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Ein Briefwechsel von Wilhelm Stählin |
Lieber Freund! Sie können sich kaum vorstellen, wie sehr ich den Sonntag in Ihrem Hause genossen habe. Ich will mich nicht einer pathetischen Übertreibung schuldig machen, aber es will mir doch immer wieder der Vergleich in den Sinn kommen, daß solche Sonntage wie Oasen auf einer mühseligen Wüstenwanderung sind. Wir berufstätigen Frauen haben es nicht leicht mit unseren Sonntagen. Man ist allemal am Ende der Woche auch am Ende mit der Kraft, und es reicht nicht mehr zu einem „Aufschwung der Seele” oder wie Sie das nennen wollen. Es liegt verzweifelt nahe, daß wir den Sonntag einfach benützen zu alle dem, wozu uns die ausgefüllten Arbeitstage keine Zeit gelassen haben, wenn ich ehrlich sein soll: ich halte eigentlich keinen Sonntag, wenn ich allein bin, und weiß kaum mehr, wie ich das machen sollte. Nun nehmen Sie mich zum Sonntag einfach mit hinein in Ihren schönen und reichen Familiensonntag, und ich trinke all das Liebe und Gute, was er in sich schließt, in meine durstige Seele hinein: die Wohnung, in der alles von sonntäglicher Ordnung und Sauberkeit blitzt, die Blumen, die Ihre Frau noch Samstagabend überall in die Vasen gestellt hat, die vergnügte Kinderschar um Ihren Tisch - ich gestehe, daß ich auch das köstliche Essen zu den sonntäglichen Freuden zähle -, und nicht zuletzt die Musik am Abend. Es war ein richtiger Sonntag, und ich bin sehr dankbar. Mit diesem ausführlichen Dank, der mir wirklich von Herzen kommt, habe ich mir zugleich einen Anlauf genommen, um etwas auszusprechen, was mich seit Samstag-Abend verfolgt und was auch mitten in aller Sonntagsfreude immer wieder in mir aufstieg. Offen gestanden, ich hatte mich auch darauf gefreut, mit Ihnen und den Ihren in die Kirche zu gehen. Sie wissen, daß ich von mir aus selten den Weg dorthin finde, und ich hätte ja allerlei Entschuldigungen dafür anzuführen; aber ich weiß ja doch, daß Sie nicht nur, wie man so sagt, dem christlichen Glauben anhängen, sondern daß alle Fragen und Aufgaben der Kirche Sie aufs tiefste bewegen, und daß Sie das Glück haben, darin nicht nur bei Ihrer Frau, sondern auch bei Ihren Kindern ein seltenes Maß von mitgehendem Verständnis zu finden. Da hatte ich es für selbstverständlich gehalten, daß wir am Sonntag Morgen alle miteinander zur Kirche gehen würden. Daher meine Frage am Samstag-Abend. Sie werden sich der Situation und der kleinen Verlegenheit, die ich ahnungslos heraufbeschworen hatte, ebenso genau erinnern wie ich: Sie holten das Sonntagsblatt (oder was es sonst war), um den Kirchenzettel zu studieren, und sagten dann nur „Nein, morgen predigt niemand”. Ich habe mir lange überlegt, ob man eigentlich so sagen kann, ob man so sagen darf. Wir gehen doch schließlich nicht nur wegen des Predigers in die Kirche. Als ich diesmal zu Ihnen kam, hatte ich in besonderem Maß Hunger nach Sonntag, und darin war eingeschlossen der Hunger nach Kirche, Gottesdienst, Orgel, Gesang, Gemeinde. Ich glaube, es wäre mir ziemlich gleichgültig gewesen, wer da predigte und ob die Predigt besonders gut gewesen wäre. Vielleicht hätte ich nicht einmal aufgepaßt und wäre doch in meiner Weise andächtig gewesen. Aber das war nun alles abgeschnitten durch Ihre so leicht hingeworfene Bemerkung „Morgen predigt niemand”. Ich habe, jetzt nachträglich noch viel mehr als im Augenblick, wo Sie das sagten, das Gefühl: hier stimmt etwas nicht, und ich stelle mir vor, daß Sie selbst, vielleicht auch Ihre Familie, darunter leiden müßten, daß Ihr Gottesdienstbesuch so abhängig ist von den Menschen, die da gerade an der Reihe sind. Ist es nicht besser, wenn hier einfach eine feste Gewöhnung besteht, in die auch die Kinder selbstverständlich hineinwachsen: am Sonntagvormittag geht man eben in die Kirche und nimmt sich das mit, was man mitnehmen kann, und wäre es nur dies, daß man wieder in der Kirche gewesen ist, daß man die Orgel gehört und mit der Gemeinde gesungen hat. Darf das alles unterbleiben, weil „Niemand” predigt, niemand, der Ihnen „liegt”, und dessen Gedanken mit den Ihren leicht zusammenstimmen? Es steht mir gewiß nicht zu, Ihnen einen Vorwurf zu machen. Ich frage nur: „Morgen predigt niemand” - ich kann das nicht zusammenreimen mit all dem, was ich gerade aus Ihrem Munde über die Kirche, über ihre objektive Gestalt, über die notwendige Überwindung des Individualismus gehört habe. Also sehen Sie, bitte, nicht einen leisen Undank darin, wenn ich hier, an diesem einen Punkt, einen Mangel empfinde; sondern nehmen Sie es als Zeichen meines großen Vertrauens, daß ich die Unruhe, die jenes Wort in mir erregt hat, nicht in mir verschließe, sondern die Frage noch einmal hervorhole. Im stillen hoffe ich, Sie möchten darauf keine andere Antwort geben als die, daß wir bei meinem nächsten Besuch einfach ohne nach dem Kirchenzettel zu schauen miteinander in die Kirche gehen. In der Hoffnung, daß ich wieder zu Ihnen kommen und mir diese Antwort holen darf, verbleibe ich Ihre trotzdem sehr dankbare . .. Sind Sie mir sehr böse, wenn ich ehrlich sage, daß ich Ihnen das nicht versprechen kann? Wenn ich mir die Situation ausmale, dann glaube ich, daß das Ausbleiben des „Kirchenzettels” eher die umgekehrte Wirkung auf mich haben könnte; oder vielmehr, es hat schon mehr als einmal in diesem andern Sinn gewirkt. Ich bleibe lieber zu Hause, als daß ich mich dem Abenteuer aussetze, irgend eine Predigt hören zu müssen. Vielleicht ist das noch zu optimistisch gesagt: irgend eine Predigt; vielleicht ist die Rede, die da gehalten wird, gar keine Predigt. Ich habe eine sehr genaue Vorstellung von dem, was eine christliche Predigt ist. Glauben Sie mir, ich unterscheide eine gute und eine schlechte Predigt, eine wirkliche Predigt und eine Predigt, die eben keine Predigt ist, nicht nach ästhetischen ober rhetorischen Maßstäben. Natürlich ja, es ist freilich angenehm, wenn der Prediger eben reden kann, wenn er in einer natürlichen und freien Haltung auf der Kanzel steht, wenn er seine Stimme und unsere liebe deutsche Sprache richtig gebraucht, wenn er mich nicht fortwährend durch ein heulendes Pathos oder durch allerlei sprachliche Unarten, durch einen unlebendigen Schreibstil, durch schlecht durchgeführte Bilder oder dergleichen ärgert. Sie wissen, daß mich manche Dichter durch den Wohllaut ihrer Sprache entzücken, und ich sehe nicht ein, warum nicht die großen und herrlichen Dinge, von denen ein Prediger reden darf, das würdigste und edelste Sprachgewand haben sollten; eine Predigt in schlechter Sprache und in schlechter Haltung vorgetragen, das ist mir ebenso peinlich, wie wenn mir beim Empfang des Sakraments plötzlich auffiele, daß die Hand, die mir das Brot reicht, nicht sauber ist. Aber über all das käme ich hinweg, leichter als meine Frau, die in allen Fragen der Form und Gestalt besonders empfindlich ist, und die es gar nicht verwinden könnte, wenn man ihr eine leckere Speise auf einem schmutzigen Blechteller kredenzen wollte. Nein, ich käme darüber schon hinweg. Aber was ich verlange, unerbittlich verlange, ist, daß der Prediger wirklich von den Geheimnissen unseres Glaubens zutiefst ergriffen ist und als ein Ergriffener davon reden, meinetwegen stammeln kann. Er muß den Menschen kennen, den wirklichen Menschen, und er muß den wirklichen Gott kennen, und irgendwie muß auf seiner Stirne der große Glanz von der Begegnung mit dem Ewigen leuchten. Er muß in der Bibel gegründet sein, und man muß ihm anspüren, daß er das Evangelium von der erlösenden Gnade Gottes, das Wort von Sünde und Vergebung, von Schuld und Versöhnung, von Sterben und Auferstehen wirklich mit seinem Herzen gehört hat. Nein, liebe Frau Doktor, diesem Abenteuer setze ich mich nicht aus. Ich kann nicht glauben, daß Gott Freude hat an einem Menschen, der mit einem verdrossenen Gesicht, das die Langeweile und den Ärger mühsam genug zu verbergen sucht, in Seinem Hause sitzt. Ich will mich in der Kirche nicht ärgern. Ich will nicht, daß ich dann mit meiner Familie auf dem Heimweg in ein verlegenes Schweigen falle, bis dann wieder, wie vor einigen Monaten, meine große Tochter sagt: Vater, muß man sich das wirklich anhören? Die Predigt ist ein zu großes Risiko. Es kann zu leicht geschehen, daß sie sich als der eigentliche Feind der Sonntagsfeier erweist, als das, was den Sonntag mehr als alles andere entheiligt. Wenn ich mich zuhause still hinsetze und lese, wozu mir die Woche keine Zeit läßt, ein paar Gedichte von Goethe oder Rilke oder Claudius oder Henry Heiseler-um nur einige sehr zufällige Beispiele zu nennen-, oder blättere unter meinen vielen Kunstblättern, unter denen ich selbst immer wieder meine überraschenden Entdeckungen mache, oder ich höre auch nur zu, wie meine Kinder nebenan musizieren, dann feiere ich wirklich den Sonntag; ich ärgere mich nicht, und ich vergreife mich nicht an einem Heiligtum. Also ich kann Ihnen nicht versprechen, daß ich mich bessern werde, jedenfalls nicht in der Richtung, in der Sie es von mir hoffen. Kommen Sie wieder, sobald Sie können! Und wenn wir nicht sicher erwarten dürfen, daß uns ein berufener Zeuge die lebendige Wahrheit seines Herrn verkündigt, dann bleiben wir zuhause. Ich kann wirklich nicht anders schreiben. Meine Frau läßt Sie herzlich grüßen. Sie hat Ihren Brief gelesen, aber wir haben nicht darüber gesprochen, weil wir dieser ewigen Klage über eine Not, die wir nicht ändern können, gründlich müde sind. Aber Ihre Frage hat nun wieder einmal alles hervorgeholt. Hoffentlich sind Sie nicht allzu sehr entsetzt darüber. Ihr .. Ich mache also hier gar nicht den Versuch zu widersprechen; Sie werden schon recht haben mit Ihren Klagen und Sorgen. Und wenn ich Sie erinnern wollte an das, was Sie selber guten Predigten verdanken, so gerieten wir in einen höchst unfruchtbaren Streit über das zahlenmäßige Verhältnis guter und schlechter Predigten. Ein solches nutzloses Gespräch, wo von vornherein jeder recht hat, ist wirklich das Letzte, was ich in meiner Frage hervorrufen wollte. Aber, offen gestanden, Ihr Brief hat mir keinen wirklichen Eindruck gemacht und hat meine Unruhe in keiner Weise behoben. Haben Sie überhaupt verstanden, was ich meinte und wollte? Was mir an Ihrer damaligen Bemerkung so anstößig war, ist ja gerade dies, daß dabei der Predigt und ihren Qualitäten eine so ungebührlich große Wichtigkeit beigemessen wird. Sie werden mich hoffentlich nicht daran erinnern wollen, daß nach der allgemein herrschenden Auffassung die Predigt die Hauptsache des protestantischen Gottesdienstes sei, und daß man eben in die Kirche gehe, um eine Predigt zu hören. Es würde Ihnen schlecht anstehen, sich auf die Linie dieser landläufigen Auffassung zurückzuziehen. Seit wann legen Sie Wert darauf, in diesem Sinne ein guter „Protestant” zu sein? Seien Sie ein „besserer” Protestant, der wieder weiß, was Gottesdienst eigentlich ist! Wenn viele Pfarrer, was ich natürlich nicht bestreite, ihre Predigt für das Wichtigste am ganzen Sonntag halten - warum wollen Sie da auf einmal einfach hinnehmen, was unverständige Theologen Ihnen vorsagen; Vielleicht seid Ihr Männer überhaupt geneigt, das, was Ihr könnt und ausübt, für die wichtigste Sache von der Welt zu halten; dieser allgemein männlichen Eitelkeit zollen eben auch die Pfarrer ihren Tribut. Übrigens: wir verführen ja die armen Pfarrer geradezu zu diesem Irrtum, wenn wir ihre Predigt für die Hauptsache halten und um ihretwillen in die Kirche gehen. Vielleicht ist das bei uns Frauen überhaupt ein wenig anders. Für mich bedeutet es sehr viel, wenn ich von Zeit zu Zeit in diesen ganz anderen Raum eintreten, mich gleichsam von ihm aufnehmen lassen darf. Ich meine jetzt das Wort Raum ebenso im äußerlichen wie im übertragenen Sinn. Wenn ich in einer katholischen Kirche die Menschen sehe, wie sie beim Eintritt ihr Knie beugen und ihren Finger in das Becken mit geweihtem Wasser tauchen, um sich damit zu bekreuzen, dann möchte ich die Katholiken wirklich darum beneiden, daß sie diesen Eintritt in den heiligen Raum mit so sinnfälligen Gebärden begleiten dürfen. Wir haben nichts dergleichen, und es ist ja jedenfalls für uns Frauen, und wohl erst recht für die Kinder, viel schwerer, diesen Schritt rein innerlich zu vollziehen. Muß ich noch deutlicher beschreiben, was ich meine? Wir treten in einen Raum, der unserem Privatleben entnommen ist, der überhaupt mit unserem persönlichen Wohnen, Arbeiten, Schaffen, Essen und Schlafen nichts mehr zu tun hat. So erlebe ich den Gottesdienst und meine damit dem nicht untreu zu sein, was unsere Kirche uns lehrt. Es gelingt nicht immer so, wie ich es möchte. Manchmal kann mich eine Predigt mit einem solchen Strom von Traurigkeit überfluten, daß ich den ganzen übrigen Sonntag zu keinem fröhlichen Tun mehr tauglich bin und den ganzen Tag das Gefühl nicht los werde, ich müßte mich in einem klaren Wasser reinigen. Aber dann bin ich eben nicht wirklich „in der Kirche” gewesen. Je mehr ich in der Kirche gewesen bin. desto weniger stört mich die Predigt. Es ist ja selten, daß sie mir wirklich hilft; sie ist nicht wichtiger als der einzelne Mensch, der da predigt, gegenüber der Weite und Länge und Tiefe und Höhe der ganzen christlichen Kirche. Aber die Predigt stört nicht mehr. Und ich würde, wie ich meine, einfach dem Menschen zuviel Ehre antun, wenn ich den ganzen Kirchgang davon abhängig mache, ob „Jemand” predigt. Also, lieber Freund, in eine Diskussion über die Güte der Predigten werde ich mich mit Ihnen nicht einlassen. Aber ich hoffe, Sie verstehen jetzt, warum Ihr letzter Brief mich weder überzeugt noch beruhigt, sondern meine Frage erst recht dringlich gemacht hat, ob denn nicht im Kern und in der 'Wurzel etwas verkehrt ist, wenn man sich so sehr dafür interessiert, ob „Niemand” oder „Jemand” predigt. Aber vielleicht sind wir nun wirklich weit voneinander entfernt. Das würde mir, die ich so gern in Ihren Sonntag eintauche, herzlich leid tun. Ihre ... Hier tut sich freilich ein Gegensatz auf von einer erschreckenden Tiefe; und das Aufregende ist für mich, daß ich nicht einmal sicher weiß, auf welcher Seite dieses tiefen Grabens ich selber stehen will und stehen kann. Wenn ich Ihre Gedanken auf eine letzte Formel bringen darf, so müßte ich wohl etwa sagen: es handelt sich darum, ob wir in der Kirche unseren Vater oder unsere Mutter suchen. Sie entsinnen sich jenes guten Abendgesprächs, als wir uns über den verschiedenen Anteil der beiden Eltern an der inneren Entwicklung der Kinder unterhielten; Sie erzählten uns, wie Ihr eigener Vater zwar nicht sehr viel in Ihre Kindheitsentwicklung eingegriffen, wie aber doch seine Worte, auch solche, die gar nicht an Sie selber gerichtet waren, und vor allem die ganz seltenen eigentlichen Gespräche mit ihm einen unauslöschlichen Eindruck gemacht hätten; und meine Frau fügte dann die andere Seite hinzu, indem sie davon sprach, wie die Mutter sehr viel mehr durch ihr Sein als durch ihre Reden auf das kindliche Herz wirke, wie sie einfach dadurch, daß sie da ist, das Kind trösten, beruhigen, verpflichten, überwinden könne. Eben daran mußte ich bei Ihrem Brief denken. Denn was Sie beschreiben, ist doch im Grunde dies eine: wir sollten zur Kirche gehen, wie wir zu unserer Mutter gehen, und sollten in ihr uns so verhalten, wie wir uns bei der Mutter verhalten. Demgegenüber wäre dann die Predigt wie ein Gespräch, das zwischen Vater und Sohn geführt wird und es ist ja zweifellos so, daß manche Kinder sich einem solchen Gespräch entziehen, nicht weil sie nicht gern ein väterliches Wort hören möchten, sondern weil sie fürchten, daß die wohlmeinenden Worte des Vaters an ihrem eigenen Leben gänzlich vorbeigehen möchten. Habe ich Sie recht verstanden? Ich gestehe, daß mir diese Betrachtungsweise neu ist; ich brauche Zeit, mich darin zu versenken, und muß erst erproben, ob sie sich dauernd mit meinem eigenen Empfinden und Erleben verbindet. Aber eines ist mir sofort klar, das Sie, wie ich meine, nicht genügend bedacht haben. Wenn Ihre Worte über den Gottesdienst als den weiten Raum, in den wir einkehren dürfen, richtig sind, passen sie doch nicht auf unseren protestantischen Gottesdienst. Ob es uns lieb oder leid ist, unser Gottesdienst ist Predigtgottesdienst. Er will mit den Menschen reden, so wie ein einsichtiger und verantwortungsbewußter Vater mit seinen Kindern redet. Er macht gar nicht den Versuch, die Menschen in mütterlicher Wärme zu bergen. Der Protestantismus ist eine Religion ohne Mutter. Ich fange an zu erkennen oder doch zu ahnen, daß darin ein großer Mangel liegt. Aber können wir das ändern? Dieser protestantische Predigtgottesdienst ist nun einmal unser Schicksal, vielleicht unsere Not; er ist vor allem das Schicksal des armen Pfarrers, der dadurch Sonntag für Sonntag an eine fast unmögliche Aufgabe gestellt ist (und sicherlich müßten wir barmherzig daran denken, wenn uns so harte Urteile über die durchschnittliche Predigt über die Lippen kommen wollen, wie ich sie selbst immer wieder ausgesprochen habe). Und sicherlich ist dieser protestantische Predigtgottesdienst doch auch ein Geschenk, mit dem unsere Väter und wir selbst überreich beschenkt worden sind. Ich gebe also Ihnen recht und muß doch zugleich mich selber verteidigen: und es will mir scheinen, als ob wir von verschiedenen Dingen redeten, wenn wir einander mit unseren Fragen und Entgegnungen bestürmen. Oder täusche ich mich? Ihr ... Ohne Bild gesagt: Sie machen ja aus der Predigt etwas ganz Verkehrtes, wenn sie sie losreißen von dem mütterlichen Grund des gesamten kultischen Lebens. Ich glaube nicht, daß ich geneigt wäre, Predigten anzuhören, wenn mir das Sakrament fehlte; oder ich will es lieber so ausdrücken: seit ich einen neuen Zugang zum Sakrament gewonnen habe, kann ich in einer mich selbst überraschenden Weise anders hören, wenn die Bibel gelesen oder darüber gepredigt wird. (Ich muß freilich gestehen, daß man zugleich in einer ganz unerhörten Weise kritisch wird gegen eine bestimmte Art von Predigten und sie einfach nicht mehr ertragen kann. Es ist sehr selbstlos, Ihnen das zu sagen; aber ich muß doch ehrlich sein!) Doch bewegte mich etwas anderes noch mehr, als ich Ihren Brief las. Wir Frauen wundern uns manchmal, wie sehr Ihr Männer in starren Gegensätzen denkt und etwas als unabänderliche Wirklichkeit hinnehmt, das zu ändern in gewissem Maß in Euren eigenen Händen läge! Sie tun so, als ob Ihnen im Gottesdienst etwas vorgesetzt würde, das Sie nun einfach hinzunehmen hätten, wie es nun eben ist. Solche Passivität ist doch sonst nicht gerade Ihre Art! Wer hindert Sie, all das andere außer der Predigt, den Raum, den Altar, die Musik, das Gebet vor allem, das gemeinsame und das stille Gebet ganz ernst zu nehmen und also sozusagen aus einem etwas erstarrten Gesicht die Züge der Mutter, ihrer tragenden Ruhe und Güte wieder herauszuholen? Wenn Sie freilich nicht hingehen, dann geschieht das eben nicht. Jedenfalls der Anteil, der Ihnen zufallen wollte, bleibt unerfüllt, wie ein Platz, der leer bleibt im Chorgestühl. Sie überschätzen die Pfarrer, wenn Sie so tun, als sei es von ihnen abhängig, ob in der Kirche etwas geschieht oder ob da im Grunde nichts geschieht. Es will mir manchmal scheinen, wir hätten hier einfach einen Dienst zu tun, der genau so wie jeder Dienst unsere Hingabe und unsere Treue fordert. Wie wäre es, wenn wir Ihr Wort, von dem wir ausgegangen sind, einmal leise veränderten: „Morgen predigt niemand”; also betet morgen auch niemand; ich jedenfalls werde mich daran nicht beteiligen. Das ist genau so verkehrt, wie wenn der Gottesdienst ausfällt, weil nur wenige Besucher erschienen: Heute hört niemand, also predige ich nicht, also wird auch nicht gebetet. Muß das so sein? „Morgen predigt niemand.” Man könnte ja dazu auch sagen: also soll mindestens jemand beten, und dieser Jemand will ich sein. Verzeihen Sie die Kühnheit, zu der ich mich habe hinreißen lassen. Es ist ja fast mehr ein Selbstgespräch als eine Fortsetzung unseres Briefwechsels. Auch wenn es ein Selbstgespräch wäre, das gar nicht zu Ihnen dringt, wollte ich Ihnen doch noch einmal für den guten Sonntag danken, der dies Selbstgespräch aus sich geboren hat. Aber vielleicht werden wir das nächste Mal doch miteinander in die Kirche gehen, damit es nicht heißen kann: Niemand singt, niemand betet, niemand ist da. Von Herzen Ihre... Die „Hausandacht” genügt dafür nicht. Sie bindet uns zu stark an das eigene Leben. Um der Loslösung vom Persönlichen willen brauche ich am Sonntag die Kirche. Nun ist die Frage, ob in der Kirche wirklich, objektiv, etwas geschieht. Muß denn der Mittelpunkt jedes Gottesdienstes die Predigt sein?... Wie oft sind diese „Predigten” keine wirklichen Predigten, gequält und quälend, und hinterlassen darum nur Müdigkeit und Enttäuschung, statt der Freude, die vom Gottesdienst ausstrahlen sollte auf den ganzen Tag. Wie oft bin ich deshalb lieber zuhause geblieben und sehe doch deutlich, was dann dem Sonntag fehlt. Man braucht den immer erneuten Segen, der uns vom Altar her zuteil wird. Die armen Kirchgänger brauchen wirklich einen Schutzpatron, an den sie denken und mit dem sie sich trösten können. Aber es ist vielleicht sehr unbequem, wenn man den Simeon und die Hanna als Schutzheilige hat . Das Gottesjahr 1951 (1942), S. 74-87 © Johannes Stauda-Verlag zu Kassel (1951) |
© Joachim Januschek Letzte Änderung: 12-12-07 |