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von Wilhelm Stählin |
Wenn wir von Liturgie reden, denken wir an einen ganz bestimmten Teil unserer Gottesdienste; kurz gesagt, wir meinen den Gottesdienst abgesehen von der Predigt, jene zum großen Teil festen und regelmäßig wiederkehrenden Formen, die die Predigt umrahmen: die Gebete, die der Pfarrer spricht, die Sprüche und Lesungen, die in bestimmter Ordnung aufeinander folgen, die festen Formen, in denen die Gemeinde darauf antwortet, Wechselrede und Wechselgesang zwischen „Liturg” und Gemeinde. Zumeist ist dieser Teil des Gottesdienstes, den wir Liturgie nennen, äußerlich dadurch gekennzeichnet, daß während dessen die Gemeinde sich erhoben hat und dem Altar zugewendet steht, an dem die Liturgie gehalten wird. Es ist ein merkwürdiger Bedeutungswandel, der diesem Gebrauch des Wortes Liturgie zugrunde liegt. Die „Liturgie” ist im Neuen Testament der Gottesdienst überhaupt und zwar der Gottesdienst in dem Doppelsinn dieses Wortes. Es ist der Gottesdienst des Gebetes (Luk. 1, 23; Hebr. 9, 21), aber auch der Gottesdienst, der von dem Gebet des einzelnen und der Gemeinde ganz unabtrennbar ist, der Gottesdienst des Glaubens und der Liebe, der nicht auf bestimmte Stunden, noch weniger auf bestimmte Formen beschränkt, der eigentliche Inhalt des ganzen Christenlebens ist (Phil. 2, 17, 30; 2.Kor. 9, 12 u.ö.). Also gerade die Scheidung von Kultus und Leben und die Unterscheidung fester, immer wiederkehrender Stücke im Gottesdienst selbst widerstreitet dem Sinn des Wortes „Liturgie” im Neuen Testament. Es ist der gesamte Gottesdienst des neuen Bundes, in dem Gebet, Andacht und Liebestat eine unzertrennbare Einheit bilden. Daran soll wenigstens erinnert werden, wenn wir das Wort Liturgie gebrauchen. Freilich können wir die Entwicklung nicht ungeschehen machen, die den Sinn des Wortes Liturgie nun ganz und gar verengt und auf bestimmte Stücke des Gottesdienstes beschränkt hat. Gerade um diese Stücke des Gottesdienstes, um die Liturgie im engeren Sinn geht heute Frage und Streit. In der fränkischen Dorfgemeinde, in der ich meine erste Weihnachtspredigt gehalten habe, bestand damals seit vielen Jahrzehnten die Sitte, daß zum Beginn des Gottesdienstes nur die Frauen die Kirche spärlich füllten, während die Männer zwar mit den Frauen zur Kirche gingen, aber dann bei Wind und Wetter, Frost und Hitze auf dem Kirchhof stehen blieben, bis die Liturgie vorbei war, um dann zu Beginn des Hauptliedes auf die Empore hinaufzustolpern; die stampfenden Männerschritte, unter denen die alte Treppe knarrte, klingen mir bis zum heutigen Tag wie ein energischer Protest gegen diese seltsame, unverständliche und sinnlose Einrichtung, die Liturgie. Ich habe im Laufe der seither verflossenen Jahre mit unzähligen Menschen gesprochen, die der Liturgie gegenüber im Grund die gleiche Stellung einnahmen, ohne freilich diese Ablehnung in ebenso geräuschvoller Weise zum Ausdruck zu bringen. Man sucht lieber Gottesdienste auf, in denen einem die Liturgie erspart bleibt, oder man läßt sich diese merkwürdige Einrichtung eben gefallen, wie man schließlich den ganzen Gottesdienst über sich ergehen läßt; aber der eigentliche Gottesdienst ist eben doch die Predigt. Freilich gibt es auch andere, die die Liturgie für einen wunderbaren Reichtum und für das Köstlichste und Wertvollste im Gottesdienst halten. Vielen wird die Liturgie, wenn ihnen erst einmal ihr Sinn und ihre Schönheit aufgegangen ist, zu dem eigentlichen Gottesdienst, in dem sie viel mehr als in der Predigt zu wirklicher Andacht und gemeinsamen Gebet bewegt werden. Vielleicht darf ich bekennen, daß mir selbst erst, als ich als Pfarrer die Liturgie zu halten und gar zu singen hatte, Schritt um Schritt ihre Tiefe und Größe aufgegangen ist; seitdem war es mir ein herzliches Anliegen, anderen Menschen zu einer gleichen ehrfürchtigen Liebe zur Liturgie zu verhelfen. In der römischen Kirche ist die Liturgie die Form des Gottesdienstes, die der Kirche durch den in ihr waltenden Gottesgeist geschenkt ist. Die Form selbst ist festgelegt, jeder eigenwilligen Veränderung und jeder Kritik entzogen. An dem Vollzug dieser Form, an der korrekten Erfüllung dieser einzelnen Stücke und Vorschriften hängt die Gültigkeit des Gottesdienstes, die Gegenwart Gottes in der heiligen Handlung, der Heilswert des Kultus. Diese Auffassung von einer geoffenbarten Liturgie ist heute vielleicht am stärksten in der Christengemeinschaft ausgeprägt. Ich entsinne mich eines Gesprächs mit einem hervorragenden Glied der Christengemeinschaft, das ich fragte, warum denn ein solches Geheimnis um die Form der Menschenweihe-Handlung gemacht, nicht einfach und klar ausgesprochen werde, daß Rudolf Steiner die Liturgie gemacht habe? Der andere gab mir zur Antwort, keineswegs habe Steiner diese Liturgie gemacht, sondern er habe diese Form kraft seiner besonderen Fähigkeiten aus den geistigen Welten abgelesen, sie sei also gar nicht von einem Menschen gemacht und dürfe eben darum auch im Kleinsten und Äußerlichsten, auch in Ausdrücken, die uns einfach sprachlich schlecht und verkehrt scheinen, nicht verändert werden. Eine solche geoffenbarte Liturgie haben wir nicht und wollen wir nicht haben, weil wir uns Gott nicht als einen himmlischen Zeremonienmeister vorstellen können, der eifersüchtig über der Beachtung ganz bestimmter Formen und Formeln wacht. Luthers liturgisches Interesse war wesentlich ein negatives; er kämpfte gegen die Aufrichtung einer kultischen Ordnung als eines göttlichen Gebotes; solches Gesetz gottesdienstlicher Form schien ihm der Art und Freiheit Gottes zu widerstreiten, dessen Geist weht, wo er will; es schien ihm eine in der Geschichte gewordene Gestalt zu Unrecht der Fehlsamkeit und Vergänglichkeit alles Menschenwerkes zu entnehmen. Darum verzichtet die Augsburgische Konfession ganz bewußt auf die Einheitlichkeit der „Liturgie”; „und ist nicht not, zu wahrer Einigkeit der christlichen Kirchen, daß allenthalben gleichförmige Zeremonien von den Menschen eingesetzt gehalten werden”. Hinter diese Erkenntnis können wir nicht mehr zurückgehen. Weder die Einheit der christlichen Kirche noch die Feierlichkeit des christlichen Gottesdienstes ist uns begründet in einer überall und immer gleichmäßig zu wahrenden Form. Wir kennen keine geoffenbarte Liturgie, keine Liturgie als kultisches Gesetz. Aus zwei sehr verschiedenen Quellen kam in der Mitte des vorigen Jahrhunderts und um die Jahrhundertwende eine neue Wertschätzung der Liturgie. Nachdem Pietismus und Aufklärung ebenso die noch vorhandenen Reste reicher gottesdienstlicher Formen wie den aus fernen Jahrhunderten überkommenen Schmuck der Gotteshäuser der Nüchternheit und zeitgemäßen Verständigkeit geopfert hatten, hat man im 19. Jahrhundert das kostbare Erbe neu entdeckt. Man beseitigte mühsam die Kruste weißer oder schwarzer Ölfarbe, mit der eine unglaublich selbstherrliche Zeit Wände und Altäre der Gotteshäuser überzogen hatte, und fing an, die kostbare Farben- und Formenfreudigkeit vergangener Zeiten im Gotteshaus pietätvoll zu pflegen und zu erneuern. Aber wir wissen heute, daß diese kirchliche Restauration keineswegs nur ein Glück, sondern zugleich eine ungeheure Gefahr und ein verhängnisvoller Schaden für unsere Kirche geworden ist. Man fing an, das Alte zu lieben. Man baute Kirchen in der als allein kirchlich anerkannten Formensprache der Gotik, man pflegte den rhythmischen Choralgesang, während das Volkslied entartete, und wunderte sich dann, wenn die breite Masse des Kirchenvolkes lieber die dem schlechten Geschmack der Zeit entsprechenden „geistlichen Lieder” sang, als die wuchtigen alten Choräle, zu deren archaischer musikalischer Form man keine Zugang mehr hatte. Man hatte die Liturgie „eingeführt”; aber sie war und blieb, von wenigen kleinen Kreisen abgesehen, eine altertümliche Merkwürdigkeit, die man um des scheinbaren Zusammenhanges mit der Geschichte willen ehrfürchtig bewahrte, aber bei der doch das Herz des in der neuen Zeit stehenden Menschen im Grunde unbewegt und unbeteiligt blieb. Eine zeitgemäße Predigt war weitaus vorzuziehen. So gewann die Liturgie durch die Art, wie die Restaurationsperiode des 19. Jahrhunderts sie einführte, den Charakter eines ehrwürdigen Museumsstückes, das manche um seiner altertümlichen Größe willen schätzten und liebten, das aber, im tiefsten Grund unlebendig, keine wirkliche Beziehung zu dem heutigen Leben hatte. Auch in der neuesten liturgischen Bewegung finden sich Männer, die die Liturgie um ihres „Edelrostes” willen preisen; sie ahnen nicht, einen wie schlimmen Dienst sie damit der Kirche und der Liturgie erweisen. Die Kirche lebt nicht von ihrem Alter, die Formen nicht davon, daß sie nach vergangenen Mustern gebildet sind. Wir begreifen die Hilflosigkeit und Gleichgültigkeit gegenüber der Liturgie, wenn sie nichts anderes ist als ein Stück Vergangenheit, das durch Liebhaber des Alten wieder belebt ist und Ehrfurcht fordert nur darum, weil es alt ist. Aber es sind keineswegs nur die Lobredner des Alten, sondern gerade Liebhaber des Neuen und Neuartigen, die eine Erweiterung und stärkere Betonung der Liturgie fordern. Man klagt darüber, daß die Predigt doch nur einen sehr beschränkten Kreis von Menschen erreiche; man verweist auf die Erfahrung, daß in manchen unserer ehrwürdigen alten Kirchen der sonntägliche Predigtgottesdienst kaum von 40 oder 50, selten einmal von 100 Menschen besucht ist, während zu musikalischen Feierstunden der gleichen Kirche 2-3000 Besucher zusammenströmen. Der Protestantismus hat, so sagt man uns, versäumt, was der Katholizismus so vortrefflich verstehe, nicht nur auf den Verstand, sondern auf die Sinne zu wirken und das ästhetische Bedürfnis der Menschen zu befriedigen. Man müsse darum für reicheren Schmuck der Gottesdienste sorgen, müsse die Nüchternheit des evangelischen Predigtgottesdienstes durch einen reichen und mannigfaltigen Aufbau von Gesang und Lesung, Wechselrede und sinnbildlichen Handlungen überwinden. Aus diesem Empfinden heraus sind an verschiedenen Orten die mannigfaltigsten Versuche reicher Liturgien entstanden; eine fast unübersehbare Literatur solcher liturgischer Ordnungen ist im Lauf weniger Jahre entstanden. Es ist eine ganz bestimmte religiöse Wandlung, die zu einer neuen Entdeckung und Wertschätzung der Liturgie führt. Die Predigt ist der notwendige Ausdruck des „aktuellen” Charakters der göttlichen Wahrheit; diese Wahrheit ist keine blasse Allgemeinheit, sondern sie leuchtet an einem bestimmten Geschehnis auf und fordert von dem, der sie hört, Gehorsam in seiner bestimmten Lage. Das findet seinen notwendigen Ausdruck in der Predigt als dem ganz persönlichen Zeugnis des einzelnen lebendigen Menschen. Darum haftet der Predigt notwendigerweise - das ist ihre Stärke und Schwäche - ein ganz persönliches Moment an. Kein wirklicher Prediger kann die Predigt halten, die ein anderer ausgedacht und ausgearbeitet hat; kein wirklicher Prediger kann die Predigt, die er vor einigen Wochen gehalten hat, unverändert wiederholen. Aber gerade in dieser persönlichen und aktuellen Zuspitzung der Predigt liegt ihre besondere Not. Diese Not wird um so stärker empfunden, je ernster wir verlangen, nicht in den Bannkreis einer menschlichen Individualität, sondern in den Machtbereich der Wahrheit zu treten. Gerade diese Wandlung vollzieht sich aber heute, und sie ganz ernsthaft zu bejahen, ist eine der wesentlichen Aufgaben, die uns in der Gegenwart gestellt sind. Wir fangen an, wieder zu begreifen, daß es gerade nicht nur auf das ganz Persönliche und Individuelle, sondern auf das Allgemeine, Dauernde, Bleibende, nicht nur auf das „Aktuelle”, das in eine bestimmte Situation hineingesprochen werden soll, sondern auf den sozialen und geschichtlichen Lebenszusammenhang der Kirche ankommt. Wohl wissen wir, wieviele Einzelne auch heute zur Kirche kommen, um sich erbauen, das heißt ihr persönliches religiöses Leben anregen, vertiefen und befruchten zu lassen. Aber wir begreifen doch wieder, daß der Geist Gottes eben nicht nur viele einzelne Seelen erbauen, sondern seine Gemeinde bauen will. Wir suchen die Kirche mit ihrer heiligen und verpflichtenden Verkündigung, die Kirche, die dem unsteten, einsamen und in sich schwankenden Menschen Ordnung und Heimat bringt. Die Kirche, die uns aus unserer Vereinzelung und unseren Sonderschicksalen herausruft und als die Menschen, die wir sind, eingliedert in den lebendigen Leib Christi. Diesen Dienst kann und will die Liturgie tun. Zunächst ist die Liturgie das feierliche gemeinsame Bekenntnis zu der Lage, in der wir sind als die auf Erden lebenden Menschen, die getroffen sind von dem Morgenglanz der Ewigkeit, als die Geschöpfe Gottes, über die Gott in Christus sein Urteil und sein Verheißungswort gesprochen hat. Sie ist der feierliche Ausdruck der Grundhaltung, in der sich die Gemeinde zu Gott und seinem Christus bekennt. Damit spricht die Liturgie die Grundlage aus und stellt sie sozusagen in feierlichem Ausdruck von neuem her, um deretwillen evangelischer Gottesdienst überhaupt möglich und sinnvoll ist: Gott lebt und sein Ruf hat uns erweckt. Wir suchen Gott, weil er uns sucht. Wir nahen uns seiner Majestät und beugen uns unter die Herrlichkeit seiner Offenbarung. Wir haben das Wort gehört, das er in Christus gesprochen hat, und haben aus seiner Fülle genommen Gnade um Gnade. Gott hat seine Kirche in der Welt gestiftet und wir bekennen uns zu der Wahrheit, die diese Kirche begründet. Darum sind wir hier versammelt, darum gehen wir Fremden einander etwas an, darum wollen wir zwischen dem vielen und über dem vielen das Eine hören. Hier sind wir alle, so verschieden wir sind von Angesicht, Schicksal, Erlebnissen und Gedanken, in der gleichen Lage, bekennen uns zu dieser letzten und tiefsten Verbundenheit und können darum das Anliegen, das unser aller Anliegen ist, in gemeinsamem Gebet vor Gott aussprechen. Man könnte sagen, daß der ganze Sinn der Liturgie schon in dem Eingang seinen klassischen Ausdruck finde. Ein Eingangswort je nach der Kirchenjahreszeit oder nach dem Charakter des einzelnen Sonntags eröffnet den Gottesdienst; aber die Gemeinde antwortet in feierlicher Wiederholung jedesmal mit dem gleichen Wort der Anbetung: „Ehre sei dem Vater und dem Sohn und dem heiligen Geist, wie es war im Anfang, jetzt und immerdar und von Ewigkeit zu Ewigkeit!”; sie stimmt mit ein in den Lobpreis Gottes, der durch die Jahrtausende geht und stellt sich selbst damit in den unendlichen Zusammenhang der Wahrheit, gleich den Engeln, die in dem Paradeisspiel alles Handeln Gottes und der Menschen begleiten mit dem feierlichen Gleichmaß ihres Lobgesangs: Wir loben dich schonInsbesondere ist es die unaufhebbare Doppelheit, die immer in unserem Gottesverhältnis ist, die auch in der Liturgie ihren feierlichen Ausdruck findet: Wir stehen vor Gott als die keinen Ruhm, kein Recht, keinen Anspruch haben, die Gottes nicht mächtig sind, sondern ganz und gar und in jeder Hinsicht seiner Gnade bedürftig; und wir stehen zugleich vor Gott als die, die seine Barmherzigkeit erfahren haben, denen das Heil verheißen ist, die zur Kindheit berufen sind und darum, d a r u m mit allen Kindern Gottes auf Erden und im Himmel in den Lobpreis und die Anbetung vor dem himmlischen König einstimmen. Darum steht das Kyrie und das Gloria hart neben einander in der Liturgie der evangelischen Kirche. Gewiß, es sind zwei Stück der alten römischen Messe, und aus mancher musikalischer Bearbeitung wohl bekannt, zwei Stücke, die Luther in seine deutsche Messe übernommen hat und die von hier aus in die meisten deutschen Gottesdienstordnungen eingegangen sind. Aber sie haben hier eine neue Ernsthaftigkeit und einen neuen Zusammenhang gewonnen. Sie sind gerade in ihrem Gegensatz, in der unaufhebbaren Einheit dieser unerhörten Spannung der eigentliche Ausdruck des evangelischen Rechtfertigungsglaubens: Als die Menschen, die Kyrie eleison singen und singen müssen, singen wir zugleich das Gloria in excelsis. Wir bekennen uns zu beidem und wissen uns eben in beidem mit der ganzen Christlichen Kirche verbunden. Freilich nicht das ist die Meinung, daß wir etwa in jedem einzelnen Gottesdienst durch die Liturgie verpflichtet und angeregt würden, uns durch die Stimmung der Buße zu einer Stimmung des Lobpreises hindurchführen zu lassen. Das ist ja ganz unmöglich und ein völliges Mißverstehen der Liturgie. Sie will nicht eine Reihe von Stimmungen nacheinander herstellen, die man dann vorschriftsmäßig zu bestimmter Minute erleben und ebenso vorschriftsmäßig wieder in einer andern Stimmung vertauschen sollte, sondern sie will die innere Ordnung der Wahrheit in feierlicher Form aussprechen und bekennen. Es war darum besser, solange Kyrie und Gloria hart und unvermittelt nebeneinander standen, als später, da man versuchte, durch vorangehende Ermahnungen die eine und die andere Stimmung psychologisch zu vermitteln. Oder ein anderes Beispiel. Der feierliche Gruß, der zwischen dem Liturgen und der Gemeinde hin und her geht: „Der Herr sei mit euch ... und mit deinem Geiste” kehrt in der römischen Kirche ganz formelhaft neunmal wieder. Er ist in unserer Liturgie nur an einer, höchstens an zwei Stellen erhalten geblieben. Mit Recht, denn nun kann er hier ganz ernst genommen werden als die gegenseitige Fürbitte des Liturgen für die Gemeinde, der Gemeinde für den Prediger; die tragende Fürbitte ist aber die Voraussetzung, ohne die es einen wirklichen Dienst des Pfarrers, in der evangelischen Kirche nicht geben kann; und es wäre vielleicht zu wünschen, daß diese gegenseitige Fürbitte noch deutlicher, unmißverständlicher und mit etwas mehr Worten in der Liturgie zum Recht käme, als es in diesem kurzen Grußwort geschieht. So ist es immer die Kirche und das Bekenntnis zur Kirche, was in der Liturgie laut wird. Sie ist gerade der Gegensatz zu dem sich auch im Gottesdienst breitmachenden Individualismus und Subjektivismus. Darum hat die Liturgie ihre streng gebundene Form, ihre feierliche, dem Alltag entrückte Sprache; sie wahrt eine keusche Zurückhaltung in der Art, wie sie von ihrer Sache redet. Sie vermeidet es, in Gefühlen zu schwelgen und will ihr Wort eben so sagen, daß es von allen gehört und gesagt werden kann. Aber darum ist sie auch nicht gebunden und darf nicht gebunden werden an eine bestimmte altertümelnde Form. Auch die ehrwürdigsten Sprachsymbole können sterben, und wenn ich aus eigener geschichtlicher Bildung heraus um meiner ästhetischen Freude an dem Fremdartigen und Altertümlichen willen die Liturgie an die Form vergangener Jahrhunderte binden wollte, so wären ja gerade damit alle die ausgeschlossen, die diese Form nicht zu verstehen, nicht lebendig aufzunehmen und nicht selbst ihr Singen und Beten in diese Form zu kleiden vermögen. Auf der andern Seite freilich wahrt die Liturgie den Zusammenhang mit der Geschichte und mit dem Ganzen der Christenheit. Wir werden im einzelnen wohl gern das Opfer bringen, eine uns ungewohnte und zunächst fremdartige Form zu tragen, Wenn wir uns eben in dieser Form zu dem großen Zusammenhang der christlichen Kirche bekennen. Darum rühren wir nicht an die feierlichen Worte des Kyrie eleison und des Gloria in excelsis, eben darum singen wir gern die altertümlichen Worte der Präfation im Abendmahl, das Sanctus und das Benedictus, weil Worte und Weisen uns geheiligt sind durch die Zahl der Jahrhunderte und durch die ungezählten Scharen derer, die mit diesen Worten zu Gott gebetet und zu Gottes Ehre gesungen haben. Und gerade den Dienst kann uns nichts so sehr wie die Liturgie erweisen, daß wir aus dem Wichtignehmen unserer besonderen Lage und unserer besonderen Not herausgerettet werden, um uns einordnen zu lassen in das Ganze der Christenheit. Wenn Johann Albrecht Bengel gesagt hat, das Christenleben bestehe darin, daß wir das Vaterunser beten lernen, so könnte dieses Wort auch auf die Liturgie Anwendung finden: Das eine Gebet, das Jesus seine Jünger lehrte, und das heilige Mahl, zu dem sich die Gemeinde seiner Jünger zusammenfindet, ist Haupt und Ziel jeder christlichen Liturgie. Alle ihre feierlichen Formen sind eine Hinführung und Hilfe zu dem einen, daß wir, durch den Geist Gottes gemeinsam berufen und zu der Gemeinde versammelt, miteinander als die Kinder zu dem Vater beten und miteinander in dem Brotbrechen die Gemeinschaft des Leibes Christi bekennen können. Das Gottesjahr 1929, S. 67-74 © Bärenreiter-Verlag zu Kassel |
© Joachim Januschek Letzte Änderung: 12-10-14 |