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von Rudolf Spieker |
In den Aufzeichnungen aus dem Leben des Staretz Sossima, in dem Buche „Ein russischer Mönch”, findet sich folgende Stelle: „Noch bevor ich das Lesen erlernt hatte, noch vor meinem achten Jahre, hatte ich ein geistiges Erlebnis. Meine Mutter brachte mich am Montag der Karwoche zum Abendmahl in die Kirche. Der Tag war hell und ich erinnere mich noch jetzt, als ob ich es vor mir sähe, wie der Weihrauch aus dem Räucherfaß leise aufstieg, von oben aber aus dem schmalen Fenstern der Kuppel über uns das Licht Gottes sich ergoß, und wie der emporsteigende Weihrauch sich mit den Sonnenstrahlen vermischte. Eine heilige Empfindung durchschauerte mich, und zum erstenmal nahm ich bewußt das Wort Gottes in mich auf. Ein Knabe mit einem großen Buch trat in die Mitte der Kirche vor, so groß war das Buch, daß er es, wie mir schien, nur mit Mühe tragen konnte. Er legte es aufs Pult nieder, schlug es auf und fing zu lesen an, und plötzlich begriff ich etwas davon, und ich begriff zum erstenmal in meinem Leben, daß in der Kirche gelesen wurde.” - Und nun folgte die Lesung von Hiob, Kap. 1, bis zu dem Bekenntnis: „Ich bin nackt von meiner Mutter Leib gekommen, nackt werde ich wieder dahinfahren, Der Name des Herrn sei gelobt!” Noch in seinem Alter erinnerte sich der Staretz voll Rührung und Freude dieses Eindrucks, wie er zum erstenmal der Lesung aus der Heiligen Schrift beigewohnt hat, und er sagt ausdrücklich, er habe da bewußt das Wort Gottes in sich aufgenommen. Uns ist es etwas Altgewohntes und Selbstverständliches, daß im Gottesdienst aus der Heiligen Schrift vorgelesen wird. Hier aber sehen wir an dem Eindruck, den ein aufgeschlossenes Kind empfangen hat, daß es sich bei der Lesung aus der Heiligen Schrift um etwas Außerordentliches und Besonderes handelt, selbst wenn sie wie dort durch einen Knaben geschah. Wieviel mehr muß das im evangelischen Gottesdienst der Fall sein, wo „das Buch” im Mittelpunkt steht, das Buch, das für aller Augen sichtbar, geöffnet auf dem Altar liegt! Und aus diesem Buch wird vorgelesen von der bedeutsamsten Stelle des Kirchenraumes aus, von dem erhöht liegenden Altar, während die Predigt von der meist seitlich zur Raumachse angeordneten Kanzel gehalten wird. Auch steht in lutherischen Gegenden die Gemeinde auf, wenn die Lesung aus der Schrift angekündigt wird; selbst wenn sie während des ganzen übrigen Gottesdienstes sitzt, erhebt sie sich an dieser Stelle kraft eines von Generationen her im Blute liegenden Zwanges und bleibt während der Lesung stehen. Das sind Zeichen, daß die Lesung aus der Schrift im Gottesdienst mit einer ganz besonderen Würde umgeben, von einer ganz besonderen Erwartung getragen und von einem besonderen Anspruch erfüllt ist. Die Predigt ist das persönliche Zeugnis, das ein dazu berufener einzelner Mensch im Gottesdienst ablegt. Sie bewegt sich in den Grenzen der Erfahrung und der Glaubensgewißheit, die dem Einzelnen gezogen sind. Die Predigt ist ein Zeugnis aus der Zeit, von dem Prediger wird erwartet, daß er sein Zeugnis ablege als einer, der in dieser gegenwärtigen Zeit mitlebt. Die biblische Lesung dagegen erhebt den Anspruch, daß sie der zeit entrückt sei. Gewiß kommt ihr Zeugnis auch aus einer bestimmten Zeit, aus der geschichtlichen Welt der Propheten und Apostel. Aber sie wird doch dargeboten, damit aus ihr heraus dasjenige vernehmlich werde, was jenseits des zeitlichen Geschehens steht: Die Stimme dessen, der durch den Mund seiner Apostel und Propheten tönt und redet. „Denn es ist noch nie eine Weissagung aus menschlichem Willen hervorgebracht, sondern die heiligen Menschen Gottes haben geredet, getrieben von dem Heiligen Geist.” Damit ist auch der andere Anspruch der Lesung schon bezeichnet; Daß in ihr das zum Ausdruck komme, was über die Grenzen der Einzelpersönlichkeit hinausliegt und von ihr frei macht, die Stimme der göttlichen Wahrheit, welche als „die Wahrheit” durch den Chor der Zeugen hindurchklingt. Gott spricht sein Wort nicht nur durch die Heilige Schrift. Er kann auch durch die Lesung eines anderen Textes zu den Menschen reden. Deshalb muß grundsätzlich zugestanden werden, daß die gottesdienstliche Lesung auch auf außerbiblische christliche Texte ausgedehnt wird. Im Morgengebet der katholischen Kirche wurden Stücke aus Homilien (Predigten) der Kirchenväter vorgelesen und Luther hält Lesungen aus seiner deutschen Kirchenpostille für ratsam. Das wird uns nicht veranlassen, die außerbiblischen Lesungen den biblischen gleichzusetzen. Ein sicheres Gespür sagt auch dem schlichten Menschen, daß es sich bei der Bibel um mehr als um eine Sammlung klassischer Glaubenszeugnisse handelt. Er weiß es vielleicht nicht zu sagen, worin dieses „Mehr” besteht, aber er spürt das heraus, was J. A. Bengel von den Evangelien gesagt hat: spirant resurrectionem - sie atmen Auferstehung. Deshalb werden wir nicht ohne Not von dem Herkommen der biblischen Lesung im Gottesdienst abweichen; ebenso wie wir nicht ohne Not von der Lesung aus der deutschen Lutherbibel abweichen werden, weil wir ihr keine ebenbürtige Übersetzung an die Seite zu stellen, ja weil wir in der Gegenwart überhaupt keine kultische Sprache haben. Wir sind aber heute vielfach in der Not, daß die Menschen die Lesung aus der Lutherbibel nicht mehr verstehen. Hier werden wir als Brücke zum biblischen Text andere Texte nehmen dürfen, welche den biblischen Text vorbereiten und zuletzt auf ihn als auf die zusammenfassende Bekrönung hinführen. Aus welchen Schriften solche außerbiblischen Lesungen genommen werden, richtet sich, nächst dem christlichen Takt und Verantwortungsgefühl, nach der geistigen Welt, aus der die Zuhörer kommen. Auch für die mit dem Bibelwort noch vertraute Gemeinde kann das Verständnis der biblischen Lesung sehr unterstützt werden, wenn neben sie ein Zeugnis von Luther, Calvin, Bengel oder Blumhardt gestellt wird, welches mit der biblischen Lesung zusammen den gemeinsamen Beziehungspunkt aufleuchten läßt. Und sollten für eine christliche proletarische Feierstunde etwa Lesungen aus Lassalle oder Karl Marx zu Hilfe geholt werden müssen, um den der Bibel und ihrer Sprache entfremdeten Arbeiter an einen christlichen Glaubensgedanken heranzuführen, so sollten wir das getrost tun in der Überzeugung, daß Gott auch durch den Mund der Ankläger der bürgerlichen Gesellschaft geredet hat. Und ebenso werden wir zu einer Bibelübersetzung in der Sprache unserer Zeit greifen, wo das Lutherdeutsch nicht mehr verstanden wird. Wir werden daher gewissenhaft die Lesungen der alten Perikopenordnung um ihren Sinn befragen, wir werden uns aber die Freiheit nehmen, von ihr abzuweichen, wo sie für uns ohne Sinn geworden ist. Schon allein die Tatsache zwingt uns dazu, daß die alten Perikopenlesungen vorreformatorisch sind und die evangelische Wahrheit in ihnen zu kurz kommt. So stehen wir vor der Aufgabe, eine neue Ordnung der Lesungen das Jahr hindurch zu schaffen - eine Aufgabe, die nicht durch rationales Konstruieren lösbar ist. Für die kirchlichen Festzeiten bieten sich uns die Lesungen verhältnismäßig selbstverständlich durch den Gang der heiligen Geschichte dar. Wir werden diese Geschichte zu bestimmten Zeiten, wie in der Karwoche, in predigtlosen Feiern, die nur aus Lesungen und Gesängen bestehen, darzubieten haben. Für die Dreifaltigkeitszeit müssen wir uns vorläufig damit begnügen, bestimmte Gedankengruppen für die Sonntage festzulegen, welche die Entfaltung des christlichen Lebens in den verschiedenen Lebenskreisen dartun. Hier kann sich in den Lesungen der Reichtum der biblischen Zeugnisse über alle Lebensgebiete entfalten: Kirche, Gemeinde, Gottesdienst, Staat, Volk. Beruf, Arbeit, Ehe, Alte, Kranke usw. Das Verhältnis von Lesung und Predigt bestimmt sich hier leicht durch die gemeinsame Einordnung unter den leitenden Gedanken des Sonntags. Lesung und Predigt werden niemals beziehungslos nebeneinanderstehen. Ihre Beziehung kann sehr verschiedenartig sein und alle Möglichkeiten von schroffer Antithese bis hin zu stärkstem Zusammenklang durchlaufen. Sie mögen sich verhalten wie Gesetz und Evangelium, Verheißung und Erfüllung, Lehre und Beispiel. Oft wird der Lesung die Aufgabe zufallen, in plastischem Bild der Gemeinde vor Augen zu stellen, was die Predigt in gedanklicher Erörterung darzulegen versucht. Immer aber wird die Lesung die Erinnerung daran enthalten, daß Gott noch auf eine andre, sachlichere und monumentalere Weise zur Gemeinde redet, als durch die zufällige Person des Predigers. Aus: Das Gottesjahr 1929, S. 84-88 © Bärenreiter-Verlag zu Kassel |
© Joachim Januschek Letzte Änderung: 12-10-14 |