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von Wilhelm Stählin |
Das Wort „Spielraum” ist ein gutes Wort, und die Sache, die wir so bezeichnen, ist eine gute Sache. Man soll die Sachen in einem Raum nicht so eng aneinander rücken, daß sie sich aneinander reiben, sondern man soll einen Spielraum zwischen ihnen lassen; dann hat jedes seinen Ort, und sie vertragen sich gut miteinander. Man soll auch die Zeit für die Dinge, die wir zu tun haben, nicht allzu knapp bemessen, sondern immer einen kleinen Spielraum lassen; wenn man erst in der letzten Minute, die noch möglich ist, zur Bahn rennt, kann es einem leicht geschehen, daß man den Zug versäumt, weil kein Spielraum geblieben ist für oft unerwartete Begegnungen oder Hindernisse auf dem Wege. Wenn eines das andere jagt, eine Pflicht die andere und eine Unternehmung die andere ohne „Spielraum”, so kommt keines ganz zu seinem Recht. Man soll vor allem, wo man irgend kann, es vermeiden, die Menschen allzu nah zusammenzudrängen; wenn die Menschen keinen Spielraum zwischen einander haben, so werden sie sich bald aneinander wund reiben. Die Menschen können ebenso wenig wie die Dinge im Raum und in der Zeit auf die Dauer existieren ohne Spielraum. Was das Wort meint, ist deutlich; aber nicht alle machen sich klar, welche Rolle, welche ehrenvolle und lebenswichtige Rolle diese Wortbildung dem Spiel zuweist. Es besagt, daß das Leben verkehrt wird und verkümmert, wenn in ihm - äußerlich und innerlich - kein Raum bleibt für das Spiel. So wie ein Mechanismus verdorben wird, wenn die ineinander gleitenden Glieder oder Räder allzu fest aneinander gepreßt sind und nicht mehr frei ineinander „spielen” können, so mißlingt dem Menschen sein Tagwerk, wenn die Arbeiten und Pflichten sich knarrend drängen, und der Mensch, der lebendige Mensch, in diesem Getriebe keinen Raum mehr hat, in dem er spielen kann. Was heißt hier „spielen”? Wir sind so ernsthaft, so fleißig, um nicht zu sagen so betriebsam geworden, daß wir kaum mehr wissen, wie schön es ist zu spielen, ja, kaum mehr zu sagen wissen, was spielen heißt. Es ist hier nicht der Ort für gelehrte Definitionen. Wer für alles wissenschaftliche Definitionen haben möchte, kann in den Lehrbüchern der Psychologie und Pädagogik nachlesen, wie die Wissenschaft das Wesen des Spiels beschreibt und es von anderen menschlichen Tätigkeiten unterscheidet. Wir deuten nur einiges an: Der spielende Mensch handelt nicht nach Zweck und Nutzen; er will nichts erreichen; in dem Augenblick, wo er an Nutzen oder Gewinn dächte, wäre sein Spiel schon nicht mehr ein reines Spiel. Wohl aber will er tätig sein; in dem freien und freudigen „Spiel” seiner leiblichen und geistigen Kräfte erfüllt sich der ursprüngliche Spieltrieb, in dem das Kind lebt, und den der erwachsene Mensch so tief in sich vergraben, und den er so gründlich verfälschen und verderben kann. Nicht das fertige Gebilde, sondern das Gestalten selbst gibt dem Spiel seinen Reiz und seinen Wert. Alle Bereiche des menschlichen Lebens von der leiblichen Bewegung in Springen, Tanzen und Singen bis zu der kunstvollen Beherrschung des Spiel-Werks und der geistvollen Übung in Dichtung und Schauspiel umfaßt das Spiel. Feindselig ist dem Spiel der nüchterne Zweck, die kalte Berechnung, die auf Gewinn bedachte Selbstsucht. Das bloße Glücksspiel, das auf den glücklichen Zufall spekuliert, ist kein echtes Spiel, weil es den Spielenden der Freude am eigenen Tun, an Geschick und Witz beraubt und den eigentlichen Spieltrieb im Menschen brach liegen läßt. Es ist ein Mißbrauch des Wortes, wenn wir das Glücksspiel als „Spiel” im spezifischen Sinn bezeichnen; und wenn wir von einem Menschen als „Spieler” reden, so hat das Wort mit Recht einen unguten und bedenklichen Sinn. Nicht minder entartet das Spiel, wenn sich das Streben nach Leistung, nach meßbarer und vergleichbarer Leistung des Spiels bemächtigt. So sehr hat sich die Wertung der Leistung, die in aller Arbeit ihren Ort und ihr notwendiges Recht hat, alle Lebensbereiche erobert, daß wir kaum mehr erkennen, was das eigentliche und bedenkliche Wesen des Sports ist: nämlich die Verzauberung des Spiels in eine Leistung, die Eroberung des Spiels durch die Arbeit. Nur da ist das Wesen des Spiels noch in seiner reinen Form anzuschauen, wo es nicht zum Sport entarten kann; es kann keinen Geigen-Sport geben, und auch das echte Theater kann nicht zum Sport werden. Der Dauer-Tänzer, der nach 48 oder 60 Stunden erschöpft umfällt, ist eine häßliche und lächerliche Karikatur des Spiels. Das echte Spiel wird an der fröhlichen Heiterkeit des Gemütes und der Mienen erkannt. Die lärmende Lustigkeit und ein freches Lachen, das zum Kreischen wird, sind dem Spiel ebenso fremd wie der krampfhafte Ernst, der keinen Spaß versteht und nicht über sich selber lachen kann. Der Humor, die lächelnde Weisheit, ist eine hohe Form des Spiels; wo der Humor zum beißenden Witz oder zur giftigen Satire entartet, ist der Spiel-Raum schon verlassen. Wer den Sonntag preisen will als die große Wohltat, die uns eine ursprüngliche Ordnung Gottes gönnt und verordnet, der muß zum Lobe des Sonntags auch dieses sagen, daß er dem Leben seinen Spielraum wahrt. Ist nicht der Sonntag der Spielraum zwischen den Werktagen, der Spielraum, der den Menschen davor bewahrt, daß er vollends zerrieben wird zwischen den Pflichten und Leistungen, die von ihm gefordert werden? Das gilt zunächst in dem ganz äußerlichen Sinn, daß wir uns am Sonntag die Freiheit nehmen dürfen zu spielen; daß wir nicht meinen, dem Ernst des Lebens etwas abzubrechen oder eine drängende Pflicht zu versäumen, wenn wir dem Spiel Raum geben, wenn wir das Kind in uns nicht verleugnen oder uns seiner schämen, das spielen möchte. Es ist hier nicht der Ort, praktische Ratschläge oder Anleitungen dafür zu geben, was etwa als solches Spiel am Sonntag uns erfreuen und unserer Erholung dienen könnte; aber einiges muß immerhin gesagt werden. Man soll nicht meinen, wir könnten das verlorene und verlernte Spiel am besten zurückgewinnen, wenn wir in einen Spielwarenladen gehen und uns von dem Verkäufer die letzten Erzeugnisse der Spielzeugindustrie anpreisen lassen. Es ist eine tiefe und sehr lehrreiche Erfahrung, daß die Kinder meistens an dem primitiven Spiel-Zeug, das sie sich selber ausgedacht und zurechtgezimmert haben, mehr echte Spielfreude entwickeln als an jenen Fabrikaten, die zum großen Teil dem Kind die eigentlich schöpferische Spielgestaltung abnehmen und rauben. Es ist auch in dieser Hinsicht kein so großer Unterschied zwischen Kindern und Erwachsenen. Zu einem der guten, alten, geistreichen und lustigen Ratspiele ist nicht mehr nötig als ein wenig Witz und Kombinationsgabe. Die Mannigfaltigkeit solcher Spiele, zu denen ein paar Blätter Papier, ein paar Bleistifte oder nicht einmal dies nötig ist, ist unbegrenzt, und man lernt sie meistens nicht aus Büchern kennen, sondern durch Menschen, die „ein Spiel wissen” und einen Kreis bereichern durch das, was sie weiterzugeben haben. Es ist dann kein Unglück, und es kränkt niemand, wenn dann sich Zwei beiseite setzen, um miteinander Dame oder Mühle oder Schach zu spielen. Das Spiel leidet keinen Zwang, und auch die Kinder dürfen wählen, was sie am liebsten spielen - solange dabei die Spielverderber, die der Herr im Gleichnis lächerlich gemacht hat (Matth. 11,16.17), keine Rolle spielen. Was hat das alles mit dem Sonntag zu tun? Doch nicht nur dies, daß der Sonntag den kleinen und großen Kindern freie Zeit läßt zum Spielen und sie also ganz äußerlich dazu einlädt, dem Spiel Raum zu geben. Es scheint mir kein Zufall, daß die streng calvinistische Sonntagsfeier dem Spiel gegenüber mißtrauisch war und das Spiel zu jenen Dingen rechnete, die dem ernsten Christen am Tag des Herrn nicht geziemen. Dieser Sonntag ist ja stärker von dem alttestamentlichen Sabbathgebot als von der Freude des christlichen Sonntags her bestimmt. Das Spiel aber kann nur auf dem Boden der inneren Freiheit wirklich gedeihen. Wenn in der Fron der Arbeit, in der Mühsal und Plage des Tagwerks etwas von dem Fluch sichtbar wird, der von Adam her auf allem irdischen Werk lastet, so liegt auf dem echten Spiel etwas von dem Abglanz jener Paradiesesordnung, in der Pflicht und Freude, Arbeit und Spiel noch nicht auseinandergebrochen waren, sondern in der inneren Einheit eines kindlichen Gehorsams zusammengebunden waren. Daß wir arbeiten müssen, ist das strenge Gesetz, dem wir nicht entlaufen können; daß wir spielen dürfen, ist das Siegel der Freiheit, zu der wir berufen sind. Der Mensch, der in der Angst lebt, kann nicht spielen, und wenn er spielen möchte, dann verdirbt er sich und anderen das Spiel; wer von der Angst befreit, in der göttlichen Liebe geborgen zu einer Natürlichkeit höherer Ordnung erlöst ist, der lernt auch wieder spielen wie ein Kind und dann vielleicht auch und sogar spielen mit den Kindern. Darum gehört das Spiel in einem sehr tiefen Sinn zum christlichen Sonntag, auch wenn dabei keine frommen Worte gewechselt werden, und die Karten des Quartettspiels vielleicht ganz und gar nicht biblische Namen oder Gesangbuchlieder verzeichnen. Indem wir Gott loben, indem wir singen zur Ehre Gottes (nicht um uns zu produzieren oder anderen Leuten Eindruck zu machen), nehmen wir teil an dem Geschäft der Engel, die Gott dienen in unaussprechlicher Freude, und die die frommen Maler nicht ohne Grund und Recht im Reigentanz und mit den Instrumenten fröhlicher Musik dargestellt haben. Man versenke sich in die Darstellung der musizierenden Engel bei Matthias Grunewald oder bei Jan van Eyck, um zu begreifen, inwiefern die Liturgie ein heiliges Spiel ist. Wo dürfen wir uns entschiedener lösen von aller Furcht und allem Zwang, von aller trübseligen Fron und aller mühseligen Leistung, wo dürften wir gründlicher eintauchen in Freiheit und Freude, als wenn wir vor dem Thron Gottes mit unserm Herzen und mit unserem Munde, mit Leib und Seele Gott singen und spielen. Haben wir vielleicht darum den Spielraum in unserem Leben verloren, weil wir den Raum des heiligen Spiels verlassen haben? Das Gottesjahr 1951 (1942), S. 152 - 158 © Johannes Stauda-Verlag zu Kassel (1951) |
© Joachim Januschek Letzte Änderung: 13-01-31 |