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von Ludwig Heitmann |
Es ist schon richtig, daß wir im Jahrhundert des Kindes leben. Nicht freilich in dem Sinne, daß wir ein Übergewicht nachwachsenden Lebens zu besorgen hätten. Das Durchschnittsalter der in Deutschland wohnenden Menschen wird demnächst auf 60 Jahre hinaufgerückt sein. Vor dem Kriege betrug es erst 45 Jahre, in Luthers Tagen schätzt man es gar auf nur 20 Jahre. Im Bannkreise der Großstädte sinkt zudem die Geburtenziffer rapide. Zahlenmäßig würde auch die stärkste Jugendbewegung heute nicht mehr gefährlich werden können. Aber auch aus anderen Gründen werden wir für das nächste Jahrhundert vor ihr sicher sein. Von den 12-15000 Kindern, die alljährlich in unserer Großstadt in das schulpflichtige Alter kommen und eingeschult werden sollen, müssen durchschnittlich 4-5000 als noch nicht schulreif zurückgewiesen werden. Sie sind körperlich oder geistig den Anforderungen der Schule trotz der fortgeschrittenen Fürsorge in hygienischer und methodischer Beziehung noch nicht gewachsen. Der gesunde Nachwuchs beginnt zusammenzuschrumpfen. Aber eben deswegen tritt das Jahrhundert des Kindes in sein Recht. Wir haben allen Grund, uns mit den Kindern, die noch da sind, sorglich zu beschäftigen. Und das geschieht auch ausgiebig in einem immer wetter ausgebauten System gesundheitlicher, fürsorgerischer, pädagogischer Betreuung. Die besten Kräfte unseres Volkes sind mit dem Ausbau eines großzügigen Erziehungssystems beschäftigt, das alle Seiten, alle Stufen, alle Anomalien kindlichen Lebens berücksichtigt. Wir sind schon mitten drin in einer neuen Blüteperiode erzieherischen Willens. Es überstürzen sich die neuen Theorien, die neuen Methoden, die neuen Forschungen über die kindliche und jugendliche Psyche. Dieser Übereifer freilich ist nicht nur das Zeichen neuer erzieherischer Kraft. Daß es Grenzen der Methode, der Psychologisierung, der Fürsorge gibt, beginnt eben heute gerade den Erziehern deutlich zu werden. Daß erzieherische Vollmacht nicht allein, nicht einmal in erster Linie von systematischen Bemühungen eines bewußt pädagogischen Willens abhängt, ist eine Erkenntnis, die im Erziehungswerk selbst wieder aufsteigt. Wie die Überfülle der Erziehungsbemühungen schon ein bedenkliches Symptom der in dem schwindenden Nachwuchs sich offenbarenden Lebenskrisis ist, so wird nun diese Krisis in der Erziehungsarbeit selbst immer deutlicher sichtbar. Mitten im Zeitalter der Pädagogik erleben wir eine ganz tiefgehende Krisis der Erziehung. Diese Krisis kommt in den Kreisen verantwortlicher Erzieher zunächst in einer rückschauenden Stimmung zum Bewußtsein. Man weiß heute wieder, daß es noch in der Generation vor uns unbewußt wirkende Erziehungsmächte gab, die heute geschwunden oder doch im Schwinden begriffen sind. Selbst der Junge, der auf dem Dorfe in primitiver ländlicher Umwelt heranwuchs, hatte doch das vor dem unter allen technischen Bildungsmöglichkeiten heranwachsenden Großstadtkinde voraus, daß er in eine ganz geschlossene Lebensordnung hineingestellt war, die ihn aus dem Elternhause auf den Bauernhof bis hinein in die Welk der Erwachsenen und die eigene Familie geleitete. So eng begrenzt sein Lebensraum war, dieser war doch innerlich geschlossen und von einer unsichtbaren geistigen Ordnung gehalten. Innerhalb dieses kleinen Raumes wuchs sein Leben, immer gehalten und geführt von den Menschen, den Sitten, den Grundanschauungen seiner Umwelt, organisch zur Reife. Das ist ein Verlust, den keine Pädagogik wieder einholen kann. Er liegt in dem Auflösungscharakter unserer Zeit selbst begründet. Noch gibt es starke gegenwirkende Kräfte, die sich namentlich im Familienleben und auch in den Erziehungsbemühungen der Schule, der Gemeinde, der Jugendbünde geltend machen. Auf das Ganze gesehen, werden sie den Prozeß der Aufspaltung aller organischen Lebenseinheiten nicht aufhalten können. Wenn nicht im Leben selber der große Emanzipationsprozeß, in dessen letztem Stadium wir stehen, der Erschöpfung anheimfällt und zu einer neuen Periode innerer Sammlung führt, so wird die Pädagogik von sich aus nicht zurückholen, was der Strom der Zeit mit sich fortreißt. Trotzdem ist dieses Bewußtwerden der Tiefenkrisis der Zeit an dem Erziehungswerk selbst durch die Rückschau auf einst vorhandene Erziehungskräfte, von höchster Bedeutung: es öffnet das Auge für Lebensbewegungen der Zeit, die in die Zukunft weisen und in neuer Form jene Voraussetzungen vollmächtiger Erziehung schaffen könnten, die frühere Geschlechter unbewußt besaßen. So wenig eine rückschauende Romantik auf dem Gebiet der Erziehung Berechtigung hat, so wichtig ist doch die Erkenntnis der Grundvoraussetzungen echter Erziehung, die der Blick in die Vergangenheit gibt. Ehe freilich der Sinn dieser neuen Lebensbewegungen deutlich werden kann, muß ins Auge gefaßt werden, in welcher Form in diesem Auflösungsprozeß Erziehung überhaupt noch wirksam wird und allein wirksam werden kann. Der Wegfall jener unbewußt erziehenden Lebensordnungen hat nach zwei Seiten hin zu einer bewußten Steigerung des erzieherischen Willens geführt. Das junge Menschentum, das nicht mehr gebunden war durch lebendige Ordnungen der Umwelt, wurde um so kräftiger gefesselt zunächst durch ein System von Leistungen. Die individualistisch aufgelöste Umwelt mit ihrem ganz auf den Höchsterfolg eingestellten Grundstreben zwang auch die Erziehung in dies System hinein. Es herrscht heute unumstritten im ganzen Umkreis der Erziehungsarbeit, so schwer auch alle verantwortlichen Erziehungsmächte darunter seufzen. Es gibt weder fur das Elternhaus, noch für die Schule, noch für den Staat, noch fur die Kirche irgendeine Möglichkeit, sich ihm zu entziehen. Der unerbittliche Auslesezwang, unter dem das Leben heute steht, drängt alle Erziehungsarbeit immer stärker in diese Richtung. An der Überspannung dieses Prinzips, in dem die vor uns lebende Generation noch eine lebenweckende Macht sehen konnte, erlebt unsere Generation die Krisis der Erziehung. Das Berechtigungswesen, dem wir heute nicht mehr entrinnen können, ist der Tod aller wesentlichen Erziehungsarbeit. Es erschöpft vor der Zeit die Kraft des Zöglings und läßt ihr nicht den freien Raum zu schöpferischer Entfaltung. In der Wirkung auf das nachwachsende Geschlecht erlebt das Leistungssystem der Zeit seine Grenze und seine Krisis. Erst wer in voller Nüchternheit diesen zeitgeschichtlichen Hintergrund aller Erziehungsbemühungen unseres Jahrhunderts sieht, fängt an, die Bedeutung der Lebensbewegungen zu ermessen, die, zunächst abseits von allen pädagogischen Erwägungen, mitten in diese Welt der Zwecke und Leistungen, der persönlichen Ansprüche und Übersteigerungen das erste Zeugnis von einem neuen objektiven Sinn tragen, der in die immer schärfer zum Bewußtsein kommende Sinnlosigkeit des heutigen Lebensganzen hineinbricht. Wie immer dieser neue Sinn sich ankündigt, ob er sich in einem neuen Verhältnis zur Natur, zur Leiblichkeit, zur Gemeinde, zum Volke, zum sozialen Dienst, zur Wirtschaft, zur Kunst oder sonst wie offenbart, immer bedeutet er schärfste Abwendung von der übersteigerten Zweckhaftigkeit und der individualistischen Auflösung unsers heutigen Daseins und ein Sichhinwenden zu einer neuen objektiven Ordnung der Dinge, die allerdings nirgends in dieser Welt zu finden, geschweige denn verwirklicht ist, die vielmehr ihre Kraft und Gültigkeit aus einem Wahrheitszeugnis empfängt, das aus einer jenseits aller menschlichen Geschichte liegenden Welt kommt und doch mitten in dieser Welt immer wieder seine erlösende objektive Macht offenbart und bewährt. Dieser neue Sinn für das Objektive läßt sich nicht irgendwie rational begründen. Aus ihm läßt sich auch kein Erziehungssystem ableiten. Vielmehr liegt gerade darin sein entscheidendes Kennzeichen, daß er die Fragwürdigkeit unserer heutigen Erziehungsbemühungen erst recht bewußt macht. Wer von ihm ergriffen wurde, kommt nicht wieder los von der Erkenntnis, daß in der Erziehung an sich, sofern sie den Anspruch erhebt, junges Menschentum durch ein System von Bemühungen zur Erfüllung des Lebens zu führen, niemals erlösende Kraft liegen kann, daß vielmehr solche Kraft ihr nur in dem Maße geschenkt werden wird, als in ihr jener lebendige objektive Sinn selbst ausleuchtet und wirksam ist. Gottesjahr 1930, S. 22-26 © Bärenreiter-Verlag zu Kassel (1929) |
© Joachim Januschek Letzte Änderung: 16-01-29 |