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von Wilhelm Stählin |
Kaum wissen wir mehr den Namen, kaum wissen wir mehr, was es bedeutet, daß man die Wochen, die dem Gedächtnis der Passion des Herrn geweiht sind, die Fastenzeit nannte. Was wissen wir denn von Fasten? Wenn die Not uns zwingt, das Fett allzu dünn aufs Brot zu streichen, wenn unsere Kinder nicht mehr wissen, wie frische Vollmilch schmeckt, wenn wir wissen, daß alle die köstlichen Dinge im Fleischerladen nicht für uns dahängen, das ist nicht fasten. Es gab Menschen, die hatten alles die Fülle; das Land war breit und der Menschen waren nicht so viele; es gab Fleisch und Milch und süße Butter genug; aber sie wollten fasten. In den Wochen der Passion, am strengsten in der heiligen Woche selbst, auch an manchem anderen Tag, den die Kirche wie jeden Freitag zum Festtag bestimmt hatte, da versagten sie sich mit freiem Willen die guten Dinge, die Gott doch den Menschen zu Nutz und Frommen hat wachsen lassen, und kochten sich nicht etwa andere köstliche Speisen zum Ersatz, sondern sie fasteten wirklich und aßen nur, was des Leibes dringende Notdurft war. Die Fastenzeit zu halten, das galt ihnen für ein nicht geringes Stück eines frommen Lebens. Wie weit sind wir erhaben über solchen Wahn! Meinten, sie möchten Gott mit Fasten ehren! Meinten, das Reich Gottes stehe im Essen oder im Nicht-essen irgendeiner Speise! Meinten, sie könnten den schmachvollen Leidensweg ihres Heilandes ehren mit einem so äußerlichen Werk wie Fasten! Wir sind befreit zu der evangelischen Freiheit, die uns lehrt, daß es Gottes Willen und Wohlgefallen sei, wenn wir seine liebreichen Gaben dankbar und fröhlich genießen. Wider den Fanatismus und die Finsternis derer, die den Kampf gegen Alkohol und Zigarre als ein Stück der christlichen Sittlichkeit ausschreien, müssen wir die Freiheit der Kinder Gottes, denen alles zu eigen gehört, als Panier aufrichten. Uns soll keiner mehr betrügen mit dem Wahn, durch Fasten würde der Himmel erworben. Mag es Zeiten gegeben haben, in denen es not war, also gegen das Fasten zu predigen; ganz gewiß aber gibt es eine Zeit, daran das Geschlecht neu lernen muß die Kunst und Weisheit der Väter: Fastenzeiten zu halten. Und das ist unsere Zeit und das ist unser Geschlecht. Aber wer fasten kann, hindert, daß die Ordnung zum Joch werde. Es ist für die Seele ein großes Ding und macht sie frei und froh wie wenig Dinge, einmal nein zu sagen zu dem süßen Schlaf und zu dem weichen Bett und zu mancher Speise und Trank, die wohlschmecken und nach denen es heftig gelüstet. Ich kannte einen Jüngling, der schlief in jeder Woche eine Nacht nur in seine Decke gehüllt neben dem Bett auf dem blanken Boden, und er hatte einen freien und stolzen Gang und in seinen Augen blitzte ein rechter und kühner Übermut. Nur laßt das Fasten ein ganz verschwiegenes Tun sein, kein Werk, das scheint und gleißt, nicht vor Menschen noch gar vor dem lebendigen Gott; nur eine heimliche Huldigung vor der Königin Seele. Fastenzeiten braucht unsere Andacht. Zwischen Weihnachten und Karfreitag liegt die Fastenzeit. Das göttliche Kind ist im Stall geboren und lag auf Heu und Gras in der harten Krippe; Mutter und Kind hatten nicht, womit sonst Liebe und Fürsorge Mutter und Kind umgeben. Wohl, Kindern - und nicht nur Kindern - gehört es zum Fest, daß es auch viele köstliche Dinge zu essen und zu genießen gibt. Aber sollten wir nicht auch einmal fasten können dem armen göttlichen Kind zu Ehren? Und der Weg des Mannes war ein Weg der Armut und des Entbehrens; er hatte nicht, da er sein Haupt hinlegte, und wenn er auch gewiß den Kreis fröhlicher Menschen nicht gemieden hat, so hat er doch wahrlich Hunger und Durst gekannt; und dann ging er den letzten Weg der Qual, der Wunden und des Blutens. Kann man - was die fromme Betrachtung nie unterlassen hat - sich recht in das liebreiche Leiden des Heilandes versenken, wenn man sich alle Tage sein essen wohlschmecken läßt und alles genießt, wonach einem gelüstet, und wohl weiß, daß zur rechten stunde das weiche Lager bereit ist? Freilich: kein Fleisch essen und dafür andere Dinge, die vielleicht noch besser munden als das teure Fleisch, das ist kein Fasten. Aber braucht es nicht unsere Andacht, daß wir ihren Ernst bekräftigen - ach nicht vor Gott und nicht vor Menschen, sondern allein vor uns selbst -, indem wir freiwillig entbehren und verzichten auf das, was uns lieb und angenehm und köstlich wäre? Gar kein verdienstliches Werk, aber ein Jasagen des Leibes zu dem, was die Seele sinnt und glaubt und liebt. Ob nicht manche Andacht und manche Passionsbetrachtung darum fade und unkräftig ist, weil nicht der heimliche Ernst des Fastens hinter ihr steht? Aber wehe uns, wenn die Liebe, das große Erbarmen in uns kalt wird, wenn wir vergessen, die der Herr seine Brüder genannt hat. Und wie können wir gedenken ohne Fasten! ohne daß wir um der Liebe willen und um der Scham willen einmal lassen, was unser eigen und unser „gutes Recht” ist! Wir sollen freilich nicht wähnen, es könnte dem armen Bruder ein Trost sein, wenn er uns fasten sieht; ach, er weiß, daß wir uns morgen wieder an die volle Schüssel setzen. Aber heimlich nur aus der großen Scham dessen, der es gut hat, und heimlich, daß die linke Hand nicht weiß, was die rechte tut, nur daß die Liebe nicht sterbe, und daß sie ernst bleibe mit dem großen Willen zum Opfer, laßt uns unsere Fastenzeiten halten. Und wahrlich, Freund, keine Zeit ist so geschickt dazu, daß wir sie als Fastenzeit halten um der Freiheit unserer Seele, und um der ernsthaften Andacht, und um der rechten Liebe willen, als die Wochen, da wir an das Leiden des Herrn Christus gedenken. Das Gottesjahr 1924, S. 61-65 © Greifenverlag Rudolstadt (Thür.) |
© Joachim Januschek Letzte Änderung: 12-10-12 |