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von Wilhelm Stählin |
„Was nicht aus dem Glauben gehet, das ist Sünde”. Es mag klug und „richtig”, zweckmäßig und nützlich sein, aber es „gilt” nicht im tiefsten Sinn, es ist vor dem letzten Urteil verworfen, weil es sich selbst ausgeschaltet hat aus dem Strom des lebendigen Geschehens und Handelns, der allein in Gott seinen Ursprung hat und weitergeleitet wird nur in der frommen Hingabe an Gott. Darum ist der Glaube auch nicht etwa ein besonderes Denken oder Verhalten auf dem Einzelgebiet des „Religiösen”, während daneben alle anderen Lebensgebiete in ihrem eignen Recht bleiben könnten. Wer glaubt, muß und will immer und überall als der glaubende Mensch denken und handeln; jede Aufgabe, die an ihn heran tritt, jede Lebensbeziehung, in die er eintreten kann, ist zugleich eine neue Probe darauf, ob er wirklich aus dem Glauben lebt, und er wird kein Werk angreifen können ohne das Gebet: Ich glaube, lieber Herr, hilf meinem Unglauben! Es sind nicht besondere einzelne Überzeugungen oder Wahrheiten, die der Glaubende „glaubt”; sondern die ganze Breite des Lebens, die ganze Wirklichkeit der Natur und der Geschichte und alle menschlichen Begegnungen sind ihm in das Licht einer unendlichen Aufgabe und einer unendlichen Verheißung getaucht. Wenn wirklich dort, wohin der Glaube schaut, in Christus, das ewige Licht da, das heißt in unsere irdische Wirklichkeit, hereingeht, so empfängt daraus wirklich die Welt, die ganze Welt, einen neuen Schein. Der Glaubende kann es nicht für eine zufällige Begleiterscheinung des Lebens halten, daß wir einander begegnen, in Beziehungen zu einander stehen und aufeinander wirken, sondern er sieht diese menschliche Begegnung gerade als den Ort, wo unser eigener Glaube in Verantwortung und Dienst offenbar und wirksam werden will. Gerade der Glaube lehrt uns jede gliedhafte Verbundenheit ganz ernst nehmen; ob wir als Vater und Mutter unseren Kindern gegenüberstehen, ob wir als Geschwister, als Arbeitsgenossen oder als Nachbarn nebeneinander leben, ob wir als Lehrer, Meister und Führer mit jüngeren Menschen zu tun haben, überall braucht uns nicht erst ein menschlicher Auftrag an unsere Pflichten zu weisen, sondern wir sind - „um Gottes willen” - auf einander gewiesen, einander zu helfen und für einander zu sorgen. Nirgends können wir uns diesem Dienst am Nächsten entziehen: „Soll ich meines Bruders Hüter sein?” Nirgends können wir die eigene Verantwortung auf die berufsmäßigen Erzieher abwälzen. Die besondere erzieherische Aufgabe der Eltern, der Lehrer, der Jugendbildner ist für den Glauben nur ein Sonderfall der Verantwortung und Hilfe, die wir alle einander immer und überall schuldig sind. Es ist ein Stück des allgemeinen Priestertums; denn „allgemeines Priestertum” heißt doch nicht nur, daß jeder Einzelne unabhängig von priesterlicher Vermittlung vor seinem Gott steht, sondern heißt vor allem, daß Gott einen jeden von uns zu priesterlichem Dienst an den Brüdern ruft und verpflichtet. Dieser Glaube bewahrt uns vor dem Gift des pädagogischen Dünkels, vor dieser schrecklichen Anmaßung, als ob wir als die schlechthin Überlegenen die andern Menschen zu führen und zu bilden hätten. „Ihr sollt euch nicht Meister nennen lassen; einer ist euer Meister, Christus”. Wir haben kein anderes Recht und keine andere Begründung für unser Erziehungswerk als den Glauben, daß wir als Glieder an dem Leibe Christi zum Dienst aneinander berufen sind. Eine solche im Glauben gegründete Erziehung wird sehr bescheiden über die Person des Erziehers und über die Reichweite seiner Bemühungen denken. Die Aufgabe der Erziehung verführt wie kaum ein anderes, menschliches Tun zu allerlei Illusionen. Welche Quelle von Selbsttäuschungen, wenn nun der Reife dem Unreifen, der Fertige dem Werdenden, der Gefestigte dem Strauchelnden, der Sichere dem Gefährdeten gegenübersteht, um ihn zu der eigenen Höhe emporzuziehen! Welche Selbsttäuschung, wenn nun der Erzieher meint, im Besitz der eigenen Überlegenheit und der wissenschaftlich begründeten und durch die Erfahrung bewährten Methode die geistigen und sittlichen Kräfte pflegen und fördern, das Gefühl auf die edlen Güter richten, den Willen in die erwünschte Richtung bewegen zu können! Hier mangelt der Glaube; hier ist Gott vergessen, vor dem auch der Erzieher als vor seinem Richter steht und der allein die Herzen der Menschen „wie Wasserbäche” lenkt. Der an Gott gebundene Erzieher kann eben nicht, auf dem Thron seiner pädagogischen Würde sitzend, Menschen nach seinem - oder irgend einem andern - Bild formen; sondern er kann allein in aller Demut darum ringen und daran mithelfen, daß an dem Leben seines Kindes, seines Schülers, seines jungen Freundes, der Wille Gottes geschieht. Die methodische Selbstsicherheit und die menschliche Anmaßung des Erziehers sind eine der verhängnisvollsten Formen unserer Illusionen. Ein Mensch kommt nicht dadurch zur Reife, daß er in die Hand eines raffinierten und pädagogisch geschulten Erziehers gerät, sondern dadurch, daß er in die Hand des lebendigen Gottes fällt. Während unsere Erziehung auf der einen Seite durch solche Illusionen gefährdet wird, wird von anderer Seite, oder vielmehr von zwei anderen Seiten her jeder erzieherischer Wille überhaupt gelähmt. Das seiner selbst mächtige und sich selbst bestimmende Individuum ist von vielen heute als das erkannt, was es ist, nämlich als ein theoretisch konstruiertes Wahngebilde, das es in der Wirklichkeit gar nicht gibt; wir sehen nüchtern und klar, wie sehr Anlage und Möglichkeiten eines jeden Menschen durch seine „Erbmasse” und durch seine geistige und soziale Umwelt bestimmt ist; durch alle Erziehung kann nichts wirklich hinzu getan oder geändert werden an dem, was durch die Geburt, oder vielmehr schon durch die Erzeugung über ihn entschieden ist. So bleibt dann jeder erzieherische Wille stecken in dem Drahtverhau des psychologischen und soziologischen Verstehens oder rennt im besten Falle an gegen die Gummiwand dieses Märtyrergefühles: ich bin mit allen meinen Unarten ein Produkt der Verhältnisse, ein Opfer und zugleich eine Strafe einer verfehlten Ehe oder einer entarteten Gesellschaft. Wie soll man dann erziehen? Hier ist dann - das ist das andere - freilich jede Forderung eine Überforderung. Man wagt nicht, den jungen Menschen vor ein unverbrüchliches Gebot, vor eine unerbittliche Forderung zu stellen, weil er ja doch daran scheitern muß und dann durch das Bewußtseins dieses Versagens unerträglich belastet würde; man wagt kaum, ihm irgend einen Verzicht, irgend einen sittlichen Kampf zuzumuten, weil man davon weiß, wie sehr solche gewaltsam an ihrer Entfaltung gehinderten Lebensregungen als „verdrängte Komplexe” das innere Leben schädigen und vergiften können. Aber wie soll ich erziehen, wenn ich dabei Gefahr laufe, der geraden und gesunden Entwicklung des jungen Menschen einen unberechenbaren Schaden zuzufügen? Diese Wahrheit wird aber nicht dadurch wirksam, daß der Erzieher von ihr redet, sondern dadurch, daß er selbst in ihr und von ihr lebt und sie in seiner eigenen Haltung verkörpert. In diesem Sinn ist jede echte Erziehung bekenntnishaft. Daraus, wie in Vater und Mutter Ernst und Güte eine unzerteilbare Einheit bilden (so daß man eben nicht etwa von dem strengen Vater an die mildere Mutter appellieren, oder aber im Notfall den strafenden Ernst des Vaters gegen die schwache Mutter zu Hilfe rufen muß!!), daraus, wie der Jugendführer mit klarer und hoher Forderung vor den jungen Menschen tritt, aber zugleich dem irgendwie Hilfsbedürftigen, Ratsuchenden oder Verirrten unbedingt zur Verfügung steht, daraus ahnt das Kind oder der junge Mensch mehr als aus vielen Belehrungen, was die erziehende Gnade Gottes ist und bedenket. Es ist ganz richtig, daß der Erzieher Entscheidungen fordern kann nur dadurch, daß er selber Entscheidungen trifft; aber es ist ebenso richtig, daß er zum Vertrauen ermutigen kann nur dadurch, daß er selbst durch sein Vertrauen Vertrauen weckt und stärkt. Man kann nicht zum Glauben erziehen wollen, ohne selber aus dem Glauben heraus zu leben. Welche Entdeckungen und Erfahrungen der Mensch auf diesem Wege in die Wirklichkeit des Lebens hinein macht, ist Gottes Sache. So jemand ernstlich in diesem Leben „will Gottes Willen tun”, der wird von selbst an die letzten erschütternden und demütigenden Erkenntnisse herangeführt werden. Es ist ein gefährliches Unternehmen, wenn der Erzieher versucht, diese Erkenntnisse, die letzten Geheimnisse von Buße, Vergebung und Erneuerung, dem jungen Menschen in Gedanken und Gefühl sozusagen auf Vorrat mitzugeben. Es könnte sein, daß solches Unternehmen gerade nicht aus dem Glauben, sondern ans dem Unglauben kommt, nämlich ans dem Wahn, der Mensch müsse Gott zu Hilfe kommen und von sich aus jene Erkenntnisse züchten, mit denen Gott „den Sünder auf dem Wege unterweist”. Und es könnte sein, daß dann die erziehende Hand Gottes gar nicht mehr einen zum Hören und Lernen bereiten Menschen findet, sondern einen Menschen, der sich gewöhnt hat, mit theologischen Gedanken und Worten als Ersatz für das wirkliche Leben sich zu schmücken. Der Glaube kann warten, weil er eben Glaube ist und nicht Berechnung, Technik und Klugheit. Er wartet darauf, daß Gott an dem Menschen sein Werk tut. Er weiß um jenes Geheimnis, daß auch das Wunder des Christus, der das Wasser in Wein wandelt und die menschliche Natur neuschafft für sein Reich, nicht eher geschieht, als bis seine Stunde gekommen ist. In der Erziehung, die aus dem Glauben geschieht, ist die ernsteste Verantwortung mit vollkommener Demut, die strengste Forderung mit tiefster Barmherzigkeit und die verzehrende Ungeduld der Liebe mit der Hoffnung, die des Herrn harrt, zu einer unauflöslichen Einheit verschmolzen. Können wir anders wagen, das Werk der Erziehung, zu dem wir berufen sind, in die Hand zu nehmen, als „aus dem Glauben”? Gottesjahr 1930, S. 26-31 © Bärenreiter-Verlag zu Kassel (1929) |
© Joachim Januschek Letzte Änderung: 16-01-29 |