|
von Horst Schumann |
Der Aufsatz ist vor zehn Jahren geschrieben und bewußt unverändert gelassen. Was hätte sich auch seitdem geändert zum Guten oder zum Unguten? (Der Herausgeber) Sonnabendnachmittag auf der Stadtbahn. Alle Züge sind überfüllt. Gepäck und Kleidung zeigen deutlich das Ziel der Einzelnen. Da sind die Stabtaschen der Faltbootfahrer; da sind die „Freßkoffer” derer, die einen Bootsstand ihr eigen nennen, die Badetaschen derer, die sich nur am großen See in den Sand legen und „aalen” wollen, die weißen und blauen Jacketts der zünftigen Jollenbesitzer - sie sprechen eine ganz unverständliche Sprache und werfen mit Fachausdrücken um sich, daß dem Laien Hören und Sehen vergeht. Aber auch der kleine Paddler blickt vergnügt: Die Sonne scheint, es ist sehr heiß, und ein leichter Wind gibt Hoffnung, daß man sein Treibersegel setzen kann. Es liegt schon eine wirkliche, richtige, frohe Sonntagsstimmung über den zusammengepferchten Menschen, und die Unbequemlichkeiten der bedrückenden Enge werden mit einem köstlichen, trockenen Humor ertragen. Beim Strandbad steigen die Badeleute aus - sie werden am Abend zurückfahren, und vielleicht werden einige wenige von ihnen morgen früh zur Kirche gehen. Am großen See steigen die meisten aus, die aufs Wasser wollen. Man muß seinen Kram noch ein Stück mühsam schleppen - mit einem Seufzer der Erleichterung betritt man das Bootshaus, wirft seinen Affen ab - und damit ist aber auch alle, alle Last, Verdrießlichkeit, Mühe, Sorge der Woche abgeworfen. Man ist dem Steinmeer entflohen, man ist „draußen”. Ein zärtlicher Blick geht über das geliebte Boot. Behutsam wird es vom Stand gehoben und steht bald draußen in der Sonne auf den Böcken. Und wenn man auch noch einiges zu basteln hat - es ist schon Feiertag. Da sind die Bootsnachbarn - man weiß nichts von ihrem Berufsleben, man kennt sie nur von der „Wasserseite” her, man hilft sich kameradschaftlich, wo es was zuzugreifen gibt, und man redet miteinander nur vom Wasser und von lohnenden Zielen. Und dann kommt der köstlichste Augenblick des Tages, wenn man behutsam von der Landungsbrücke in sein Boot steigt und das leise Wiegen unter sich fühlt. Man ergreift das Paddel - und nun liegt wirklich der Alltag weit, weit hinter uns. Am Nachmittag wird man irgendwo mit seinem Boot im Schilf liegen, dann und wann wird einmal eine Welle glucksen und das Boot wird sich kaum merklich wiegen, man wird in den blauen Himmel schauen und wirklich gar nichts weiter denken als: „Ich liege in der Sonne; es ist schön.” Aber es ist gar kein Zweifel, daß der wirkliche Wasserwanderer von einem solchen Sonntag erquickt an Leib und Seele, beglückt und tief froh heimkehrt, und daß am Montag auf vielen Gesichtern in der Stadtbahn noch ein Abglanz des also verbrachten Sonntags liegt. So liegen die Dinge. Und der Gottesdienst? Die Kirche? Ja, wie soll Zeit dafür bleiben? Das ist sicher: Auch wenn man seine Heimatstadt innig liebt - man muß doch einmal in der Woche heraus aus dem Steinmeer, und darum liebt man sie ja so, weil sie nicht weit vom Wasser liegt; die herrliche Wasserumgebung gehört einfach dazu. Darüber muß man sich klar sein: Man kann den Menschen nicht schelten, der am Sonntag einfach heraus muß. Man wird jedenfalls weder durch Schelten noch durch Klagen etwas daran ändern, daß es so ist: Der Großstädter kann nicht den kostbaren Sonnabendnachmittag einfach verloren gehen lassen - er hat auch so lange Strecken zu fahren, bis er herauskommt, daß er erst recht nicht warten kann, bis es der Kirche gefallen hat, um 10 Uhr ihren Gottesdienst zu halten, wo dann wirklich vom Vormittag nichts mehr bleibt. Wir müssen den Dingen ins Auge sehen, wie sie sind. Und wenn unsereiner selbst es als Student der Theologie so gemacht hat, wie wollen wir den anderen Vorwürfe machen? Wie kann man helfen? Daß Viele, ja wohl die Meisten gar nichts vermissen, ist sicher. Ebenso sicher ist allerdings auch, daß ihnen in ihrem inneren Leben die Kräfte fehlen, die nur im Leben mit Christus und in Seiner Gemeinde gegeben werden. Die Natur beglückt, sie befreit sogar oft - aber sie erlöst nicht. Wenn die Lage einfach so ist, wie sie geschildert wurde, so bleibt andererseits der Auftrag der Kirche unabänderlich bestehen, die Christusbotschaft und das Christusleben hinauszutragen in die Welt, die danach hungert, ob sie es weiß oder nicht. Ich habe mir als Student so geholfen: Mein Kamerad und ich hatten unser Neues Testament und unser Liederbuch mit und hielten dann draußen unsere Andacht. Ich muß gestehen, daß es uns nicht nur als eine Notlösung erschien. Unvergeßlich ist uns manche Andacht draußen geblieben; manches Herrenwort klang angesichts einer weiten Seefläche unter dem hohen Himmel sehr anders als im umschlossenen Raum. Man kann sehr wohl draußen mit der betenden Kirche verbunden sein, wenn man das Evangelium und das Gebet des Sonntags liest und das Wochenlied singt, - wie das Stundengebet der Kirche sehr ernsthaft immer damit gerechnet hat, daß alle einzelnen Beter, ja alle einzelnen Gemeinden doch immer in einem Geiste und mit denselben Worten den Einen Herren anrufen und darum, auch räumlich getrennt, eine Gemeinde sind. So würde ich heute wohl raten, das Tagzeitengebet draußen „mit der Gemeinde” zu halten. Aber das kann ja nur dem helfen, der bereits bewußt mit der Kirche lebt. Und die anderen? Ein anderer Weg ist der Besuch der nächstgelegenen Dorfkirche draußen. Es kann etwas ganz 'Wunderbares sein, seinen Sonntag auf irgendeinem fremden Dorfe mit der Dorfgemeinde zu feiern. Dieser Weg wird auch wohl zuweilen begangen. Für den Besitzer eines Wochenendhauses ist er gangbar, für den Wasserwanderer, der ja sein Boot nicht gern allein läßt, zudem möglichst einsame Gegenden aufsucht, sehr viel schwieriger - und auch hier wird gelten: Wer nicht schon mit der Kirche lebt, wird kaum von allein zu dieser Sonntagsfeier kommen. Da bleibt kein anderer Weg, die Kirche muß hinauskommen „auf die Landstraßen und an die Zäune”. Wochenendkapellen in der Nähe stark besuchter Ufer und Ausflugsplätze sind dringend not - da wird man sogar einen richtigen Gottesdienst mit Liturgie halten können, wie es denn um Berlin herum schon geschieht -, aber man wird auch den Pfarrer oder Volksmissionar mitten zwischen die Leute schicken müssen, etwa mit einem Posaunenchor in der Nähe größerer Zeltlagerplätze, und es wird dort, formlos, wie auf dem Missionsfelde, in einer kurzen „Andacht”, das Wort von Christus gesagt werden müssen. Und vielleicht hat es seine tiefere Bedeutung, wenn das ewige Wort nicht nur im umschlossenen Kirchenraume laut wird, sondern „draußen”, sei es zu zweien und dreien in der Stille, sei es in einer missionierenden Versammlung. Wenn Christus der Erlöser der Schöpfung ist - muß nicht das Christuszeugnis auch in der Natur gepredigt werden? Das Gottesjahr 1951 (1942), S. 133 - 136 © Johannes Stauda-Verlag zu Kassel (1951) |
© Joachim Januschek Letzte Änderung: 13-01-31 |