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von Anna Schieber |
Es war eine Musteranstalt. Die ihr anvertrauten Zöglinge sollten mit allen Mitteln zu Vollmenschen erzogen werden: fromm, aufgeschlossen, lebenstüchtig, gesund an Leib und Seele, national, Sinn für alle edlen Künste. Heute - eigentlich auch schon gestern - war eine Versammlung gewesen, zu der sich ein ziemlich großer Kreis zusammengefunden hatte: Erzieher der verschiedensten Art aus Schule und Haus, Eltern und Lehrer aus den mancherlei Schichten der Weltanschauung, der Stände und der Bildung. Vorträge, Diskussionen, Einzelbesprechungen über die verschiedenen Erziehungsfaktoren. Es schien nichts vergessen zu sein, was dabei in Betracht kam. Nun zerstreute sich die Versammlung wieder. Die Auswärtigen eilten zur Bahn. Im Zug saß ein Häuflein beisammen, Männer und Frauen. Sie schienen irgendwie zusammen zu gehören, sie waren wohl ans derselben Stadt oder sie gehörten einer Vereinigung an, die ähnlichen Zwecken diente wie die Schule, die sie eben verlassen hatten. Einer war unter ihnen, ein stiller Mann, auf dessen Gesicht aber dennoch die andern irgendwie erwartungsvoll schauten. „Du hast fast gar nichts gesagt. Warum? Der Leiter hatte auf dich als einen der wichtigsten Diskussionsredner gewartet.” Es war eine Frau, die das sagte, eine Mutter, die drei Söhne in der Anstalt hatte. Die andern nickten ihr Beifall. Der stille Mann, - er hieß Andreas, die andern nannten ihn schlechtweg so - sah sich freundlich um. „Ich hatte nicht recht etwas zu den vorgeschlagenen Themen zu sagen. Ich wartete immer darauf, daß noch ein wichtiger Faktor genannt werde, der wichtigste, zu dem ich dann das Wort ergriffen hätte. Aber es geschah nicht. Darum schwieg ich.” Die andern sahen ihn und einander an. „Der wichtigste? welcher? Es war doch schließlich von allem die Rede.” Andreas lächelte. „Ich meine das Ungewollte, das Schicksal, das Leben, oder wie Ihr sagen wollet. Wer erziehen will, erzieht nicht. Nur das Leben selber erzieht. Es hat allerlei Namen, aber es ist immer dasselbe.” Es war immer so, wenn Andreas sprach. Er sagte keine neuen Dinge, die andern hatten nur das Gefühl, er gebe dem Raum, was tief unten in ihnen allen gelegen habe. Immerhin: so ganz einfach war es doch nicht. Man mußte doch die jungen Menschen zu dem hin zu bilden versuchen, was einem selber das Wichtigste war. Bilden, das war Formen, Gestalten, Ertüchtigen, Einverleiben und das alles nur anderer Name für Erziehen. Wie konnte man das unbewußt tun? Es gab nun doch ein Geschwirre durch einander hin, in das hinein, als es eine Weile gedauert hatte, Andreas sagte: „Wir können ja eine Probe machen, wenn ihr wollt. Wir können ein jeder versuchen, uns zu vergegenwärtigen, was es war, das uns am stärksten in der Erinnerung geblieben ist von dem, was wir aus unserem eigenen Leben „unser Erzogensein” heißen können.” Sie sahen einander an. Es währte schon eine gute Weile, bis ein wenig zaghaft Schwester Lotte, die Hortleiterin, sagte: „Ihr habt jedenfalls bedeutendere Sachen zu sagen, indessen will ich einmal etwas anführen, was mir eben durch den Sinn geht. Lotte unterbrach sich und wollte eigentlich aufhören, aber es war doch notwendig, noch hinzuzufügen: „Damals fing es an, was später immer stärker in mir aufkam: das leidenschaftliche Angstgefühl vor jeder Art von Unwahrhaftigkeit, denn ich selber war die Frau, die durch die Gewöhnung an das Halbwahre allmählich in die Lüge hineingeriet, und es war das Erlebnis für mich, das mich auf den Weg stellte, auf dem ich Mensch werden sollte.” Andreas nickte ihr zu, es war das gewesen, was er gemeint hatte, und er brauchte nun auch nicht mehr weiter zu ermutigen, denn die andern hatten auch solche Dinge zu sagen. Zum Beispiel fing ein junger Volkswirtschaftler sogleich an, auch ein „erziehliches Erlebnis” zu bringen, er konnte gar nicht schnell genug damit beginnen, denn er wußte plötzlich gut, wie „es” in ihm aufgewacht war: „Ich hatte als Vakanzgast eines wohlhabenden Verwandten schöne Tage und Wochen in den Gärten und Weinbergen des Vetters zugebracht, und zwar war dabei ein bejahrter Tagelöhner der lebendige Mittelpunkt jener Tage gewesen. Er war schon viele Jahre im Dienst des Verwandten und durch seine Hände ging alles, was aus dem Garten und Weinberg in das Haus der Herrschaft kam. Er hatte einen krummen Rücken und hartgeschaffte Hände, aber ein stillfreudiges Gesicht, und mir war er ein Kamerad und auch Lehrer in manchen Dingen, die ich von keinem andern anzunehmen seither bereit gewesen war. So hat er mir über den Eigentumsbegriff ein unvergeßliches Kolleg gehalten, als ich mich für ihn beklagte, daß ihm nichts von allem gehöre, was er mit aller Kraft seiner Lebenstage betreue. Er sagte: „So lang ich den Garten und den Weinberg schaffe, gehört er mir, und jede Frucht und jede Blume wächst mir in die Hände. Ich habe viel mehr davon als der Herr. Wenn ich aber dereinst sterbe, so habe ich einen Grundbesitz, so groß wie mein Herr, und liege darin im Eigenen und in der Ruhe, und mitnehmen kann weder ich noch der Herr das schöne Gelände.” Es kam etwas darin vor, was ich noch gut weiß: „den Satan unter unsere Füße treten.” Das gab ein halb grausiges, halb märchenhaftes Bild in mir. Aber sonst bin ich mir weder aus der Schule noch aus dem Elternhaus eines Eindrucks bewußt, der mich „religiös erzogen hätte”, obgleich da vieles aufzuzählen wäre an Versuchen. Eines Tages aber, das habe ich auf die Habenseite zu schreiben, kam ich ans der Schule und suchte meine Mutter, der ich etwas dringendes zu sagen hatte. Ich fand sie nirgends und kam auf der Suche an die verschlossene Tür eines abgelegenen Gaststübchens, hinter der ich merkwürdig leise Worte zu hören glaubte. Nach einiger Zeit ging die Tür auf und die Mutter kam heraus mit einem ungewohnt hellen Gesicht, das mir als „glänzend” in der Erinnerung ist. Ich fragte zaghaft: „Wer ist denn da drin, und mit wem hast Du geredet?” aber es war mir, als wisse ich es. Sie schwieg eine kleine Weile und sagte dann leise: „mit Gott”. Sonst nichts. Und das ist es, was ich aus allem heraus behalten habe. Wenn mir später so vieles zerbrach, was man über mir aufgebaut hatte, ja wenn ich hart an die letzten Grenzen der Verneinung kam und ich beklommen ins Leere starrte, so sah ich das Gesicht der Mutter in jenem Augenblick und hörte sie sagen, daß sie mit Gott geredet habe. Und das war Religion in mir, daß sie das gekonnt hatte - daß man das konnte.” Sie sagte lächelnd: „Aber diese Klassen sind ganz ungleich eingeteilt, weil ja manche Menschen früher und manche später zur Reife kommen. Und jeder weiß sich allein in seiner Schule, denn das Leben hat ihn Dinge zu lehren, die kein anderer mit ihm lernen kann. Ich will auch einmal etwas von mir selber sagen: Als ich meine sögenannte Bildungszeit hinter mir hatte und eben in den von mir gewählten Beruf eingetreten war - er war Musik und Leben zu gleicher Zeit -, da bekam ich plötzlich einen andern Lehrer, der hieß Krankheit und Einsamkeit und Leid. Und ich wehrte mich gegen ihn, denn er faßte mich hart und bitter an, und wie mir schien, verderblich. In dieser Zeit sagte mir jemand, ich sei, wie ihm scheine, in eine andere Klasse versetzt, und ich solle nicht versäumen, sie auszunützen, da sie überaus wichtig sei. Nun, ich habe allerlei darin gelernt, von dem ich heute nichts mitteilen will, und ich wurde auch nach einer langen Zeit wieder „ins Leben entlassen.” Aber wenn Ihr heute saget, ich habe einen „Beicht- und Kinderkreis”, so sind gewisse Dinge, die ich dazu nötig habe, in jener Klasse entstanden: Einsicht in meine eigenen tiefen Mängel, Einsicht in die Leiden der anderen, besonders das Leiden, das aus dem Nichtandersseinkönnen herkommt, Einsicht in das wilde Wehren gegen den Meißel, der uns gestalten (bilden, erziehen) will.” Sie hatte für ihr Gefühl - nicht für das der andern - schon zu viel gesagt, und machte sich zum Aussteigen auf der kommenden Station bereit. Der Goetheforscher unter ihnen blätterte in einem kleinen Notizbuch und fand richtig einen Spruch darin, den er nicht genau auswendig gewußt hatte und der ihm hierher zu passen schien: „Das Schicksal ist ein vornehmer aber teurer Hofmeister.” Andreas sagte kopfnickend: „Man müßte sich aber nur darüber unterhalten, was man unter dem Schicksal verstehen will. Welche ewige, außermenschliche Ordnung oder Gewalt greift in unser Sein hinein und gestaltet es so und nicht anders? Wer bestimmt Anlage und Begabung, wer Geist und Gemüt? Wer die Wegkrenzungen unserer Erdenbahn? Wer die Hemmungen und Förderungen unseres Werdens? Es ist schon gut, sich darüber zu besinnen.” In diesem Augenblick fuhr der Zug in die Bahnhofshalle ein, in der die „liebe Frau” auszusteigen hatte, und sie sagte, anstatt von jedem Abschied zu nehmen, abschließend: „Vielleicht könnte man Goethes Wort so übersetzen und nicht gegen seinen Sinn, wenn auch nicht in seiner Sprache, daß es herb, hart und bedingungslos erzieherisch sei, in die Hand des lebendigen Gottes zu fallen, aber zugleich am fruchtbarsten, da diese Hand aus uns zu machen weiß, nicht was wir wollen, sondern was er will, der den Erziehungsplan auf große Sicht ausgedacht hat.” Und die drinnen im Wagen setzten das Gespräch nun nicht mehr fort. Gottesjahr 1930, S. 38-43 © Bärenreiter-Verlag zu Kassel (1929) |
© Joachim Januschek Letzte Änderung: 16-01-29 |