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Lieber Freund! Du fragst mich, ob ich nicht aus der besonderen Lage meines Berufes ein Wort zur Frage der rechten Sonntagsgestaltung zu sagen hätte? Sicher ist wohl, daß sehr viel mehr Männer, als man es sich gemeinhin klar macht, in ähnlicher Lage sind wie ich, d. h. also, daß sie sehr oft am Sonntag nicht zu Hause bei ihrer Familie sein können, sondern diesen Tag irgendwo und irgendwie in einer fremden Stadt zubringen müssen. Darum hat es vielleicht seine Berechtigung, daß ich Dir als einem führenden Mann der Kirche erzähle, wie es dem Laien, der in dieser Lage ist, mit der Kirche ergeht. Das können die Pastoren ja nicht wissen, wenn sie nicht selbst gleichsam auf der Laienseite gelegentlich einer Urlaubsreise entsprechende Erfahrungen gesammelt haben. Ich will also einfach erzählen, wie es mir ergeht, ohne viele Folgerungen aus diesen Erlebnissen zu ziehen. Das muß ich den verantwortlichen, leitenden Männern der Kirche überlassen. Früher mußte ich meinen Sonntag häufig in einer Stadt verbringen, die fast nur evangelische Kirchen hat. Die Folge war, daß ich in dieser Zeit fast nie in eine Kirche hineingekommen bin. Mein Beruf, mußt Du wissen, bringt es unabänderlich mit sich, daß, zwar nicht sehr häufig, aber doch dann und wann, auf den späten Sonntagvormittag Besprechungen angesetzt werden. Nicht aus Verachtung des Sonntags, sondern weil dieser Tag oft genug der einzige Tag der Woche ist, an dem sich die Teilnehmer für eine Konferenz freimachen können. Und wer hat schon eine Position, groß und sicher genug, um erklären zu können, daß er an solchen Sonntagvormittags-Konferenzen grundsätzlich nicht teilnimmt; übrigens habe ich in letzter Zeit mit Erstaunen bemerkt, daß sogar die evangelische Kirche selbst in ihrer Laienbewegung Besprechungen aller Art, Vorträge, Aussprachen, Schulungstage besonders gern auf den Sonntag verlegt. Trägt sie damit nicht selbst zur Zerstörung unserer Sonntage bei? Aber vielleicht befindet sie sich da auch in einer Zwangslage. Die Menschen, die heute verantwortlich im Wirtschaftsleben oder in der Politik stehen, sind ja leider ausnahmslos überlastet. Nun hat die evangelische Kirche normalerweise am Sonntagvormittag um 10 Uhr ihren Predigt-Gottesdienst, im übrigen ist sie abgeschlossen, oder man muß schon zu einer bestimmten Gemeinde gehören und von ihrem Leben genau unterrichtet sein, um zu erfahren, ob und wann außerdem Gottesdienst gehalten wird. In einem Hotel einen kirchlichen Anzeiger der Stadt aufzutreiben, ist gar nicht einfach, und selbst wenn man ihn mit Energieaufwand herbeischaffen läßt, pflegt in ihm eigentlich nie zu stehen, wo sich die verschiedenen Gottesdiensträume der Stadt befinden. Man nimmt an, daß der Leser das alles selbstverständlich weiß. Die Einrichtung aber eines schwarzen Brettes am Eingang der Kirche, die ich bei fast allen katholischen Kirchen gefunden habe, ist sonderbarerweise unseren evangelischen Gemeinden fast unbekannt. Einmal sah ich an einem Kirchenportal ein solches Brett bei einem Gang durch die Stadt und stürzte mich sofort darauf, fand aber nur Mitteilungen über die Versammlungen des Jungmädchenvereins, des Kirchenchors und des Presbyteriums. Das war eine rechte Enttäuschung, denn der Hunger nach geistlicher Lebensgemeinschaft, nach einer sonntäglichen Stunde der Einkehr und Heimkehr ist ja doch viel größer, wenn man das Zuhause, die Gemeinschaft der Familie, entbehren muß. Ich spreche von einem Hungergefühl und meine das gar nicht in einem übertragenen Sinne, sondern ganz wörtlich. Es geht da nämlich wirklich um die Aufnahme geistlicher Speise. Allenfalls könnte ich auch sagen: es geht um das Einatmen geistlicher Lebensluft, und ich könnte demgemäß davon sprechen, daß sich bei mir mit der Zeit das quälende Gefühl einzustellen pflegt, ersticken zu müssen, ein Fenster aufreißen zu müssen, um frei atmen zu können. Gewiß, ich kenne und gebrauche die trefflichen Hilfen, die uns aus Eurem Arbeitskreise angeboten werden. Gewiß ist mir das Gebet nicht verwehrt. Gewiß kann ich auch Bücher geistlicher Art mit auf die Reise nehmen und in einer stillen Stunde darin lesen. Aber ich habe die Erfahrung gemacht, daß das alles die Teilnahme am Gottesdienst, am Gebet der Kirche, in keiner Weise ersetzen kann, so wunderbar stärkend zuweilen eine Tageslosung oder der Wochenspruch auch ist. Wenn ich mir Rechenschaft zu geben versuche, woran das liegt, so muß ich, wieder nur aus meiner ganz persönlichen Erfahrung heraus, sagen, es liegt daran, daß man so hilfsbedürftig ist, daß man nach dem sehr angespannten Werk der arbeitsreichen Woche, das in so völlig andere Bezirke geführt hat, am Sonntagmorgen einfach nicht geistig und seelisch produktiv genug ist, um ohne Beistand des heiligen Raumes, der heiligen Handlung, der betenden Gemeinschaft zum rechten Aufschwung der Seele, zum Durchbruch durch die „dünne Wand” zu gelangen, die uns von der anderen Welt, von dem Raum der Ewigkeit trennt. Seit einigen Jahren führen mich meine Geschäftsreisen öfters nach Süddeutschland. Ich komme also häufiger in katholische Städte, und in ihnen geht es mir, ich muß es einfach offen sagen, eigentlich besser, denn in diesen Städten kommt man ja auf seinen Wegen meist an einer Reihe von offenen Kirchen vorbei, und es ist schon eine große Wohltat, einmal eine Viertelstunde stillsitzen und sich bergen zu können in einem Raum, der vom Atem des Gebetes erfüllt ist. Vor allem aber wird in diesen Kirchen ja an jedem Morgen von sechs Uhr an eine ganze Reihe von Messen gelesen. So kann ich, wenn es mich danach verlangt, eine Stunde früher aufstehen und an einer solchen Feier teilnehmen. Immer häufiger habe ich bei solchen gelegentlichen Ausflügen über die Kirchengrenze Gemeinden entdeckt, in denen an jedem Sonntagmorgen, meist zu recht gelegener Zeit, d. h. früh genug, um danach noch in eine Sitzung zu kommen, sogenannte Gemeinschaftsmessen gefeiert werden. D. h. also, es werden deutsche Choräle gesungen, die wesentlichen Stücke der Liturgie werden in deutscher Sprache vorgebetet. Manches wird auch gemeinsam gesprochen, und die Lesungen des Sonntags werden in deutscher Übersetzung vorgetragen. Das ist eine wirkliche Wohltat, was mir fremd ist und immer fremd bleiben wird in diesen Feiern der anderen Konfession, tritt dabei zurück und wird jedenfalls für mich bedeutungslos gegenüber der Speise, die ich da empfangen kann. Ich muß sagen, daß mir in diesen Jahren sehr deutlich geworden ist, wie sehr man gerade als gehetzter, müder, hilfsbedürftiger Laie die feste Ordnung und die leibhaftige, ja sinnenhaft einprägsame Handlung der Messe, die Liturgie in ihrer objektiven tragenden Kraft als entscheidende Hilfe erfährt. Wenn man so wie ich in die verschiedensten Landschaften und damit in den Bereich der verschiedensten Landeskirchen gerät, wird es einem doch immer schmerzlicher, daß unsere evangelischen Gemeinden keine gemeinsame Ordnung ihrer Gottesdienste besitzen. Man erlebt da immer wieder meist unliebsame Überraschungen. Einen allerersten und sicher sehr begrüßenswerten Schritt vorwärts wird ja wohl, so denke ich, die Einführung des neuen Einheits-Gesangbuches bedeuten. Es wird zwar, davon bin ich überzeugt, noch Jahre dauern, aber irgend einmal wird man dann überall mitsingen können, ohne sich über Abweichungen im Text oder in der Melodie der Choräle ärgern zu müssen, wichtiger ist mir, offen auszusprechen, welche große Schwierigkeit, für den gastweisen Besucher jedenfalls, die Tatsache mit sich bringt, daß bei unserem evangelischen Gottesdienst alles auf die Predigt und also, man mag es drehen und wenden wie man will, auf die Persönlichkeit des Predigers gestellt ist. Es wird nur sehr schwer, das auszusprechen, und vielleicht verletze ich euch damit, aber wenn ich nüchtern bei der Wahrheit bleiben und von meinen Erfahrungen berichten will, dann muß ich einfach feststellen, daß ich es nicht wagen würde, meine Kollegen und Geschäftsfreunde, als da sind Kaufleute, Ingenieure, Chemiker usw., auch nach noch so persönlichen, nicht nur anregenden, sondern auch ernsthaft verantwortlichen Gesprächen über Gott und Welt zur Teilnahme an diesen Predigt-Gottesdiensten aufzufordern. Ich wüßte genau, daß es in 90 von 100 Fällen zu einer Katastrophe käme. Das Risiko ist einfach zu groß. Ich kann im einzelnen nicht sagen, woran das liegt, aber irgendwie scheint es mir daran zu fehlen, daß unsere Prediger einfach das große Wunder des Evangeliums in dieses unser ganz gegenwärtiges wirkliches Leben hineinstellen. Man will ja keine theologischen Gedankengänge. Man verlangt nicht nach Problematik, noch viel weniger nach Polemik oder nach Verteidigung der Wahrheit gegenüber ihren Gegnern. Daß vollends Moralpauken ihren Zweck verfehlen, brauche ich kaum zu sagen. Man möchte, laß es mich ganz schlicht sagen, einfach einmal für eine Stunde „zu Hause” sein dürfen, in der wahren Heimat unseres Lebens, atmen dürfen in der heute und zu aller Zeit wirklichen Wahrheit, Freiheit und Liebe. Um so mächtiger ist das stille verborgene Heimweh, durch das wir der anderen Seite des Lebens verbunden sind. Denn, nicht wahr, die Mütter und dieses Heimweh nach der mütterlichen Welt, sie „meinen” ja doch etwas ganz anderes als das Zuhausesein in der warmen Behaglichkeit friedvoller Verhältnisse. In diesem Heimweh, das uns an keinem Tage so überfällt wie an dem Sonntag „in der Fremde”, lebt etwas von jenem ewigen Heimweh des Menschen überhaupt, der ja doch, Soldat oder nicht, immer ein ausgesetzter, ein in dieser seiner irdischen Existenz ungeborgener Mensch ist. Und ich möchte nun nichts anderes sagen, als daß für uns die Kirche Mutter sein müßte, wenn sie an unser tiefstes Lebensverlangen rühren, wenn sie uns wirklich helfen will. Noch ein Letztes muß wohl gesagt werden, wir sind durch die Entwicklung der letzten Jahrzehnte - es bedarf dies gar keiner Begründung mehr, es ist darüber fast schon zuviel gesagt und geschrieben worden - mißtrauisch geworden gegen alle bloßen Worte, wir fragen nach einer geschlossenen Haltung des Lebens, nach klaren, überzeugenden Formen, nach einem Stil, wenn ich so sagen darf, der uns verrät, daß hier ein echtes, wahres Sein seinen überzeugenden Ausdruck gefunden hat, und mir ist aus Äußerungen gerade junger Männer immer wieder entgegengetreten, daß sie nichts so abstößt, wie die Haltlosigkeit, die Stillosigkeit, die Ungeformtheit, der Mangel an Objektivität, der ihnen nach ihren Aussagen bei so vielen Vertretern unserer evangelischen Kirche begegnet. Ja, wir hassen die vielen Worte, sie sind uns verdächtig und wir werden mißtrauisch, wenn einer glaubt, sich verteidigen zu müssen, statt seine Sache klar und eindeutig darzustellen, so daß ihre Gültigkeit und ihr Schwergewicht eben dadurch in Erscheinung treten. Um so ernster wird die Frage: Wo öffnen sich die Türen einer Kirche, in deren Räumen man mitten in unserem gehetzten, unruhevollen Dasein die Luft des Friedens atmen darf, der unantastbar ist? Das Gottesjahr 1951 (1942), S. 98-104 © Johannes Stauda-Verlag zu Kassel (1951) |
© Joachim Januschek Letzte Änderung: 12-12-07 |