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von Hugo Specht |
Es ist eine merkwürdige Beobachtung, die freilich vielen Menschen verborgen bleibt, daß unsere Sprache in einzelnen Worten eine Fülle von tiefen Weisheiten und Lebensgeheimnissen durch viele Generationen hindurch bewahrt, Weisheiten und Geheimnisse, die unserem Bewußtsein längst verloren gegangen waren; wir gebrauchen zwar die Worte noch, aber sie klingen nicht mehr, und die Seele vernimmt nicht mehr ihre verborgenen Tiefen. „Ein harmloser Mensch”, wir meinen, das ist ein Mensch, den man nicht ganz für voll zu nehmen braucht; aber wer genauer hinhorcht auf das Wort, dem verrät es, daß nach den Erfahrungen unserer Väter nur der Mensch wirklich als reifer Mensch, als voll angesehen werden darf, der durchs Leid (durch „Harm”) gegangen ist. Und wie viel birgt das Wort „Heimsuchung” an tiefem Geheimnis in sich! Man muß wohl sehr ehrfürchtig geworden sein, um aus den Worten das in ihnen verborgene Geheimnis wieder zu vernehmen. Vielleicht muß man lange wieder gewohnt sein, an heiliger Stätte auf das Wort zu hören, das ja dort von ganz anderen Tiefen widerklingt als irgendwo sonst; und es kann dann geschehen, daß ein ganz alltäglich gebrauchtes Wort sich uns erschließt wie eine Blütenknospe, die uns durch ihre bunten Blätter überrascht, die in ihrem unscheinbaren Gewand verborgen waren. Ist nicht auch „Sonnabend” ein solches Wort? Nach unserem üblichen Sprachgebrauch müßte der Sonnabend der Abend des Sonntags sein, der Abend also, der den Sonn t a g abschließt. Aber wir alle wissen, daß der Sonnabend dem Sonntag vorausgeht. Dieser Vorabend des Sonntags scheint unseren Vorfahren so wichtig gewesen zu sein, daß er dem ganzen Samstag den Namen gegeben hat. Das sagt uns also dieses Wort, daß der Abend v o r dem Sonntag zum Sonntag gehört. An ihm beginnt der Sonntag, nicht erst am Sonntagmorgen und noch viel weniger mit dem Schlag der Mitternacht. Vielleicht ruft diese Feststellung vor allem Bilder aus unserer Jugendzeit in uns wach, die das ohne weiteres bestätigen. Dabei denke ich nicht nur an jenes erleichterte Gefühl: „Morgen ist keine Schule!”, obwohl auch dies Gefühl des Entspanntseins, dies tiefe befreite Atemholen zum Sonnabend gehört. Aber vieles andere kommt noch dazu. Was den Sonnabend erfüllte, war noch nicht der Friede des Sonntags, im Gegenteil, es war erhöhte Geschäftigkeit. Die Treppen vor den Häusern wurden gescheuert, Wege und Straßen gefegt, der Hof in Ordnung gebracht und die Gartenwege sauber gemacht. Wo noch Wäsche am Seil hing, wurde sie abgenommen; welche Schande, sie über den Sonntag hängen zu lassen! Die letzten Einkäufe mußten gemacht werden, Es war erhöhte Geschäftigkeit, aber unmittelbar vor der Sonntagsstille. Und vielleicht ist das eben das Eigentümliche des Sonnabends, daß man noch sehr geschäftig war, aber daß in alle Geschäftigkeit deutlich spürbar etwas hineindrang von der kommenden Stille; das gab ihm jene eigentümliche Spannung: es war noch nicht der Sonntag, aber man stand unmittelbar davor. Wie ein kleiner Advent war es, voll froher Erwartung und Bereitschaft. Langsam ebbte die Geschäftigkeit ab. Stille breitete sich aus über die Häuser und Straßen, und in diese Stille klangen die Glocken hinein, die den Sonntag einläuteten. Und wenn wir dann zu Bett gingen, lag schon, von fürsorglich mütterlicher Hand gerichtet, auf dem Stuhl neben dem Bett die frische, reine Wäsche und der Sonntagsanzug, und unser junger Schlaf tauchte tief ein in den Frieden dieser Nacht, dem Sonntagmorgen entgegen. Wohl dem, dem aus der Jugendzeit das Lied des Sonnabends klingt mit all dem Unaussagbaren, das darin mitschwingt. Freilich nicht, daß wir nun wehmütig-sentimental in Erinnerungen flüchten sollten. „Keine Schwalbe bringt dir zurück, wonach du weinst!” Aber was hier die Sehnsucht weckt, das soll dem reifen Menschen auf s e i n e r Lebensstufe und in seiner neuen Lage wieder zuteil werden, das soll er sich wieder neu erringen, daß auch für ihn der Sonnabend wieder zum Sonn-Abend werde. Auch für diese Sehnsucht bringt Christus die Erfüllung und bringt sie reicher als das, was hinter uns liegt. Wollen wir den Sonntag wieder gewinnen, dann müssen wir den Sonnabend und den Sonntag wieder als eine Einheit nehmen. Denn, sie sind es und zwar eine lebendige Einheit; eine Einheit, die nicht nur in der Stimmung besteht, mit der wir den Sonnabend und den Sonntag begehen (oder in einer fernen Jugendzeit begangen haben). Nein, die beiden gehören an sich zusammen, ganz unabhängig von unseren subjektiven Gefühlen und Stimmungen. Eine tiefe, zu unserem Schaden weithin übersehene Wahrheit tut sich hier auf: Man kann den Ablauf der Zeit nicht in einzelne regelmäßige Abschnitte zerstückeln und sie dann wieder aneinander setzen, so daß die Nahtstelle genau feststellbar bleibt. Das tun wir aber immerfort. Unsere peinlich genauen Uhrmaschinen, auf die wir so stolz sind, sind Herren über uns und unsere Zeit geworden und haben das ursprüngliche Gefühl für den Zeitablauf weithin zerstört, wir merken nicht, daß wir die Zeit durch sie hindurchtreiben, wie durch eine Wurstmaschine, allen Schwung und allen lebendigen Rhythmus dadurch zerstörend. In Wirklichkeit aber ist es so: Ein Tag schwingt in den anderen, und die Tage und Nächte sind wie tiefe Atemzüge der Zeit. Ein tiefes Atemholen, das ist die Nacht, und ein breites Ausströmen in gelassener Kraft, das ist der Tag. wir aber müssen wieder lernen, einzuschwingen in diesen ruhigen Rhythmus der Zeit, wenn wir unsere Tage wieder gewinnen wollen, wir sind so kurzatmig, so asthmatisch geworden. Daran gehen unsere Tage zugrunde, und wir selber mit ihnen. Unmittelbar zeigt sich das an unseren Sonntagen, aber der Werktag ist nicht weniger dadurch bedroht. Darum ist es für das Begehen des Sonntags so grundlegend wichtig, wie wir den Sonnabend begehen. Denn dort, nicht erst in der Sonntagsfrühe, setzen wir an zu dem tiefen Atemholen, aus dem der Sonntag seine Kraft empfängt. Am Sonnabend „empfangen” wir den Sonntag; das ist das Geheimnis, das die Sprache in dem Wort „Sonnabend” gegen alle Atomisierung des Zeitablaufes treu bewahrt hat. Besser, als ich es sagen könnte, hat ein Mönch aus Maria Laach diesem Geheimnis der Tage Ausdruck gegeben: „Um das Werden der Tage ist es wie um das Werden der Menschen. Die Kinder der Menschen müssen geboren werden. Auch die Tage werden geboren. Aus Nächten werden sie geboren. Aus jenen stillen, sanften Müttern. Denn die Nächte sind Mütter, tief und unergründlich, und vieles bergen sie in ihrem Schoß.” (1) Aber mit dem äußeren Abschluß des Werktages ist es nicht getan. Um in dem oben gebrauchten Bild zu bleiben: es ist nicht gleich, gültig, in welcher Luft ich Atem hole. Nur in reiner Luft gewinnt mein Atem jene Weite und Kraft, die mein Leben braucht. In schlechter, stickiger Luft wird der Atem kurz und ängstlich. Deshalb ist es auch noch nicht damit getan, daß sich der Sonntag zum Wochenende erweitert. Von der einfachen Verlängerung des Sonntags kommt keine entscheidende Hilfe, wenn sie nicht mit einer Vertiefung verbunden ist. Welcher Art diese Vertiefung sein muß, ist uns ohne viele Worte klar. Es geht uns bei allen unseren Überlegungen ja nicht nur um den Sonntag schlechthin, um den naturgemäßen Ruhetag, sondern es geht uns um den christlichen Sonntag. Der christliche Sonntag aber als Auferstehungstag unterbricht nicht nur die Reihe der Werktage, sondern er durchbricht die Zeit. Zeit und Ewigkeit sind seine Eltern, und das eben gibt ihm seine einzigartige helfende und stärkende Kraft. So muß das Atemholen am Sonnabend schöpfen aus der klaren, reinen Luft der Ewigkeit. Um dies zu tun, kommen wir am Sonnabend zusammen zur Wochenschlußfeier oder feiern sie allein oder in unserer Familie. Da setzt die Seele zum tiefen Atemholen an im Horchen auf das ewige Wort, im Singen und Beten. Da strömt die Luft der Ewigkeit herein in unsere Zeit. Da empfangen wir den Sonntag. Da darf alle Unruhe voller Sorge und Angst von uns abfallen, die sich immer wieder auf uns legt im hastigen Auf und Ab der Zeit, unter der drohenden und dunklen Wolke der Vergänglichkeit. Vor uns liegt der Tag des Herrn, der Tag, über den der Morgenglanz der Ewigkeit ausgebreitet ist. Wohl mag am Sonnabend noch etwas in unseren Adern nachzittern von all jener Unruhe. Aber das Herz schlägt in ruhigeren Schlägen und der Atem wird gleichmäßiger und länger, wenn wir beten: „Herr, bleibe bei uns / am Abend des Tages / am Abend des Lebens / am Abend der Welt.” Wohl steht vor uns diese dreifache Nacht. Aber sie ängstet uns nicht mehr. Bereit und gerüstet gehen wir durch die Nacht dem Sonntag entgegen, und wie auf diese Nacht der Tag des Herrn folgt, so, wissen wir, bricht nach der letzten Nacht der ewige Tag an, auf den keine Nacht mehr folgt. Über der ewigen Stadt liegt sein Licht, das nie mehr verlöschen wird. „Und die Stadt bedarf keiner Sonne noch des Mondes, daß sie ihr scheinen; denn die Herrlichkeit Gottes erleuchtet sie und ihre Leuchte ist das Lamm” (Offb. 21, 23). Dahin ist zuletzt unser Blick gerichtet, wenn wir am Sonn-Abend uns bereiten für den Sonn-Tag. Dort suchen wir die Erfüllung unserer Sehnsucht und sie wird reicher sein, unvorstellbar viel reicher als all das „was mein einst war”. Anmerkung 1: Raphael Hombach, Die geborenen Tage der Mönche (Friedrich Pustet, Regensburg 1935). Das Gottesjahr 1942, S. 50-54 © Johannes Stauda-Verlag zu Kassel (1951) |
© Joachim Januschek Letzte Änderung: 12-12-04 |