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von Wilhelm Stählin |
Zu den Wunschträumen, die ich nicht los werde, gehört die Vorstellung, daß ich eines Tages von einem Haus der Erholung, das es irgendwo in der Welt geben müßte, ein Einladungsschreiben erhalten könnte, in dem so ungefähr das Gegenteil von dem stünde, was in den Prospekten berühmter Kurorte zu lesen ist. Ich habe eine sehr genaue Vorstellung davon, womit jenes Haus der Erholung sich seinen Gästen empfehlen würde; in meinen Wunschträumen hat ein solches Werbeblatt etwa folgende Gestalt: Kommen Sie und erholen Sie sich! Wir wissen, daß Sie der Erholung bedürftig sind. Vielleicht wissen Sie selber gar nicht, wie nötig Sie es haben, daß Sie sich wirklich und gründlich erholen. Sie teilen das mit ungezählten Menschen, daß die Kette der Arbeit nie abreißt und daß die unerbittliche Peitsche des Arbeitstempos Ihnen keine Ruhe läßt. Sie sind oft müde und Sie leiden noch mehr unter jener seelischen Übermüdung und Überreizung, die wir höflich als Nervosität benennen. Sie zehren von dem Kapital Ihrer Lebenskraft. Kommen Sie zu uns und erholen Sie sich. Wir würden nicht wagen, Sie in unser Haus einzuladen, wenn wir zu Ihnen nicht das Vertrauen hätten, daß Sie sich über Ihre Lage nicht mehr täuschen und dessen überdrüssig geworden sind, die mangelnde Erholung durch allerlei Mittel leiblicher oder seelischer Betäubung zu ersetzen. Zigaretten und starker Kaffee, Kino und Kriminalromane tun es nicht mehr. Weil Sie das selber wissen, nehmen Sie vielleicht unsere Einladung so ernst, wie sie gemeint ist: Kommen Sie und erholen Sie sich! Wir haben uns sorgfältig ausgedacht, was wir Ihnen anbieten dürfen und wovor wir unsere Gäste bewahren möchten, weil es ihre Erholung gefährden könnte. Wie sollen wir Ihnen die Landschaft beschreiben, die unser Haus der Erholung umgibt? Es ist keine romantische Landschaft. Sie finden weder ragende Gipfel, noch Wasserfälle; nicht einmal Ruinen oder Aussichtstürme weist unsere Gegend auf. Es gibt weit und breit keine Sehenswürdigkeiten, deren pflichtmäßige Besichtigung die Zeit eines gebildeten Gastes beanspruchen konnte. Aber die Hügel und Wälder, die den Horizont begrenzen, bilden eine anmutige Linie, und der Blick über die weiten, von Baumgruppen unterbrochenen Felder ist täglich eine neue Freude, weil er nicht erregt, sondern beruhigt. Sie finden in leicht erreichbarer Nähe Wälder, durch die Sie auf immer wieder anderen Wegen stundenweit streifen können. Nach Wegweisern, die den Menschen glauben machen, man dürfe einen Weg nur gehen, um zu einem bestimmten Ziel zu gelangen, werden Sie vergeblich suchen. Die Vorstellung, daß jeder Weg nur ein Mittel zum Zweck sei, wird auf diesen Wegen durch Wald und Feld bald von Ihnen abfallen als eine der Zwangsvorstellungen, mit denen die Zweckhaftigkeit unseres Lebens uns um das eigentliche Leben betrügt. Sie werden lernen, die Wege selbst lieb zu haben und mit jedem Schritt ganz in sich aufzunehmen, was dieses Stücklein Weges Ihnen bietet. Diese Wege rufen Ihnen zu: Du hast Zeit und darfst Dir Zeit lassen. Wir sind bemüht, auch unser Haus, die Räume, die Mahlzeiten und den Stil menschlichen Zusammenlebens so zu gestalten, daß unsere Gäste sich erholen können. Unsere Gastzimmer sind einfach; aber sie werden, so hoffen wir, nichts darin finden, worüber Sie sich ärgern müßten, nichts darin vermissen (von guten Betten bis zu bequemen Stühlen), was zu dem Behagen wirklicher Entspannung dienlich ist. Es gibt in unserem Haus kein Radio. Wir haben es bisweilen erlebt, daß einzelne Gäste wieder abreisten, als sie endgültig bemerkten, daß man weder die neuesten Nachrichten noch Unterhaltungsmusik hören kann. Es war vermutlich richtig, daß diese Gäste wieder abreisten; sie waren aus Versehen zu uns geraten, da sie offenbar nicht die Absicht und nicht den Willen hatten, sich wirklich zu erholen. Die ungewohnte Stille erfordert von den meisten eine fühlbare Umstellung; so wie der Arzt manchen Patienten eine Umstellung in ihrer Ernährung oder anderen Lebensgewohnheiten verordnet, so geschieht es aus Fürsorge für die Erholung unserer Gäste, wenn wir ihnen diese Umstellung zumuten. Es ist ungeschriebene Hausordnung, daß unsere Gäste nichts voneinander erwarten, sondern einander „in Ruhe lassen”. Wollte sich Ihnen jemand aufdrängen und Sie mit ständigem Mitteilungsbedürfnis belästigen, so würde er dem Gesetz unseres Hauses zuwider handeln, und wir würden nötigenfalls nicht zögern, jede Folgerung daraus zu ziehen. Sie werden Menschen finden, mit denen Sie gern sich unterhalten; aber niemand wird es Ihnen als einen Mangel an Höflichkeit verdenken, wenn Sie es vorziehen, sich in großer Schweigsamkeit auch von den vielen Menschen zu erholen. Es ist ein Symptom unserer Verkehrtheit, ja einer tiefen Erkrankung unseres Wesens, daß die wenigsten Menschen noch wirklich zu spielen vermögen. Viele unserer Gäste haben uns berichtet, daß sie wider Erwarten in unserem Hause erfahren hätten, welche Hilfe zu wirklicher Entspannung und Erholung sie im Spiel gefunden haben, in einem Spiel, das ohne Leidenschaft und ohne Nebenabsichten wirkliches reines Spiel ist, in dem auch der reife Mensch dem Kinde in ihm Raum gibt. Wenn sich die rechten Menschen zusammenfinden, wird in unserem Hause gemeinsamer Gesang gern gepflegt; doch ist unser Haus so gebaut und die Räume sind so verteilt, daß niemand gestört wird, dem auch gute Musik störend und lästig wäre. Schließlich soll noch eine sehr zentrale Frage im voraus eine offene Antwort finden, über die besonders oft Auskunft erbeten wird. Wir sind kein christliches Erholungsheim in dem Sinne, daß unsere Gäste mehr oder weniger verpflichtet wären, an täglichen Andachten teilzunehmen, und wir halten es für richtiger, die Gastzimmer mit wirklich guten und wertvollen Bildern als mit religiösen Worten oder Zeichen auszustatten, die vielleicht nicht jedem willkommen sind. Wer seelsorgerlichen Rat begehrt, dem werden wir ihn gern vermitteln. Wer weiß, welche Hilfe für die tiefste Erholung das stille oder gemeinsame Gebet in der Kirche gewähren kann, der wird sich freuen, in geringer Entfernung von unserem Hause eine hübsche neu gebaute Kirche zu finden, die auch an Wochentagen immer geöffnet ist und auf stille Beter wartet. Da ist nichts und soll nichts sein, was nur der Zerstreuung diente; vieles, was den zerstreuten Menschen sammeln und in jene Mitte führen kann, wo die Quellen der Erholung fließen. Dürfen wir es mit einem Wortspiel sagen, was uns vorschwebt? Wir möchten unseren Gästen dazu helfen, daß sie wirkliche Ferien erleben. Aber ist es nicht seltsam, daß das Wort feria eigentlich den Wochentag im Unterschied vom Sonntag bezeichnet? Was echte und heilsame Ferien sind, ist aber dem Sonntag viel näher verwandt als dem Werktag und Alltag. Wenn uns Gäste beim Abschied sagen, es sei eigentlich immer wie an einem Sonntag gewesen, dann ist das das liebste, was wir von ihnen hören können. Vielleicht ist es unklug von uns, daß wir das alles mit solcher Offenheit sagen. Es ist das Gegenteil von Reklame und Propaganda, was wir damit tun. Aber wir möchten, daß solche zu uns finden, die begriffen haben, was Erholung ist, und die sich wirklich erholen wollen; wir möchten durch unsere Offenheit freilich auch bewirken, daß solche fern bleiben, die durch ihr Dasein die Erholung der anderen stören würden. Wenn Sie sich entschließen, zu uns zu kommen, haben Sie vielleicht den schwersten und entscheidenden Schritt schon getan: Sie wollen sich wirklich erholen. Sie kommen, um sich zu erholen. Dieses Werbeblatt habe ich mir ausgedacht; ich glaube nicht, daß ich ein solches oder ähnliches Blatt jemals bekommen werde. Doch wird der Leser bemerkt haben, daß ich mir nicht nur einen Wunschtraum von der Seele schreiben wollte; vielleicht regt mein Wunschtraum den einen oder anderen unter meinen Lesern an, auf wirkliche Erholung bedacht zu sein; vielleicht auch macht er dem Besitzer irgend eines „Erholungsheimes” Mut, auf die wirkliche Erholung seiner Gäste, auf sonntaghafte Ferien bedacht zu sein. Wir singen zuerst einstimmig einen Choral. Ich bestimme ihn, meistens nach den Liedern für das Jahr der Kirche. Je strenger und schlichter der Choral ist, desto lieber singt ihn unsere Hausgemeinde. Es hat sich von selbst ergeben, daß wir nur Choräle singen, die vor 1700 entstanden sind. Nach dem Choral singen wir mehrstimmig, meist alte geistliche Musik. Wir üben miteinander, das Üben darf aber nicht mühselig werden. Haben wir uns etwas Schwieriges vorgenommen, so muß ich im Laufe der Woche Augenblicke finden, den Einzelnen ihre Stimmen beizubringen. Es darf überhaupt nie der Gedanke an verlorene Zeit aufkommen. Alles, bis zum letzten aufgeschlagenen Buch, muß vorbereitet sein. Schwierigkeiten tauchen manchmal auf: Im vergangenen Jahr baten unsere katholischen Helferinnen immer um Palestrina. Unser siebzehnjähriger Baß erklärte schroff (zum Glück nur mir), das sei fremdartige Musik, an der er wenig Freude hätte. Dagegen lernte er gern und leicht die schwierigsten Bach- und Schütz-Bässe. Die kleinen Mädchen haben ihre „Lieblingslieder” und dringenden Wünsche. Jeder muß zu seiner besonderen Freude kommen, wenn sie nur zum Sonntagssingen paßt. Der Sonntagnachmittag ist bei uns nicht sonntäglich, und das wird so bleiben müssen, solange die Kinder klein sind. Ich gebe meinen Helferinnen Freizeit, und so habe ich fast ohne Pause zu tun. Ich liebe diese Zeit des Alleinseins der engsten Familie sehr, aber für die Kinder ist sie nicht festlich genug, und das tut mir leid. Wenn sie größer und selbständiger sind, wollen wir die Arbeit, die noch bleibt, zusammen schnell erledigen und dann lesen und musizieren. Vorläufig ruht unser Sonntag nur auf dem Singen am Vormittag. Das Gottesjahr 1951 (1942), S. 139 - 144 © Johannes Stauda-Verlag zu Kassel (1951) |
© Joachim Januschek Letzte Änderung: 13-01-31 |