektuelles Verhältnis besitzen. Man weiß von allem, man hat die ganze Natur und die Kulturen aller Zeiten und Völker durchforscht. Man wähnt, Bildung durch Kenntnisnahme erwerben zu können. Aber alles, was ich bloß weiß, womit ich allenfalls logisch denkend oder technisch handelnd umzugehen vermag, bleibt ja in Wahrheit ein Draußen. Es geht nicht in mein Leben ein. Wiederum wird die Wirklichkeit, weil sie bloß Gegenstand der Kenntnisnahme ist, weil sich keine Hingabe an ihren Gehalt vollzieht, gar nicht in ihrer Tiefe erfahren. Es offenbart sich uns nichts, wir wissen bloß um alles. Daher stammt die erschütternde Hilflosigkeit dem wirklichen Leben gegenüber. Diese ganze Ebene der Beziehung des Menschen zur Wirklichkeit wird im Kultus grundsätzlich überwunden. Denn in ihm geht es gerade nicht um einen Gegenstand unserer Einsicht oder unseres Handelns, sondern um die Wirklichkeit, die nur so zur Erfahrung kommt, daß sie sich in uns selber erschließen darf, daß sie nicht draußen bleibt. Im Kultus ist darum die Hingabe an diese Wirklichkeit gefordert, ein innerster Gehorsam, ohne den der Kultus leer und sinnlos bleibt. So kann vom Kultus her eine völlig neue Haltung gegenüber aller Wirklichkeit, eine wesentliche Haltung gefunden und der Mensch von dem Zustand erlöst werden, in dem er nie von der wesentlichen Wirklichkeit getroffen wird, weil er nie zu sich selbst kommt.

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LeerDer Kultus ist keine Veranstaltung vom Menschen her. Er schafft nicht eine Ordnung, die wir unserm Leben willkürlich aufprägen. Kultus entsteht dort, wo Menschen sich gehorsam hineinstellen in die von Gott gegebene Ordnung, wo sie hören auf das Wort, das von Gott her laut wird, wo sie sich von dem göttlichen Geschehen führen lassen, das in Christus für uns offenbar geworden ist. Von ihm her erschließt sich die geheime und tiefe Ordnung der Zeiten und Räume des gesamten Daseins vom Leiblichen bis ins Geistige. Es sei beispielhaft an den Gang des Kirchenjahres und den mit ihm unlösbar verbundenen Wandel des Naturjahres erinnert. So ist der Kultus der große Erzieher zur „vernünftigen”, das heißt gehorsamen Ordnung des menschlichen Lebens. Freilich, was wir heute an kultischer Gestaltung in der evangelischen Kirche vor uns sehen, ist zumeist ein willkürliches, aus intellektuellen Erwägungen pädagogischer oder anderer Art hervorgehendes Machen und versagt darum vor dieser Aufgabe.

LeerDer Kultus ist schließlich der notwendige Ausdruck jeder echten Gemeinschaft. Gemeinschaft drängt zu gemeinsamen Lebensformen. Ohne diesen gemeinsamen Ausdruck gleichgerichteten Lebens bleibt der Einzelne auf sich selbst angewiesen, und diese Überforderung an seine individuelle Gestaltungskraft rächt sich empfindlich, wie die Auflösungserscheinungen der Gegenwart hinlänglich beweisen. Die Verbindung zwischen den Einzelnen bleibt darauf beschränkt, daß man sich gegenseitig in Anspruch nimmt und das heißt, daß man sich nur zu oft im Wesentlichen des Lebens gegenseitig stört. Die Gemeinschaft, in der die Einzelnen durch ihr Verbundensein zu sich selber befreit werden, ist nur dort zu finden, wo wir gemeinsam ausgerichtet sind auf den, der jenseits aller unserer menschlichen Beziehungen uns unbedingt fordert und an sich bindet und eben darin befreit. Der anschauliche Ausdruck aber für diese Bindung und Befreiung in einem ist der Kultus.

LeerEchter Kultus umfaßt den ganzen Menschen nach Leib, Seele und Geist. Darum hat er gegenüber der bedrohlichen Spiritualisierung des Lebens eine erziehliche Bedeutung von höchster Wichtigkeit. Wir erleben heute den Zusammenbruch des Versuches, den Menschen als Persönlichkeit so gut wie ausschließlich auf einer zentralen geistigen Willensanspannung aufzubauen. Dabei bleibt der leiblich-seelische Unterbau des Lebens sich selber überlassen. Die vitalen Kräfte werden verdrängt und rächen sich in Ausbrüchen aus der nur aufgezwungenen Gesamthaltung oder gar in schweren seelischen Erkrankungen. Dieser Überlastung des persönlichen Willenszentrums macht man sich auch dort schuldig, wo der Gottesdienst völlig auf den Appell an das moralische Bewußtsein gestellt wird. Echter Kultus dagegen wirkt auch auf die seelischen und leiblichen Tiefen des Lebens bildend und befreiend ein. Er sammelt das ganze Dasein des Menschen im Angesichte der letzten Wirklichkeit. Er erweckt es und befreit es in dieser Sammlung und wird ihm so zu einer Quelle wahrer Befriedung.

LeerDas Letzte kann hier nur angedeutet werden. Das Zentrum des christlichen Kultus ist die Feier des heiligen Abendmahls. Hier werden die Kräfte des Ewigen unmittelbar in das Irdische verflößt. Gott selbst, in Christus Fleisch geworden, teilt sein Leben in der Gestalt irdischer Elemente aus. Welche wesentliche, ja entscheidende Bedeutung darum die regelmäßige Anteilnahme an der Feier des Sakramentes für die Erneuerung und Umgestaltung des ganzen Menschenwesens haben kann, mag nur angedeutet werden. Warum wir in der Gegenwart der evangelischen Kirche von diesen Kräften so gut wie gar nichts wissen, braucht nicht weiter dargelegt zu werden. Hier mündet die Frage nach der Erziehung des Menschen in die Frage nach seiner Erlösung. Hier wird sich darum entscheiden, ob die evangelische Kirche wirklich zur Kirche werden will, zu einer Gemeinschaft, die mehr ist als jede Erziehungsgemeinschaft, Und diese Entscheidung liegt nicht bei uns Menschen.

Gottesjahr 1930, S. 61-64
© Bärenreiter-Verlag zu Kassel (1929)

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 16-01-29
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