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von Wilhelm Stapel |
Licht und Finsternis stehen im Gegensatz zueinander. Aber sie stehen nicht gleichgeordnet nebeneinander, sondern das Licht ist der Finsternis untergeordnet nebeneinander, sondern das Licht ist der Finsternis untergeordnet: das Licht ist in der Finsternis, nicht die Finsternis im Licht. Das Weltall ist nicht ein großes Lichtmeer, in dem die Finsternis wie Nebelflecke herumschwömme, sondern das Weltall ist finster, und in seiner unendlichen Finsternis glänzt das Licht auf und strömt in die Fernen hinaus und verdämmert, wenn es seine Kraft verloren hat. Darum sagen wir auch: die Finsternis „brütet”, aber das Licht „strahlt”. Die Finsternis ruht, aber das Licht bewegt sich. Die Finsternis ist träge und lastend, aber das Licht hat Kraft. Die alten Mythen drücken das Verhältnis in diesem Gegensatz so aus: Die Finsternis ist die Mutter, und das Licht ist das Kind, das ihrem Schoß entspringt. Wo Licht ist, da ist Leben. Irgendwie strebt alles Leben zum Licht. Das Gras auf der Wiese und die Bäume im Walde drängen sich zum Licht und kämpfen um den Raum, den die Sonne bescheint. Das Leben, das ins Dunkel gedrängt wird, verkümmert; es hat etwas Dumpfes, Krankes, Unheimliches für unser Gefühl. Nichts ist schöner als die Rose, die frei im Lichte steht, nichts herrlicher als der Baum, dessen Krone sich frei in den Himmel wölbt. Auch Tier und Mensch hängen am Licht. Wenn der Tag die Welt mit Licht füllt, erheben sie sich und ziehen hinaus ins Leben und tun ihr Tagewerk. Wenn am Abend das Licht entschwindet und die Nacht sich über die Erde legt, sinken sie zusammen, ihr Bewußtsein verdämmert, ihr Leben verschließt sich, sie atmen nur leise. „Nun ruhen alle Wälder, Vieh, Menschen, Städt' und Felder, es schläft die ganze Welt.” So umwandeln Tag und Nacht die Erde im Gleichschritt der Zeiten, und wie sie wandeln, erwacht das Leben oder versinkt in Schlaf. Ist es nicht seltsam, daß unser Leben am Lichte hängt und daß uns graut vor dem Dunkel? Vom Licht abgesperrt zu sein, in dauernder Finsternis zu leben, das bedeutet für uns Hinsiechen und Absterben. Das Licht aber begrüßen wir mit Jubel. Noch seltsamer ist es, daß unser Leben auch an die Finsternis gebunden ist, vor der uns doch graut. Wäre es nicht schön, wenn wir, völlig unabhängig von dem Wechsel des Tages und der Nacht, i m m e r wach blieben? Wäre unser Leben nicht doppelt so lang, wenn wir nicht einen so großen Teil der zugemessenen Zeit verschlafen müßten? Wir versuchen es wohl zwei, drei Nächte, uns gegen den Zwang der Natur zu empören. Aber dann wird unser Leben krank, erregbar und verstimmt, überlebendig und übermüde zugleich. Das Lebensband, das unser Wesen geheimnisvoll an die Finsternis knüpft, ist wohl ein wenig dehnbar, aber nicht zerreißbar. Das Leben ist wie ein Quell, der am Tage aufwärts sprudelt und nachts in sich selbst zurückebbt. Das Licht entsiegelt den Quell, und er strömt um so stärker, je tiefer seine Wasser entspringen. Die Finsternis verschließt ihn, und es hebt unten in den geheimen Adern des dunklen Lebensgrundes ein Tröpfeln und Sickern und Rinnen an, die Wasser sammeln sich in den unbekannten Grotten unserer Seele, aus denen der bunte, lebendige Strom in Fühlen, Denken und Wollen ans taghelle Licht des Bewußtseins tritt. Die Müdigkeit ist die Ebbe der Seele. Das Leben zieht sich einwärts. Die Welt, die uns tagsüber bedrängt, entschwindet uns. Unser Bewußtsein sinkt in sich selbst zusammen, die Seele gleitet abwärts in die heiligen Tiefen, wo sie in mütterlicher Geborgenheit ruht. Nichts ist rührender als ein Wesen, das arglos schläft. - Die Zeiten der Entartung erkennt man daran, daß die Menschen jenes geheime Band, das sie mit dem Kosmos verknüpft, mißachten. Sie machen keinen Unterschied zwischen Tag und Nacht. Sie organisieren eine Kultur der Überwachtheit und Halbmüdigkeit, des Nervenreizes, der Sensation, der Schwäche. Wenn die gesunde Müdigkeit sie überkommt, so ruhen sie nicht, sondern peitschen sich durch Nervengifte und Seelengifte auf, sie trinken, rauchen, schwatzen, sie lassen sich das müde Gehirn durch jagende, zuckende Kinobilder immer neu „anregen”. Sie kommen nie zu einer vollen Ruhe, darum auch nie zu einem starken Leben. Sie sind Halbwesen, Schatten im Zwielicht, die im Schlafe nicht ruhn und im Wachen nicht stark und tapfer sind. - In der Müdigkeit spüren wir den geheimen Lebensrhythmus des Kosmos: die Allmutter Nacht mahnt ihre Kinder, daß es Zeit sei zur Heimkehr, um in ihrem Schoß neue Kraft zu gewinnen. Unsere Vorfahren hatten ein reines Gefühl für dieses Geheimnis der uns alle umfangenden Nacht. In dem Gegensatz zwischen Licht und Finsternis begriffen sie die ganze Tragik des Lebens. Die Finsternis ist das Erste, das Licht ist das Zweite. Die Finsternis dauert ewig, das Licht aber verschwendet sich und verschwindet. Es glüht auf und leuchtet herrlich, aber es verglüht um so rascher, je herrlicher es strahlt. Das ist das Heldenschicksal. Götterherrlichkeit und Götterdämmerung der Edda. Rembrandt hat uns dieses Schicksal des Lichts in der Finsternis in seinen unergründlichen Bildern gemalt und radiert. In den Weihnachts- und Osterbildern haben es unsere Meister immer wieder dargestellt: das Licht, das in der Nacht im Stall zu Bethlehem geboren wird, und die Finsternis, die sich über das Kreuz von Golgatha herabsenkt. Es ist darin ein Gefühl der Herrlichkeit und der Bitterkeit zugleich. Ein Gefühl, in dem Ehrfurcht und Trotz sich mischen. Wir gehen ehrfürchtig ein in die Nacht, aber das trotzige Bewußtsein tragen wir mit uns: auch das Licht glimmt fort, es entzündet sich immer neu, die Finsternis überwältigt nicht das Licht, der Tod überwältigt nicht das Leben. Das Gottesjahr 1924, S. 56-58 © Greifenverlag Rudolstadt (Thür.) |
© Joachim Januschek Letzte Änderung: 12-10-12 |