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Verzicht
von Wilhelm Stapel

LeerDer natürliche Mensch lebt so, als ob er selbst der Mittelpunkt des ganzen Weltgeschehens sei. Die Sonne hat sich aus dem Chaos gebildet, die Planetenringe lösten sich von der Sonne und ballten sich, die Erde wurde fest, und die lebendigen Wesen entstanden und entwickelten sich immer höher, nur damit  e r  da sei und auf die verworrene Menschen- und Weltvergangenheit von der Höhe seines Hauptes hinabblicken könne. Es  k a n n  auch nicht anders sein.  J e d e s  lebendige Wesen ist der Mittelpunkt seiner Welt, wie es vermeint: „der” Welt. Überall, wo ein Bewußtsein aufstrahlt, strahlt es von einem  P u n k t e , von einem „Ich” aus, und die Dinge in Raum und Zeit sind diesem Ich entweder näher oder ferner. Ein jeglicher geht nicht nur  i n , sondern auch  m i t  seiner Weltkugel spazieren wie die Schnecke in und mit ihrem Gehäuse. Alle Strahlen der Welt schneiden sich in seinem Ich. Die Strahlen, die nicht irgendwie da hineintreffen, sind für das Ich nicht da. Also: es gibt soviele subjektive Welten, wie es Ichs gibt. Und nun komme einer und predige: das Ich und die Ichsucht ist die Wurzel alles Übels! Auf und rottet das Ich aus! Er hat gut predigen. Das Ich und seine Sucht ist die Wurzel alles  L e b e n s . Wagst du zu sagen: Rottet das Lebens aus?

LeerAber ist denn das Ich-Leben das  e i n z i g e  Leben? Gibt es nicht ein übergeordnetes Leben? Sobald ein Mensch, ja ein Tier in Gefahr ist, setzest du dein Leben daran, es zu retten. Warum? Trieb, innerer Zwang, wer weiß das! Neben dem innern Zwang, sich selbst als Mittelpunkt des Lebens zu fühlen und zu sehen, gibt es also auch einen innern Zwang dieses Leben einem andern zum Dienst und Opfer zu bringen. Man ordnet das eigne Ich einem andern Leben unter. Dies ist damit das „höhere”. Nun ist dieses andre Leben aber vielleicht wertlos, unter Umständen „bloß ein Tier”. Dennoch ist der „unvernünftige” Drang in uns.

LeerWenn wir uns dieses gedoppelten Triebes in uns, der Selbstbehauptung und der Hingabe,  b e w u ß t  werden, wenn er uns als Widerspruch und Rätsel erscheint, so hören wir auf, „natürlich” zu sein. Wir haben unsern Sündenfall erlebt. Nun sind wir nicht mehr „unmittelbar” und „unwillkürlich” sondern „zwiefältig”: wir „zweifeln”. Und „wo Zwifel Herzen nachgebur (benachbart), das muoß der Seele werden fur” hebt Wolfram seine Erzählung von Parzival an.

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LeerKönnen wir aus dieser Zwiefalt wieder zu einer Einfalt kommen? Solange wir uns im Mittelpunkt unsrer Welt behaupten wollen, werden wir den Zweifel nicht los. Unterdrücken wir ihn, so werden wir dadurch nicht wieder natürlich, sondern roh. Wir müssen auf den Mittelpunkt  v e r z i c h t e n  und uns einen andern Platz in der Welt suchen. Das ist der Weg der Herzensbildung: Verzicht, Entsagung, Selbstbeschränkung. A l l e  Großen im Reiche des Geistes sind ihn gegangen. Es ist der Weg, der einst den Einen zum nächtlichen Gebet im Garten Gethsemane und nach Golgatha führte. Aber das war freilich ein ungeheures Schicksal. Mehr als Gethsemane wird nicht gefordert: der Verzicht auf den eignen Willen, sobald es eben sein muß.

LeerDer Sinn der Welt bin nicht Ich. Die Welt ist ein ungeheurer Strudel des Lebens, in dem ich nur ein mitgewirbeltes Tröpflein Leben bin, von Klippe zu Klippe geworfen. Gehe ich verloren, so stürmt und strudelt das Leben weiter. Ein Schmerzlein hier und dort, ein Aufhorchen und wieder Abwenden, ein rasch entschwindendes Bedauern - weiter nichts. Es geht ein jeder  s e i n e n  Weg in  s e i n e r  Weltkugel. Laß einen jeden gehen und gehe  d e i n e n  Weg. Bescheiden am Wegrand der Welten. „Das ist die ungeheuerste Kultur, die der Mensch sich geben kann.” Das sagt nicht irgendwer, sondern der königlichste der Menschen, der Stolz eines ganzen Volkes, Goethe. Er ging aus seinen prunkenden Ministerzimmern, wo er den Mittelpunkt der Welt markieren mußte, nachdem der Schwarm davongegangen war, still nach hinten in das schlichteste Arbeitszimmer oder legte sich in einen dürftigen alten Holzkasten zu Bett. Da lag er am Rande des klingenden, leuchtenden Sternen-Alls und sah in die Geheimnisse der Welten. Einsam.

LeerEinsam in der Nacht sein können - das ist die ungeheuerste Kultur. Dazu gehört eine Kraft, die der natürliche Mensch nicht aufbringt. Der schläft oder hat Angst in einsamer Nacht. Auch der zwiefältige Mensch verträgt es nicht: er sucht sich Licht zu machen, er holt sich Gesellschaft, und seien es auch nur Bücher. Um unbekümmert den einsamen Weg gehen zu können, muß man ein  W i s s e n  haben von der Ichhaftigkeit und Verflochtenheit des Lebens in ein Leben, das über uns hinausreicht. Man muß die Welt nicht nur mit dem äußeren, perspektivischen Auge anschauen, sondern mit dem inneren Auge  d u r c h schauen können. Und muß darin das heimliche Herz sehen, das leise zitternd alles Leben pulsend treibt, das auch unser eigenes Leben als eins der unendlich entströmenden Ichs vorwärts durch die Sphären treibt. Wir hängen an ihm durch die Tatsache der Entstehung und des lebendigen Wandelns in der Flut der Bewegung. Was fragen wir noch nach  M e n s c h e n ! Mitwanderer sind es, wir sehen vom Rande der Welten auf sie, und kehren sie sich zu uns, so - seien sie willkommen und mögen, so es sein darf, getröstet und geholfen scheiden.

LeerAußer der Liebe gibt es keine edlere Kraft als die des Verzichtes. Sie bildet uns zur reichen Bescheidenheit und gibt uns eine Einfalt und Ruhe, die wir nicht hatten, da wir unbekümmert uns selbst lebten, und die wir noch weniger hatten, als wir bekümmert zwischen uns und den andern hin und her wankten. Sie macht uns fertig mit diesem Dasein und reif zu einem andern.

Das Gottesjahr 1924, S. 59-60
© Greifenverlag Rudolstadt (Thür.)

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-10-12
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