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Der Sonntag
von Adolf Köberle

LeerWenn wir von den mannigfachen Nöten und Entartungen unserer Zeit sprechen, von der schamlos gewordenen Mode und der öffentlichen Verwilderung, von den zerstörten Ehen, den leiblichen und seelischen Zusammenbrüchen erwachsener wie junger Menschen, dann sollte man dabei nicht vergessen, auch von dem krank gewordenen Sonntag zu reden. Ja, ich meine, man sagt nicht zuviel, wenn man die eigentliche, tiefst verborgenen Not unserer Tage darin findet, daß wir ein sonntagsloses Volk geworden sind. Denn damit, daß wir verlernt haben, diesen Tag recht zu feiern, ist uns eines der wichtigsten und wertvollsten Lebensgesetze verloren gegangen, das es für Menschen auf Erden überhaupt gibt, das Gesetz über den Zusammenhang von Stille und Kraft, von Ruhen und Wirken, von Gebet und Tat. Wo diese Einheit zerrissen ist, da wird notwendig alles auseinanderbrechen: Zucht und Treue, Ehe und Beruf, da wird alles möglich: Hast und Gier, Ermattung und Zerfahrenheit, gereiztes Wesen, ein Chaos von Gelüsten nach dem Gold und dem Eros und zuletzt die Schwermut. Versagt schon jedes Gerät und jedes Tier den Dienst, wenn man ihm keinen Feierabend gönnt, wieviel mehr dann erst der Mensch, „der nicht vom Brot allein lebt”, wenn ihm der Sonntag abhanden gekommen ist!

LeerAber haben wir denn nicht die öffentliche, vom Staat anerkannte und gesetzlich überwachte Sonntagsruhe, noch dazu in einem so ausgedehnten Maß, wie es früher nie der Fall war? Ruhen nicht allsiebentäglich die Hämmer, die Treibriemen, die Schreibmaschinen und damit auch die von ihrem Lärm abgehetzten Menschen? Allein was hilft das alles, wenn wir so völlig verlernt haben, diesen uns gewährten freien Tag auch zu  h e i l i g e n . Die allermeisten Menschen stehen heute diesem köstlichen Geschenk so hilflos gegenüber, wie das Kind dem Reichtum. Die einen spielen das Presto des Lebens in zwangvoller Unrast weiter, nur mit dem einen Unterschied, daß man einen Tag lang einmal das Instrument vertauscht: das Geklapper der Maschinen wird abgelöst vom Geknatter des Motors, die Nervenanspannung im Büro setzt sich fort in der heißen Erregung des Sportplatzes und der Rennbahn. Andere versuchen wohl zu ruhen und dennoch will ihnen keine aufbauende Kraft daraus zuströmen.

LeerDenn was hilft es, wenn man die wochenüber angesammelte Bitterkeit und Erregung ungelöst, unerlöst in den Wald hinausträgt! Die Natur pflegt dem zerrütteten, verzweifelten Sinn stumm zu bleiben, nur einem erneuerten, reinen Gemüt enthüllt sie sich wirksam in ihrer göttlichen Schönheit und Verheißung. Was hilft es, wenn das Geschwätz der Straße, das andachtslose Genießen der Nahrung im bürgerlichen Daheim, im Freien und in der Gaststätte am Sonntag unverändert weiter geht gleichwie am Werktag! Nein, davon wird der kranke Sonntag noch nicht gesund, daß ich an ihm nichts tue oder etwas anderes treibe als an den vorangegangenen sechs Tagen. Wären die Welt und wir in ihr nur ein mechanisches Gebilde, dann könnte man vielleicht mit solchen Rezepten von dem Wechsel oder der Pausierung der Arbeit auskommen, dann könnte man, weil ja Zeit Geld ist, schließlich auch erst jeden zehnten Tag einen Abschnitt machen, wie man es während der französischen Revolution einmal versuchte, als man die menschliche Vernunft als Göttin auf den himmlischen Thron gesetzt hatte. Aber all diese rationalen Lösungen sind namenlos oberflächlich und ohne jede Heilkraft. Gott sei Dank fangen denn auch heute immer mehr Menschen an, ihren Trug zu durchschauen.

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LeerEine Woche ist lang und viel sammelt sich in ihr an, nicht nur große Müdigkeit an „Haupt, Füß' und Händen”, sondern auch viel kranke Gedanken, harte, nicht mehr gut zu machende Worte, böse Leidenschaften, häßliche Träume, viel Schuld und Gewissensnot. Gerade aber  d e r  Schaden, der von  i n n e n  her kommt, frißt und zehrt an uns, schwächt und bedrückt uns, ob es zu Bewußtsein kommt oder nicht, viel mehr als alle leibliche Anspannung, ja er ruft sie sehr oft überhaupt erst hervor. Von solcher tiefsten Menschheitsnot zu erlösen, die weder der wilde Genuß noch die Einsamkeit stillt, ist der Sonntag uns gegeben. Er ist ja seinem Ursprung nach keine menschliche Einrichtung, aus irgendwelchen Nützlichkeitserwägungen hervorgegangen. Er geht zurück auf den lebendigen, kräftigen Willen Gottes selbst, der in die Zeit eingebrochen ist, seiner verirrten Welt zu helfen, und der ihr seitdem im Strom der Zeit immer aufs neue begegnen will.

LeerDrei Worte voll Ewigkeit sagt uns der Sonntag nach seiner geschichtlichen Herkunft und Stiftung: Schöpfung, Auferstehung und Ausgießung des Heiligen Geistes, aber man darf sie nicht nur verstehen als Worte, als Historie einer fernen Vergangenheit, sondern als lebendige Tatsachen, die auch uns immer noch gelten, die auch uns tragen und erneuern sollen. Den geängsteten und zerschlagenen Herzen will der Tag des Herrn den Frieden bringen, gleichwie Christus am Ostermorgen seine Jünger tröstlich gegrüßt hat. Gefallene sollen aufgerichtet werden, die Zweifelnden sollen gewiß, die Müden stark und die Traurigen fröhlich werden! Jeder Sonntag möchte uns, könnte uns ein neues Ostern, ein neues Pfingsten schenken. Immer möchte er durch sein Kommen auch an uns und in uns etwas von dem bewirken, worauf er als der Anfang aller Tage hinweist: „Heut hat das Werk der Schöpfung angefangen, da diesem Rund das Licht ist aufgegangen.”

LeerWeil aber der erneuernde Segen des Sonntags nicht aus ihm selbst stammt, sondern von dem Herrn der Geschichte, der so viel Hilfe und Heil darein gelegt hat, darum kann auch für uns dieser Ruhetag nicht zum Feiertag werden, es sei denn, daß wir an ihm vor  G o t t  stille werden, sein lebendig machendes Wort hören und es an uns wirken lassen. Ausschlafen, üppig Essen und Trinken, Bücherlesen, Spazierengehen, Sich-selbst-überlassen-bleiben machen noch keinen Sonntag. Es muß von außen her etwas an uns umwandelnd geschehen, es muß gleichsam ein Magnet angesetzt werden, der die Kraftlinienfelder bei uns wieder kräftig sammelt, deren Ordnung die Woche durch so viele ablenkende Fremdströme zerstört hat. Dies zu bewirken ist zuvörderst der Gottesdienst da, der alles andere, Fahrt und Spiel, Stille und Geselligkeit zu verklären vermag, der selbst aber durch nichts von alledem ersetzt wird. Freilich nicht von jedem Gottesdienst darf so Großes gesagt werden, nicht von sentimentaler Andacht noch von kultischer Spielerei noch von dem Predigtvortrag eines um seine Personalgemeinde gescharten Rhetors. Wir meinen die heilige Feier, die in ihrem Gang eingebettet ist in den ewigkeitserfüllten Rhythmus des Kirchenjahres, die getragen ist von dem brüderlichen, glaubenstärkenden Choral, der zuchtvollen, anbetenden Liturgie, die gesegnet ist durch eine gehorsame, geisterfüllte und lebenswahre Schriftauslegung und die sich in der gemeinsamen Fürbitte und Danksagung vollendet. In diesem recht verstandenen Sinn in verantwortlicher Treue mitgehalten, vermag eine solche Stunde jedem Kirchgänger eine Kraft der Reinigung und Erneuerung zu geben wie kein anderer Gang am Sonntag.

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LeerDie rein individuelle, gottesdienstlose Frömmigkeit bleibt schweren Verirrungen ausgesetzt. Es ist nicht gleichgültig, ob ich in der Kammer die Losung lese, einsam in der Natur feiere oder ob ich Gott in seinem Hause lobe. Es hat einer einmal die sehr wahre Beobachtung ausgesprochen: „Wer nicht zu bestimmten Zeiten betet, der betet auch nicht zu unbestimmten.” Überlassen wir die Andacht allein dem inneren Drang und der Stimmung, so endigt unser Gottesdienst bei der angeborenen Trägheit und Lauheit der Natur praktisch nur allzu gern mit der Unterlassung. Oder, um anderes zu nennen: Wie leicht eilt die selbstgewählte Erbauung vorüber an der Buße und übersieht in falscher Sicherheit, was Gott allein in Gnaden übersehen kann. Wer denkt an die „Betrübten, Kranken, Angefochtenen und Sterbenden”, wenn ihn nicht die Glocken zum Gebet der  G e m e i n d e  rufen. Wer das Wörtlein „Unser” aber nicht sprechen lernt, der hat nach Anschauung des Neuen Testamentes Gott überhaupt noch nicht erkannt. Darum werden wir auch dadurch noch nicht froh und frei, darum wird der Sonntag dadurch noch nicht geheiligt und gesegnet, daß er der sinnlichen oder der religiösen Selbstbefriedigung dient, sondern dadurch, daß wir uns hineinziehen lassen in die großen, reichen Liebesgedanken, die Gott mit uns und der ganzen Welt hat.

LeerWas aber weiter über den Sonntag und seine Gestaltung zu sagen ist, das läßt sich auf diesem Grund dann sehr kurz und schlicht beschreiben. Augustin hat einmal das Wesen der christlichen Ethik sehr tief und wahrhaft evangelisch in die wenigen Worte zusammengefaßt: ama et fac quod vis - das heißt etwas freier, aber sinngemäß übersetzt: hab Gottes Liebe im Herzen und dann tu, was du willst! Ähnlich möchte man auch hier sagen: Heilige den Sonntag durch Gebet und Gottes Wort, alles andere wird dann von selbst recht werden.

LeerWer sich allsonntäglich ein Ostern und Pfingsten schenken läßt, der wird in seiner Feiertagshaltung und -gestaltung ebenso frei vom „Geist der Furcht” wie von Geist der Zuchtlosigkeit werden, aber schöpferisch reich im „Geist der Liebe”. Fern ist uns dann das gesetzlich und langweilig verlaufende puritanische Fest, wo die Kinder nicht im Garten spielen und nur gedämpft lachen dürfen, wo kein Musikton erklingen soll und die Erwachsenen steif und gequält einhergehen. Der Mensch ist nicht um des Sabbats willen da. Aber noch viel ferner liegt uns der willkürliche, unordentliche, genießerische Sonntag, der unsere Kraft statt sie zu erfrischen auszehrt, der das Herz nicht reinigt, sondern beschmutzt, der das Gebet vertreibt und die neue Woche zur Plage macht.

LeerAll diesen Verkehrungen nach rechts und links gegenüber lautet der Grundsatz rechter evangelischer Sonntagsführung: In Freiheit, aber in Zucht! Im Konkreten wird und muß das dann bei einem jeden einzelnen und seinem Haus gar verschieden aussehen. Wen eine unruhige Berufswoche ausgehöhlt hat, der suche die Stille. Wen die Abgeschiedenheit seiner Arbeit bedrückte, der lade sich liebe Freunde. Wer allzuviel reden mußte, der sammle Kraft im Schweigen. Und wem die vielen Bilder des Werktagselends den Mund verschlossen haben, der suche lösende Aussprache bei Brüdern und Schwestern. Der Vater, der von seinen Büchern die Woche über nicht loskommt, soll nicht meinen, er müsse auch am Sonntag darüber sitzen, und die Mutter versage sich nicht die erquickende Lektüre beim Blick auf den Flickkorb der kommenden Woche.

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LeerWer den Leib bei hartem Schaffen im Handwerk und auf dem Acker überfordern mußte, der ruhe daheim, und wer in Sesseln und Stuben ihn träge schonen mußte, der setze seine „Bruder Esel”, wie der heilige Franz den Leib gern genannt hat, in Trab. Wer wollte hier Vorschriften machen, beschwerende Lasten auferlegen, kasuistische Systeme entwerfen, wenn nur das eine Wort unser Denken und Handeln lebendig regiert, das höchste Freiheit und höchste Bindung in vollkommener Weise umschließt: Alles ist euer, ihr aber seid Christi, Christus aber ist Gottes.

LeerWie der Sonntag, so der Werktag. Es ist wahr, wie es in einem zu Unrecht so wenig bekannten Lied des bayerische Gesangbuchs heißt: „Der erste wird die andern sechse zieren” oder er „macht sie voller Plag”. Von daher mag man beim Blick auf unser Volk mit Schrecken ermessen, was das heißt: Sonntagslose Jahre, sonntagslose Generationen, wo durch alle Tore der Sinne unaufhörlich die zersetzenden Mächte der Zerfahrenheit, Unkeuschheit und Weltgier eindringen und niemand da ist, der ihnen zu wehren vermag. Aber all das ist ja nur die dunkle Kehrseite, die Rache des Mißbrauchs für eine ganz herrliche Wahrheit. Es ist möglich, in Zucht und Reinheit, in Nächstenliebe und Berufstreue in dem zermürbenden Kampf des Werktags zu stehen, weil es einen Sonntag gibt, der Frieden in bedrängte Herzen gießt und der Brot des Lebens reicht als Kraft zu neuem Gehorsam. Es ist mit Sonntag und Werktag immer so bestellt, daß entweder  B e i d e s  in Ordnung oder  B e i d e s  in Unordnung ist. Kranke Sonntage machen böse Werktage und das verirrte Wochenwerk gebiert wieder eine verkehrten Sonntag. Aber die Erfahrung von diesem Gesetz des Todes ist uns nur dazu zum Gericht gegeben, daß wir daran das Gesetz des Lebens erkennen und zu ihm gelangen. Die den Feiertag heiligende Gemeinde wird freudig und stark zur Arbeit sein und der den Werktag rechtschaffen Nützende wird wiederum hungrig und dankbar nach dem Sonntag sein. Aus dem Gottesdienst fließt die Bereitschaft zum Dienst, um wieder zurückzumünden zu dem Kraftzentrum, wovon sie ausging. So gilt auch von dem Edelgut des Sonntags das an Verheißung wie an Gericht gleich inhaltsschwere Wort Jesu: Denn wer da hat, dem wird gegeben, und wird die Fülle haben; wer aber nicht hat, dem wird auch das, das er meint zu haben, genommen werden.

Das Gottesjahr 1929, S. 38-42
© Bärenreiter-Verlag zu Kassel

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-10-14
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