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Kalendernamen und Kalendersprüche
von Wilhelm Stählin

LeerEs ist eines der Stücke, in denen evangelische und katholische Sitte auseinander gehen, daß für den Katholiken im allgemeinen der Namenstag eine größere Rolle spielt und mit größerer Feierlichkeit begangen wird als der Geburtstag. Die Namen der Heiligen, die von altersher mit den einzelnen Tagen des Kalenders verbunden sind, spielen in unserem Bewußtsein kaum eine Rolle, geschweige denn, daß der einzelne, abgesehen von seinem Geburtstag, seinen besonderen Tag im Jahr hätte, mit dem er besonders verbunden ist um des Namens willen, der an diesem Tag für ihn im Kalender steht. Ja ich möchte wohl bezweifeln, ob es viele Protestanten gibt, die diese Kalendernamen überhaupt lesen und beachten. Wir wissen wohl noch, wann „Johanni” ist, und etliche wissen wohl auch, wann „Jakobi” und „Peter und Paul” und wann „Michaelis” ist, wissen wohl auch, daß unser Luther den Namen Martin bekam, weil er am 11. November, dem Tag des heiligen Martin getauft wurde. Aber darüber hinaus: wer weiß etwas, wer will etwas wissen von den Heiligen, deren Namen im Kalender stehen? Das soll und kann auch wahrhaftig niemand verwundern. Denn die Namen sind uns zumeist arg fremd und fern. Wer sind sie alle gewesen, die Märtyrer und Bischöfe der ersten Jahrhunderte der christlichen Kirche? Makarius und Hygin, und Emerentiana und Quirinus und Gualbert und Pantaleon?

LeerWilhelm Löhe, der große Vorläufer derer, die heute von evangelischer Katholizität reden, hat ein Martyrologium herausgegeben, in dem er mit den Mitteln seiner Zeit die überlieferten Nachrichten über die Heiligen des Kalenders zusammengestellt hat. Darunter sind wohl viele Namen aus früherer Zeit, die wirklich zu unrecht der Vergessenheit anheimgefallen sind, und die in ehrfürchtigen Gedächtnis zu bewahren auch uns Spätgebornen eine heilige Pflicht sein sollte. Wahrlich was für einen Schatz an großen Erinnerungen und an ehrwürdigen Beispielen der Treue und der Liebe hat der fromme Katholik, der seinen Kalender ernst nimmt, in seinem schlichten Heiligen-Kalender! Aber wie flüchtig sind doch oft diese Erinnerungen selbst, wie sagenhaft die Gestalt manchen Märtyrers, wie leer mancher Name! Und um uns her ist die Fülle des Lebens, „eine Wolke von Zeugen”, wie der Hebräerbrief sich ausdrückt. Männer und Frauen, die einsam um Gott gerungen haben oder überströmten von der Herrlichkeit Christi, die anbetend die Geheimnisse Gottes und seiner Welt verehrt und erforscht oder in inbrünstigen Liedern besungen oder schweigend den treuen Dienst der Liebe getan haben! Ist uns Friedrich von Bodelschwingh nicht näher als Numerianus, Fichte vertrauter als Origenes, Max Reger wichtiger als Ambrosius von Mailand?

LeerAber wir wollen gewiß nicht von neuem in den Fehler einer engbrüstigen und beschränkten „Kirchlichkeit” verfallen und meinen, im „Gottesjahr” dürften nur die Männer der inneren Mission, die Professoren der Theologie oder die Dichter lutherischer Kirchenlieder verzeichnet sein! Die Welt ist Gottes Welt und Gottes Welt ist größer als unser Herz! So stehen mannigfaltige und seltsame Gedenktage in dem Kalender unseres Gottesjahrs: die Aufhebung der Sklaverei in Nordamerika steht neben Jakob Grimm, und Moritz von Schwind neben Gotthold Ephraim Lessing, Ernst Abbe neben Friedrich dem Großen, Johann Heinrich Voß neben Franz von Assisi und Jean Jaques Rousseau neben dem Gedenktag der Leipziger Disputation. Wahrlich, das „Jahr” Gottes ist größer und weiter als der enge Tag, in den unser Leben und Denken eingeschlossen ist. Es sind nicht zufällig und willkürlich zusammengestellte Namen; sondern alle die Menschen und Ereignisse, an die sie uns erinnern, waren und sind bunte und leuchtende Strahlen aus dem großen geheimnisvollen Licht; sie alle sind in ihrer Weise, in ihrer ganz besonderen Weise, Offenbarungen des umfassenden Lebens, dessen vielgestaltigen Wechsel der Ewige in seiner Hand hält.

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LeerDas ist die wahre Katholizität der Gottesverehrung, die in deutschem Geist angelegt und durch die Reformation ermöglicht ist, eine so viel größere und gläubigere Verwirklichung der Idee der Katholizität, als sie der römisch-katholischen Kirche je möglich oder auch nur erwünscht ist, eine Reihe von Gedenktagen, die wahrhaft anders sich zu einem „Gottesjahr” fügen als die Namenstage jener Märtyrer, die in den ersten christlichen Jahrhunderten die Treue bis in den Tod bewahrt haben. Wir wandern durch das Weltenjahr Gottes, wenn wir sie alle mit dankbaren und liebendem Herzen umfassen: Johann Scriver, der den innigen „Seelenschatz” geschrieben, und Benjamin Franklin, der demütig genug blieb, um von jedermann zu lernen, und Friedrich Wilhelm von Schelling, der die Welt der Natur und die Welt des Geistes zusammenzuschauen vermochte, und Hans Egede, den die Liebe nach Grönland trieb, und die Brüder Grimm, die das ursprunghafte Leben der Sprache und des Märchens neu entdeckten, und Karl den Großen, in dem die Idee des deutschen Mittelalters, der Kaiser als Schirmherr der abendländischen Christenheit, zum erstenmal aufstieg, und den Grafen Zinzendorf, diesen merkwürdigen und widerspruchsvollen Mann, der doch so viel freier und größer war als Orthodoxie und Pietismus seiner Tage, auch Eduard Mörike und Heinrich Sohnrey und Simon Dach und Wilhelm Raabe . . . und Wilhelm Wundt, der vielleicht der letzte der großen Polyhistoren gewesen ist, und Käte Kollwitz, die so erschreckend deutlich auf Armut und Elend hinzudeuten vermag; und wir wissen, daß auch die großen Gegenspieler wie der Jesuitenorden oder Arthur Schopenhauer ihren Platz im Gottesjahr haben, nicht nur die, deren Lebensmelodie uns traut und heimatlich klingt.

LeerMit was für einem Reichtum von Leben und Weisheit, von Tiefe und Adel, von Kampf und Liebe verbinden und diese Namen, - wenn uns durch sie weisen und führen lassen! Freilich, der Heiligenkalender ist stumm für den, der die Heiligenlegenden nicht kennt; die Kalendernamen der evangelischen Katholizität sind tot für den, der sich nicht die Mühe nimmt, den Namen nachzugehen, um den Gottesgruß zu empfangen, der darin auf uns wartet. Die Namen sollen nicht dazu dienen, unser Wissen zu bereichern, sondern unser Herz zu weiten und unser Gewissen zu schärfen und uns vor der schlimmsten Ketzerei zu bewahren, daß wir mit den engen Zäunen unseres geistigen Wesens das weite Land Gottes umgrenzen und verengen, statt Gott zu loben mit „der heiligen zwölf Boten Zahl”. - Es liegt mir am Herzen, in den folgenden Jahren den Umkreis der Namen noch weiter zu ziehen und zugleich enger und strenger zu begrenzen; für das erste Jahr habe ich mich dankbar darauf beschränkt, aus Walter Kalbe's Monatswerk alle die Namen zu übernehmen, die auch für mich einen Klang haben und für mein Leben etwas bedeuten.

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LeerZwischen den Gedenktagen einer großen Vergangenheit und einer reichen Gegenwart stehen bescheiden unsere Kalendersprüche: ein Sonntagsspruch für jeden Sonntag und die sechs Werktage, die von ihm aus ihr Licht und ihre Wärme bekommen sollen, und dein Monatsspruch, der einen Grundakkord anschlagen soll durch einen ganzen Monat hindurch. Soll ich erst sagen, daß, wenn diese Spruchzeilen gelesen werden wie irgendwelche anderen Zellen des Jahrbuches, sie umsonst an ihrem Platz stehen? Lieber Freund, hier mußt du, wenn dir unser Gottesjahr einen Dienst soll tun dürfen, wohl brechen mit deiner üblen Gewohnheit, so schnell zu erhaschen und obenhin zu lesen und dann alsbald zu ganz anderen Dingen zu fliegen. Wenn ich dich bitten darf, dann bitte ich dich um das eine: Laß den Wochenspruch am Sonntag morgen tief in dein Inneres eindringen und dann nimm ihn eine lange Woche, alle sechs Werktage hindurch, immer wieder vor dein inneres Auge, sage ihn vor dich hin, sage ihn in dich hinein, wenn du am Morgen zur Arbeit eilst und horche noch einmal auf ihn, wenn du dir einen kurzen Feierabend gönnst; er soll dir nicht langweilig werden, der Sonntagsspruch, eine lange Woche hindurch! Es möge auch niemand vermissen, daß nicht dazu geschrieben ist, ob nun diese Worte von Augustin oder von Carlyle oder von Morgenstern so geschrieben sind; es ist wichtiger,  w a s  da gesagt ist, als  w e r  es gesagt hat!

LeerUnd dann muß auch der Sonntag seinen Namen, und das heißt, seinen besonderen Klang und sein besonderes Gewicht in deiner Seele haben; weil die alten ehrwürdigen lateinischen Sonntagsnamen nicht mehr wahrhaft lebendig sind, weil sie nicht mehr verstanden werden, darum grüßen dich die deutschen Sonntagsnamen, mit denen Walter Kalbe hier im Gottesjahr schon den Anfang gemacht hat: der Sonntag der Ruhe, der Versuchung, der Gerechtigkeit, der Betesonntag, der Singesonntag, der Sonntag der Gebrechen, der Sonntag der Freude! Das sind wie lauter besondere Stimmen und Instrumente in einem großen Orchester, und wenn wir jeden besonderen Klang ganz tief in seiner besonderen Schönheit begriffen haben, dann ahnen wir wohl, was für ein vielstimmiges Singen und Geigen und Orgeln und Trompeten und Posaunen ein volles wirkliches „Gottesjahr” sein müßte! - Die Monatssprüche aber sind, wie sichs gebührt, aus der Bibel genommen. Und ich habe hier noch eine Bitte, eine noch größere Bitte: daß du diesen Monatsspruch wahrhaft einen Monat lang jeden Tag dir vornimmst und seine dreißig Tage lang darum ringst, daß dieses Wort, dieses eine Wort dir seinen geheimsten Sinn offenbare und dich reichlich segne mit seinem besonderen Segen.

LeerDann kommts wohl von selbst, daß Sonntagsspruch und Sonntagsname sich dir in deinen Gedanken verbinden und daß der Monatsspruch und seine vier Wochensprüche einander innerlich, oder wenn du willst ganz „äußerlich”, ich meine außer dir in der großen Wahrheit Gottes begegnen und daß das alles sich zusammenschließt zu einem lebendigen Ganzen, ja wenn die Gnade es schenkt, zu einem wahrhaften Gottesjahr. - Der Gedanke des evangelischen „Breviers” - eines Andachtsbuches mit nachdenklichen und der innersten Betrachtung würdigen Worten für jeden Tag - liegt in der Luft; es sind mancherlei Versuche begonnen. Ich weiß nicht, ob es irgend jemand einfallen wird, die kurzen Wochen- und Monatssprüche des Gottesjahrs mit diesem ernsthaften Namen zu ehren. Aber das weiß ich, und will es nicht unausgesprochen lassen: daß das beste Brevier rein gar nichts nütze ist, wenn nicht Menschen sich finden, die es mit aufgeschlossener Seele gebrauchen. Ihr tausend Menschen, die ihr das lest: hört auf den Gottesgruß jedes Kalendertages, hört auf den Gottesgruß jedes Sonntagsspruches; um diese unsere gemeinsame Feier bilden wir eine unsichtbare Gemeinde; unsere andächtigen Gedanken gehen von einem zum andern und wir helfen einander als rechte Brüder und Schwestern!

Das Gottesjahr 1924, S. 26-29
© Greifenverlag Rudolstadt (Thür.)

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-10-12
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