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von Wilhelm Stählin |
Den Gegensatz der Generationen, den Gegensatz zwischen Jungen und Alten, hat jede Zeit in ihrer Weise erlebt und in ihrer besonderen Weise unter ihm gelitten. In Zeiten ruhiger Entwicklung suchen die jungen Menschen wohl auch nach ihrem eigenen Gesetz und nach neuen Formen des Lebens; aber sie treten dann doch in die Fußstapfen ihrer Väter und biegen nach den notwendigen Umwegen und Irrwegen in die große Heerstraße ein. Aber in Zeiten der Erschütterung und Verwirrung treten die Alten und die Jungen in schärferem Gegensatz auseinander, reden eine verschiedene Sprache und erleben ihr Schicksal selbst in verschiedener Weise. In dem schmerzlichen oder nicht einmal als schmerzlich empfundenen Zwiespalt zwischen Jungen und Alten findet dann der Bruch der Zeiten seinen sinnbildlichen Ausdruck. Aber hier soll nun gerade nicht von diesem so oft verhandelten Thema die Rede sein. Das Wort Alter ist ganz streng und eigentlich gemeint: Die Zeit des Altwerdens, der Abend des Lebens, wenn das irdische Tagwerk sich seinem Ende zuneigt, wenn die Kraft des Leibes und oft auch der Seele erlahmt, wenn ein jedes neue Lebensjahr ein unerwartetes Geschenk, manchmal auch eine unerwünschte Last ist. Und wir fragen uns, was dieses „Alter”, das Greisenalter, mit der Jugend zu tun hat. Wir reden von der Jugend, nicht von der Kindheit. Das Kind ist sozusagen noch nicht völlig in dieses Erdenleben eingetreten. Es muß in seinen ersten Lebensjahren erst lernen, seine Glieder zum Stehen und Gehen auf dieser Erde zu gebrauchen und sich mit Sinn und Verstand in diesem Leben zurecht zu finden. Aber der Ernst der „Wirklichkeit” ist ihm noch fremd. Der unerbittliche Zusammenhang von Ursache und Wirkung vermischt sich ihm noch mit Märchenbildern des Wunsches und der Phantasie. Ernst und Spiel, Beobachtung und Phantasie sind ineinander verflochten. Aber das, was vom Standpunkt des reifen Menschen ans gesehen ein „noch nicht” ist, ist zugleich ein „noch”; noch lebt das Kind ahnungsvoll in einer Welt des Geheimnisses, aus der es stammt. Karl Thylmann hat in dem wundervollen Gedicht, das er vom Feld aus seinem Kinde „Andreas dem Säugling” gewidmet hat, dieses Geheimnis besungen. Du schläfst, aber hörst mich.Und noch viel wundersamer redet unser Meister von diesem heiligen „Noch” der Kinder: „Ihre Engel im Himmel sehen allezeit das Angesicht meines Vaters” (Matth. 18, 10). Ganz anders ist die Lage der Jugend und ihre Stellung in der Welt. In dem jungen Menschen ist die kindliche Einheit zerbrochen; in erschütternder Zwiespältigkeit treten Leib und Seele, Verstand und Gefühl, Phantasie und Wille auseinander. Durch die Stürme dieser Zerrissenheit hindurch muß die Einheit eines menschlichen Ich neu errungen werden. Aber ebenso ist die selbstverständliche Einordnung, mit der das Kind in seine menschliche Umwelt eingefügt war, zerstört. Mit Interesse, Wissensdurst und Abenteuerdrang wendet sich der junge Mensch dem Leben zu, das sich vor ihm eröffnet, und flieht doch auch immer wieder aus der Berührung mit der Wirklichkeit des Lebens in seine Ideale oder verschließt sich in das eigene Innenleben. Das Ich ist Grenze, Abstand und Widerstand gegen das Andere und doch wird dieses Ich oft in stürmischer Leidenschaft zu dem Du des andern Menschen, des andern Geschlechts gerissen, in dem der junge Mensch zum ersten Mal die Begegnung als die Urform des menschlichen Lebens erfährt. Ganz anders ist die Lage des Menschen im Alter; aber sie berührt sich mit der Lage des jungen Menschen durch den gemeinsamen Gegensatz zu der Stufe der Reife, zu der eigentlichen Höhe und Mitte des Lebens. Hier ist der Mensch gebunden und verstrickt in menschliche Beziehungen und sachliche Aufgaben; er weiß sich verpflichtet zu dem Dienst in der konkreten, menschlichen, wirtschaftlichen, politischen Welt. Aber der alte Mensch löst sich wieder aus dieser Verstrickung, die sachlichen Aufgaben treten zurück und müssen zurücktreten, weil die Kraft des Gedächtnisses, der Beobachtung und des Willens schwächer wird. Die Vielzahl menschlicher Beziehungen vermindert sich und ganz Wenige sind es noch, mit denen der alt gewordene Mensch in enger Verbindung steht. Neue Bande werden kaum mehr angeknüpft. Auch mitten zwischen den vertranken Gesichtern und Stimmen legt sich die feierliche Ruhe einer tiefen Einsamkeit um den Greis. Die Nachbarschaft des Todes macht den Wert jeder irdischen Leistungsfähigkeit fragwürdig; die Maßstäbe verschieben sich, weniges bleibt vor der Pforte des Todes wirklich wichtig und bedeutsam. - Darum haben notwendigerweise immer die Zeiten und die menschlichen Kreise, die in einem echten lebendigen Jenseitsbewußtsein daheim waren, das Alter geehrt; und es kann umgekehrt, da wo in dem Leben die sachliche Tüchtigkeit und Leistung über alles gehoben wird, der müde und arbeitsunfähig gewordene Greis nur noch als Menschenruine mehr oder weniger willig ertragen werden. Welch peinlicher Widersinn, daß wir eben heute, wo wir, aufs Ganze gesehen, doch noch in einer völlig diesseitigen, rein zweckhaften Wertung des Menschenlebens stecken, eine so starke Vergreisung unseres Volkes erleben! Wenn Jugend und Alter einander begegnen, so kann diese Begegnung für beide fruchtbar sein. Immer haben alte Menschen sich in einer besonderen Weise verbunden gefühlt mit dem jungen Geschlecht, das berufen ist, in dieses Leben hineinzuschreiten, das der Greis sich anschickt, zu verlassen. Und umgekehrt, der junge Mensch sieht den Greis, der das Leben, das jener erst leben will, vollbracht hat und nun am Ende des Weges steht. In der Weisheit des Alters, die mehr ist als Lebensklugheit, in jener Weisheit, wie sie nur in der Nähe des Todes reift, ahnt der junge Mensch, der den Greis so zu sehen vermag, eine Antwort auf die eigene Frage nach dem Sinn seines Daseins. Darin wurzelt die Bedeutung des Alters für die Erziehung der Jugend. Es ist zunächst etwas Äußerliches. Der alte Mensch hat Zeit; er ist nicht mehr gejagt und gehetzt in dem Frondienst irdischer Arbeit; er ist nicht mehr, wie der Mensch in der Vollkraft der Jahre, durch die Mauer seiner Vielgeschäftigkeit von dem Kinde und dem jungen Menschen abgesperrt. Nicht nur Kinder, sondern auch junge Menschen empfangen ein tiefes Glück, wenn sie eine Großmutter haben, die Zeit für sie hat und diese Zeit ihnen gönnt. - Erwachsene Menschen erregen als Erzieher und Führer der Jugend oft das Mißtrauen, sie wollten die Jugend für irgend eine „Sache” statt allein für das Leben selbst werben und festlegen. Für den greisen Menschen, sofern er den Sinn seines Alters selber verstanden hat, sind die blendenden Lichter solcher Eitelkeit verblaßt. Was hätte es für einen Sinn, wenn der Mensch am Rande des Grabes die Jugend noch an sich binden wollte oder an irgend eine menschliche Größe, von der er sich selber eben gelöst hat? Der Dienst des alten Menschen an dem jungen Menschen kann gerade der selbstlose Dienst sein, der nichts anderes will als helfen zum Leben. Was bedeutet es, wenn das Alter aus der Erziehung der Jugend gänzlich ausgeschaltet wird? Gewiß, wenn Erziehung nichts anderes ist als „Ertüchtigung” zu dem irdischen Lebenswerk, dann bedarf es hier am allermeisten der strengen Sachlichkeit, der blutwarmen Lebendigkeit, des klaren Verstandes, des fordernden Willens, und hierin ist der Mensch auf der Höhe seines Lebens dem Greis überlegen. Wenn es darauf allein ankommt, dann muß man junge Menschen in der Tat davor warnen, auf Führer zu hören, die zu alt sind, die selbst schon nicht mehr wirklich im Leben stehen. Wenn alle Erziehung in erster Linie durch bewußte Anrede das Denken und Wollen des jungen Menschen gestalten will, dann ist der Greis, der weniger durch Denken und Reden als durch sein ganzes Sein wirkt und erzieht, ein höchst ungeeigneter Erzieher, dann ist es richtig und notwendig, Männer und Frauen von einem bestimmten Lebensalter an, vielleicht von einem sehr frühen Zeitpunkt an, von dem Werk der Erziehung auszuschalten und fernzuhalten. Es handelt sich eben gerade nicht um „Väter und Söhne”, um die Verschiedenheit der Anschauungen zweier Zeitalter, um den nie fehlenden Wechsel des Lebensgefühls und der Weltanschauung, sondern es handelt sich um eine verschiedene Stellung im Leben selbst. Der Greis soll und darf den jungen Menschen nicht davon abhalten, ganz aufgeschlossen, ganz nüchtern sich der Wirklichkeit des irdischen Lebens zuzuwenden, aber er soll und kann ihn davor bewahren, in dem Rausche des Lebensgefühls sich an diese Oberflächenschicht des Lebens zu verlieren. Zugleich aber wird hier eine ungeheure Verantwortung des alten Menschen selber sichtbar. Heute will ja niemand alt werden; die meisten möchten lange leben, aber dabei jung bleiben. Die „Verjüngung”, die künstliche Jungerhaltung des Menschen, von der Kleidung und der Schminke an bis zur Operation als Mittel der Verjüngung, ist das große Schlagwort, das dieser Sehnsucht entgegenkommt. Auch der Typus des alten Menschen selber wandelt sich in den Zeiten. Heute sehen wir fast durchweg den alten Menschen, der sein Altsein, so gut er kann, verbirgt und der, wenn nicht seine Leistungsfähigkeit, so wenigstens seine Genußfähigkeit zu konservieren bemüht ist. Ich fürchte freilich, daß dieser Typus von „alten Menschen” sehr bald von der jungen Generation als verkehrt und verächtlich beiseite geschoben werden wird. Denn hier versagt das Alter ja gerade in dem, worin der Sinn seiner Lebensstufe liegt: es will sich nicht lösen aus diesem Leben, es will „wie einen Raub” festhalten, was schicksalsmäßig seinen Händen entgleitet. Diese Art von alten Menschen kann man freilich in der Erziehung nicht brauchen. An der Schwelle des Erdenlebens sind wir getauft worden. In dem Augenblick, wo wir durch die Geburt hineingetaucht worden sind in die Fluten des irdischen Lebens, sind wir zugleich hineingetaucht worden in den Gnadenstrom Gottes, der das Todesschicksal des Menschen in die Berufung zum Leben wandelt. Welche Bedeutung kann es gewinnen, wenn der junge Mensch an der Schwelle des bewußten und selbständigen Lebens dieser seiner Taufe gedenkt; welche Bedeutung kann es für ihn haben, wenn der in der Taufe verkündigte Sinn des Lebens ihm in alten Menschen verkörpert entgegentritt: Der von Herzen demütige Mensch, der die Last und Hitze dieses Lebens getragen hat, der die Narben des Lebens an sich trägt und nun ganz ruhig und ganz froh geworden ist, nicht in dem stolzen Blick auf das irdische Tagwerk, sondern in dem Glanz einer übernatürlichen Liebe. Welche Ermutigung zum Leben bedeutet es für den jungen Menschen, wenn er einem jener Alten begegnen darf, ans deren faltenreichem und welkem Gesicht stille große Augen leuchten in dem Wiederschein jenes letzten tröstlichen Lichtes: „In Deine Hände befehle ich meinen Geist; Du hast mich erlöset, Herr, Du treuer Gott.” Gottesjahr 1930, S. 43-48 © Bärenreiter-Verlag zu Kassel (1929) |
© Joachim Januschek Letzte Änderung: 16-01-29 |