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1924
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Der Kalender
von Christian Geyer

LeerWie oft nehmen wir den Kalender zur Hand und wie selten machen wir uns Gedanken darüber, welche außerordentliche Mühe es gekostet hat, ihn herzustellen. Die Kalendermacher müssen noch eine Kunst verstehen, die uns modernen Menschen immer mehr abhanden gekommen ist, ich meine die Kunst, mit dem Weltall zu leben, von dem unsre Erde ein kleiner Teil ist. Da wandert über uns die Sonne nicht nur täglich von Osten nach Westen, sondern sie rückt dabei an dem mit Sternen übersäten Himmelsgewölbe Schritt für Schritt weiter, bis sie durch die zwölf Sternbilder des Tierkreises gewandert ist. Wenn sie wieder an ihrem Ausgangspunkt angelangt ist, ist das Jahr mit seinen zwölf Monaten vollendet. Auch der Mond geht nicht nur auf und unter, sondern er rückt in der nämlichen Bahn wie die Sonne, aber mit viel größeren Schritten Tag für Tag am Himmel weiter und bringt seinen Umlauf in achtundzwanzig Tagen zu Ende, um dann unverdrossen wieder von vorne anzufangen. Indem er von sieben zu sieben Tagen seine Gestalt in höchst auffallender Weise ändert, gibt er uns die Zeit der Teilung nach Wochen. Sonnen- und Mondenlauf stimmen dabei nie ganz zusammen - und der Mond mußte es sich gefallen lassen, daß sich die Menschen, für die der Wechsel der Jahreszeiten von entscheidender Bedeutung war, ihren Kalender in der Hauptsache von der Sonne machen ließen.

LeerWie wenig sie indes gesonnen waren, den Mond etwa gänzlich unbeachtet zu lassen, ersehen wir aus der durch Sonne- und Mondstand bestimmten Zeit des Osterfestes, das nach einem Beschluß der Kirchenversammlung von Nicäa (325) stets an dem Sonntag gefeiert wird, der auf den Vollmond nach Frühlingsanfang (21. März) folgt. Fast möchten wir uns darüber wundern, daß sich die Menschen, die aus der Beweglichkeit des Osterfestes stammenden Unbequemlichkeiten ruhig haben gefallen lassen. Allein das Gefühl dafür, daß sich der Mensch nach den Rhythmen der ihn umgebenden Welt zu richten habe, und die nie ganz verschwundene Ahnung, daß deren Nichtbeachtung eine Verarmung des Seelenlebens bedeuten mußte, hat es bisher nicht zu der in der Tat einigemal empfohlenen Mechanisierung des Kalenders kommen lassen. Der Mensch von heute wäre zwar nie von sich aus auf den Gedanken gekommen, sich von der Harmonie zwischen Sonne und Mond seine Festzeiten bestimmen zu lassen, aber er wagt es glücklicherweise doch nicht, die Erinnerung an ein tieferes Mitleben mit dem Weltall gänzlich auszutilgen.

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LeerSo war und ist das Hauptabsehen der Kalendermacher darauf gerichtet, die richtige Zeit des Osterfestes für alle Jahre festzusetzen. Dazu dienen hauptsächlich drei Hilfsmittel, von denen einst in den Kalendern immer die Rede war, bis in der neuesten Zeit die „astronomischen und andere nützliche Belehrungen” leider zur Ausnahme geworden sind. Das Jahr erhält sein Gesicht durch den  S o n n t a g s b u c h s t a b e n , der angibt, auf welchen Tag des Januar der erste Sonntag fällt. Da dies im Jahre 1923 der siebente war, hieß er G und das Jahr 1924 als Schaltjahr mit dem ersten Sonntag am 6. Januar hat deren zwei, nämlich F bis zum 24. Februar und E vom 25. Februar ab. Dazu kommt die  G o l d e n e  Z a h l . Da in einem Zyklus von 19 Jahren die Mondphasen wieder auf die gleichen Monatsdaten treffen, findet man sie, indem man die Jahreszahl um 1 vermehrt und diese Summe mit 19 teilt. Der Rest ist die Goldene Zahl, also für das abgelaufene Jahr 5 und für das neue 6; denn 1925:19 ergibt 101, wobei 6 als Rest bleibt.

LeerEndlich ist von Bedeutung die  O s t e r g r e n z e . Das ist das Datum, von dem aus der nächstfolgende Sonntag als der Ostersonntag bestimmt wird. Da das Osterfest frühestens auf den 22. März - denn wenn Frühlingsanfang (21. März), Vollmond und Sonntag zusammentreffen, wird Ostern erst am 28. März gefeiert - und spätestens auf den 25. April fallen kann, gibt es nur 35 voneinander verschiedene Kalender. Wer etwa die von unserer Datierungsweise stark abweichenden Zeitangaben älterer Urkunden in unsere Benennungen übersetzen will, muß als unentbehrliches Hilfsmittel diese 35 Kalender zur Hand haben, die sich in jedem Handbuch der geschichtlichen Chronologie, wie etwa in dem von mir benutzten Grotefendschen, befinden.

LeerUnser Kalender ist ein getaufter Heide. Die Wochentage sind nach den sieben Planeten der Alten, deren Namen zugleich an Gottheiten erinnerten, genannt. Diese doppelte Entsprechung zwischen Wochentag und Planet, Planet und Gottheit ist sicherlich ursprünglich nicht nur ein allegorisches ober symbolisches Spiel der Gedanken, sondern ist ein Überbleibsel aus ferner Vergangenheit, wo die feiner empfindenden Menschen nicht nur die Verschiedenheit des Charakters jedes Wochentags wahrnahmen, sondern auch in den Sternen das Walten geistiger Mächte spürten. Den Christen wurde der Sonntag zum Tag des Herrn, weil sie von einer lebendigen Beziehung zwischen Christus und dem Weltenlicht nicht nur wußten, sondern sie erlebten. Wie lange das nachwirkte, wissen wir aus Luthers: „Das ewig Licht geht da herein” und Paul Gerhardts: „Fahr hin, ein andre Sonne, mein Jesus, meine Wonne, gar hell in meinem Herzen scheint”. Auch die Monatsnamen lassen ihre heidnische Herkunft noch teilweise erkennen. Aber die Verchristlichung des Kalenders ist im übrigen sehr gründlich durchgeführt worden. Nicht nur, daß die christlichen Feste dem Jahreslauf seinen Charakter verliehen, es war auch jeder einzelne Tag ein Erinnerungsfest an die Heiligen und das Wandern von Tag zu Tag ein Gang durch einen christlichen Heldensaal. Die Erinnerung an den Tod der Märtyrer und an große Begebenheiten aus dem Leben der Heiligen weihte jeden einzelnen Tag vielfach. Denn die in unsern Kalendern verzeichneten Heiligennamen sind immer aus einer viel größeren Zahl von Tagesheiligen ausgewählt, zudem gab es große Verschiedenheiten der Auswahl nach Landschaften und Kirchenverbänden.

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LeerDie Bestimmung des einzelnen Tages in Briefen, Urkunden und Berichten geschah immer so, daß man die in allen Kalendern anzutreffenden Heiligentage namhaft machte und andere von ihnen aus bestimmte. Kein Mensch sagte, wie wir heute, etwas sei am 23., 24. oder 25. Januar geschehen, sondern am Tag nach Vincentius, am Abend (d. h. Vortag) der Bekehrung Pauli oder am Tag der Bekehrung Pauli. Bedenkt man, wie nahe es lag, immer wieder nach dem Tagesheiligen zu fragen, und erinnert man sich an die zahlreichen Feste zu deren Ehren, dann springt die große volkserzieherische Bedeutung des Kalenders ins Auge. Er war die in Stichworte zusammengedrängte biblische Geschichte und Kirchengeschichte unserer Vorfahren, und es ist immer noch die Frage, ob eine nach dem Jahreslauf fortschreitende Belehrung mit ihrem Charakter der Gelegentlichkeit nicht ihre besonderen Vorzüge gehabt habe gegenüber einer chronologisch und systematisch angeordneten. Jedenfalls kam dem Kalender eine große religiöse Bedeutung zu, und lange bevor man an eigentlichen Religionsunterricht im heutigen Sinn dachte, legte man großen Wert auf die Erlernung des Kalenders. In den lateinischen Schulen begegnet uns neben der Grammatik von Donat ober Priszian als viel gebrauchtes Lernbuch der Cisiojanus. Das war ein in Reime gebrachter Kalender, der für jeden Monat zwei Hexameter enthielt mit soviel Silben als der Monat Tage hatte. Die Andeutung des Fest- oder Heiligennamens fiel auf die dem Monatsdatum entsprechende Silbe. So lautete der Merkvers für den Januar:
Cisio Janus Epi sibi vendicat Oc Feli Mar An
Prisca Fab Ag Vincen Ti Pau Po nobile lumen.
LeerDas war in seiner Sinnlosigkeit nicht leicht zu lernen. Wer aber den Vers einmal inne hatte, konnte es sich an den Fingern abzählen, daß am 1. Januar Circumcisio Domini (Beschneidung des Herrn) war, am 6. Epiphanias, am 13. die Oktave von Epiphanias, am 14. Felix, am 16.. Marcellus, am 17. Antonius, am 18. Prisca, am 20. Fabian und Sebastian, am 21. Agnes, am 22. Vincentius, am 24. Timotheus, am 25. die Bekehrung Pauli und am 26. Polykarp.

LeerDie erzieherische Bedeutung des Heiligenkalenders ist auch von Protestanten eingesehen worden. So hat Wilhelm Löhe für seine Diakonissen sein Martyrologium bearbeitet und der hochverdiente evangelische Kalendermann F. Piper hat dem katholischen Heiligenkalender einen protestantischen an die Seite gestellt und durch gut ausgeführte Lebensbilder gezeigt, wie auch heute noch der Kalender lebendig sein kann.

    Unsere Vorfahren hatten wenig Bücher. Aber einen Kalender mußten sie haben. Nicht nur wegen der Zutaten, die er allmählich empfing, schätzten sie ihn, sondern er selber war ihnen wertvoll, denn sie waren der Natur noch nicht entfremdet, darum fühlten sie den Geist in ihr, und sie waren dem Geist noch nicht entfremdet, darum war ihnen die Natur nicht kalt und stumm und das Jahr in seinem natürlichen Verlauf war ihnen, was es uns auch wieder werden muß: ein Gottesjahr.

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LeerMan verzeihe es mir, wenn ich mit einem Vorschlag schließe, dessen Gegenstand ich selbst praktisch versucht habe. Das Vaterunser hat gerade so viele Bitten, wie die Woche Tage. Seine höchste Erhebung, liegt wie bei dieser im Anfang und es wendet sich vom Himmei zur Erde, um von dieser wieder zu jenem zurückzukehren, wie sich die Wochentage allmählich vom Sonntag entfernen, um allmählich dem neuen Sonntag zuzustreben. Darum habe ich mir das Vaterunser, statt es nur immer im ganzen zu beten, auf die sieben Wochentage verteilt. Ich verweile am Sonntag eine Zeitlang bei der Anrede und der ersten Bitte, vertiefe mich am Montag in die zweite und gehe so mit dem Vaterunser durch die Woche hindurch, bis ich wieder mit dem neuen Sonntag neu beginne. Diese Vertiefung in das Vaterunser tut mir den nämlichen Dienst und ich glaube besser, wie dem katholischen Priester sein Brevier. Lernen wir es, auf diese Weise die Tage zu verchristlichen, dann werden wir es mit dem Wochen und Monaten in ähnlicher Weise versuchen. Die mit den Sonntagen seit vielen Jahrhunderten verwachsenen Perikopen aus Evangelien und Episteln können uns dabei gute Helfer sein. Die viel empfohlenen und gebrauchten Bibellesetafeln mit stets wechselnden texten nehmen zu wenig Rücksicht auf das Bedürfnis nach Stetigkeit und Wiederholung. Je mehr Stille, Gebet und Versenkung das Jahr durchzieht, desto mehr wird es ein Gottesjahr in dem doppelten Sinne der stets sich wiederholenden Einkehr bei Gott und des immer neuen Ausgangs in die Welt zu Kampf und Arbeit in seinem Dienst, so wie die Gralsritter ihr Heiligtum aufsuchten, um es, durch das heilige Mahl gestärkt, wieder zu verlassen und die Heilandswerke in ihr und an ihr zu vollbringen.

Das Gottesjahr 1924, S. 23-26
(c) Greifenverlag Rudolstadt (Thür.)

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-10-12
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