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von Marie Cauer |
Unser Leben ist gegenwärtig mehr als in vergangenen beschaulicheren Zeiten auf unablässigen Betrieb eingestellt. Es muß immer etwas getan, etwas ausgeführt werden, immer etwas „laufen”. Und es läuft. Nicht nur ist das Räderwerk unsrer täglichen Pflichten irgendwo durch einen Riemen ohne Ende an eine große, rastlos sich drehende Welle angeschlossen, der nie stillstehende Kreislauf erfaßt auch Freunde und Erholung, denn sie sind meist auch nur wieder eine andere Art von Betrieb. Diese Rastlosigkeit ist eine schwere Gefahr für unser Innenleben, unser eigentliches lebendiges selbst, verhängnisvoll namentlich dann, wenn sie zu einer Gewohnheit wird, die wir glauben nicht mehr entbehren zu können. Es gibt Zeiten im Leben, da scheuen wir uns gerade vor einer Pause der Betriebsamkeit, unter deren Pauselosigkeit wir doch leiden. Wir können gar nicht mehr anders als immer nur schaffen oder planen, reden oder genießen, umherfahren oder lärmen; immer etwas umtreiben, was die Lebensäußerungen der eigenen Seele verdeckt, übertönt; immer etwas, das sich zwischen uns und uns selber drängt. Gerade in diesem Zustand aber, in dem wir sie scheuen, sind wir einer Lebenspause dringender als je bedürftig. Und gerade heute, wo wir im Zeichen der Betriebsamkeit stehen, können in keinem Leben die stillen Zeiten entbehrt werden. Nicht immer sind sie uns in der freundlichen Form der Ferien, planmäßiger vorübergehender Pflichtenlosigkeit beschieden. Gar mancher rastlose Schaffer hat es erfahren müssen und vollends manche unermüdliche Schafferin, daß erst körperliches Unvermögen ihnen die Arbeit aus der Hand nahm. Andern wieder wird durch harte Schicksale der Boden, dem ihr eifriges Wirken gehörte, unter den Füßen entzogen, oder sie werden hiausgeschleudert aus gedeihlichem Werk - Schicksale, wie sie heute leider keine seltenen Ausnahmen sind. Da kommt dann die Lebenspause ungebeten, in unwillkommener, ja in feindlicher Gestalt. Mag sie aber selbst durch Verbannung und Gefangenschaft uns aufgezwungen sein - auch Krankheit ist ja eine Gefangenschaft - mögen gütige oder widrige Umstände sie uns bescheren, an und für sich ist die stille Zeit allemal etwas Heilsames, ja eine Notwendigkeit für uns, wir müssen uns nur ihrem Segen willig auftun. - Der unmittelbarste Vorteil, den eine Unterbrechung unserer Tätigkeit uns bringt, ist, daß wir Abstand gewinnen zu dem, was unsere Tage zu füllen pflegt. Und nur vom gehörigen Abstand aus lassen sich die Größenverhältnisse des Geschauten richtig einschätzen. Ein kleiner Gegenstand, dicht vors Auge gehalten, ist imstande, uns die großartigste Aussicht zu verdecken; so hindern uns auch die kleinen Angelegenheiten, die in unserm Alltag uns umdrängen, daran, unsern gesamten Lebensinhalt zu übersehen und zutreffende Größenurteile zu fällen. In sehr ausgedehnten geschäftlichen oder amtlichen Betrieben bleibt der oberste Leiter von allen regelmäßig laufenden Geschäften unberührt, seine Zeit und Kraft gehören der Führung des Ganzen. „Daß uns werde klein das KleineNicht nur die Dinge außer uns und um uns, nein, auch uns selber lernen wir erst beurteilen, wenn wir einmal dem Getriebe, in dem wir gewohnheitsmäßig uns drehen, entrückt sind; wenn wir einmal nicht unter den Einflüssen unserer Umwelt handeln, denken, fühlen, sondern ganz aus uns selbst heraus. Was dann seinen Platz in unserm Dasein behauptet, was von selbst sich bei uns einstellt, ohne daß es von außen an uns herangebracht wird, das entspricht den wirklich echten und lebendigen Seiten unseres Wesens. Und da hat schon mancher Anempfinder und Mitläufer mit Staunen wahrgenommen, wie unwichtig ihm im Grunde gewisse Dinge sind, denen er unter dem Einfluß seiner Umgebung einen breiten Raum in seinem Dasein gönnte; wie leicht es beispielsweise ihm wird, die künstlerischen oder die wissenschaftlichen Betätigungen zu unterlassen, denen er mit eifriger Betriebsamkeit obgelegen hatte. Solche Selbsterkenntnis ist unter Umständen wenig schmeichelhaft, sie ist ernüchternd. Sie hat aber doch auch ihre positive Seite, wenn sie dazu führt, Kräfte, die bisher in unfruchtbarer Weise angewandt wurden, frei zu machen für wesensechte Interessen, mögen diese auch an und für sich weniger hohen Ranges sein als die angenommenen. Stille Zeit, Lebenspause! Nirgend mehr ein Vorwand, sich selber auszuweichen. Unter vier Augen mit dem eigenen Ich! Eindrücke und Erfahrungen, die im rastlosen Gelebe zu schnell andern weichen mußten, um genügend verarbeitet zu werden, melden sich und kommen zu ihrem Recht. Auch solche, die man seinerzeit gern hinuntergestoßen und durch erfreulichere überdeckt hatte. Auch unliebsame. Auch beschämende. Einmal kommt ja doch für uns alle die Stunde, in der es kein ausweichen mehr gibt, in der auch der nächste Freund an der Schwelle, die es zu überschreiten gilt, zurückbleiben muß, in der jeder ganz allein auf sich gestellt ist. Sterben ist von allen menschlichen Erfahrungen die einsamste. Denn selbst wo viele zugleich den Tod erleiden, stirbt doch jeder mit sich allein. Und wie könnten wir geruhig auf diese dereinst mit Sicherheit uns bevorstehende Stunde zuschreiten, wenn wir jetzt und hier es ständig meiden wollten, allein zu sein? Stille Zeiten sind uns nötig, damit wir bei uns selber einkehren, in uns selber daheim sein lernen. Aber das ist noch nicht das Letzte und Wertvollste, was sie uns zu bringen haben. Erst wenn wir so weit kommen, nicht nur die Umwelt sondern auch uns selber auszuschalten, erst dann werden wir des ganzen Segens der Lebenspause teilhaftig. Erst wenn wir ganz entspannt, ganz gelöst sind, nicht im geringsten Grade mehr selbsttätig, erst dann ist die tiefe heilige Stille erreicht, in der wir imstande sind, Gottes Sprache zu vernehmen. Nicht im Sturm, der die Berge zerriß und die Felsen zerbrach, redete der Herr zu Elias, sondern im stillen sanften Sausen. Gott ist der Leiseste. Ihn hört man nur, wo alle anderen Töne, auch die Stimmen der eigenen Brust, zum Schweigen gekommen sind. Den Stunden, die uns so finden, in denen alle Selbsttätigkeit fehlt, entspringen auch die wahren Quellen unserer Schaffenskraft. Sie füllen das Staubecken, aus dem in der Zeit der Aktivität der belebende Strom sich ergießen darf. Hat Gottes Wille je uns eine Lebenspause verordnet, sei es auch eine unerwünschte, so ist uns damit ein Gnadengeschenk zugedacht. Es steht uns nicht an, sie gewaltsam auszufüllen, noch ihr feige auszuweichen. Es ziemt uns, die Hände zu falten und zu sprechen: Rede Herr, denn dein Knecht hört. Das Gottesjahr 1924, S. 53-55 © Greifenverlag Rudolstadt (Thür.) |
© Joachim Januschek Letzte Änderung: 12-10-12 |