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Das Bild des Sonntags
von Wilhelm Stählin

LeerNur was zuvor in der Seelentiefe als Bild erschaut wurde, kann Gestalt gewinnen als leibhaftes Gebilde, als Tat und als Sitte; und die Gestalten müssen zerfallen, wenn das Bild in den Seelen verblaßt und seine Bilde-Kraft verliert. Dies ist, wie mir scheint, die eigentliche Funktion des vielverkannten „Dogmas”, daß es ein Bild der Wahrheit in den Seelen aufrichtet, ein Zeichen, durch dessen Anschauen die Verwirrung aufgelöst, Irrtum und Angst überwunden und die Krankheit geheilt werden kann.

LeerWas für ein „Bild” des Sonntags lebt in uns? was für ein Bild des Sonntags lebt in der christlichen Kirche? Gibt es überhaupt ein einheitliches und umfassendes Bild des Sonntags? Man ist versucht zu sagen, es gebe nicht ein Bild vom Sonntag, sondern drei Bilder, die nicht wirklich zu einer gemeinsamen Schau zusammengeflossen sind und sich auch nicht völlig miteinander verbinden  k ö n n e n . Da ist zunächst, für viele Menschen am deutlichsten sichtbar, der Ruhetag, den Gott seinen müden Menschenkindern gönnt, und an dem nach dem alttestamentlichen Gesetz auch die mit dem Menschen verbundenen Kreaturen Anteil haben sollen; da ist neben dieser dem Menschen zugedachten Wohltat die strenge Forderung, diesen einen Tag Gott zum Opfer zu bringen und ihn mit der Übung der Frömmigkeit, mit Kirchgang und Gebet zu heiligen. Man kann, etwas stilisiert, sagen, daß jenes Interesse auf lutherisch-deutschem Boden, diese Verpflichtung auf angelsächsisch-reformiertem Boden stärker das öffentliche und allgemeine Verständnis des Sonntags und seine wirkliche Gestalt bestimmt hat.

LeerAber hinter diesen beiden alttestamentlichen Sonntagsbildern, in einem spürbaren Gegensatz zu beiden, taucht das eigentliche Bild des christlichen Sonntags als des allwöchentlichen Festes der Auferstehung Jesu Christi auf. Freilich ist die Erinnerung an diesen Ursprung und Inhalt der christlichen Sonntagsfeier schon im frühen Mittelalter verblaßt und durch die Neigung verdeckt, den Sonntag von dem alttestamentlichen Sabbatgebot her zu verstehen und zu gestalten. Schon bei Luther sind diese „Teilbilder” nicht wirklich zusammengeschaut, und das, was dem christlichen Sonntag sein unvergleichliches Gepräge gibt, war schon damals dem Bewußtsein der christlichen Kirche fast völlig entrückt. Das Bild des christlichen Sonntags, das christliche Bild des Sonntags ist zerbrochen, und in den Bruchstücken und Splittern ist das Bild in seiner Ganzheit und Fülle nicht mehr zu erkennen. Vielleicht ist dies die tiefste Ursache, warum die christliche Sonntagssitte den auflösenden Kräften so wenig Widerstand entgegen zu setzen hatte. Aber eben darum mühen wir uns um das echte Bild des Sonntags, mehr noch als um irgend welche einzelnen Gedanken und Vorschläge für die Gestaltung des Sonntags. Wird nicht der Sonntag neu geboren werden aus den Seelen, in die das Bild des Sonntags eingesenkt ist? (1)

LeerEs gibt einen untrüglichen Maßstab dafür, ob irgend ein Bild in Wahrheit christlich ist oder nicht. Wir bekennen Gott als den „dreieinigen” Gott, und unser Glaube lebt von der dreifaltigen Offenbarung Gottes. „Ehre sei dem Vater und dem Sohn und dem Heiligen Geiste” oder, wie es sehr viel lebendiger in der frühen Kirche hieß: „Ehre sei dem Vater durch den Sohn in dem Heiligen Geiste!” Im Raum der christlichen Kirche trägt alles, wenn schon verborgen, das Siegel des dreifaltigen Gottes an sich. Wo überhaupt das Geheimnis Gottes durch die unseren Blick begrenzenden Nebelwände hindurchbricht - eben dieses Hindurchbrechen und Hindurchscheinen nennen wir Offenbarung -, da entfaltet sich das eine und unzugängliche Licht in die verschiedenfarbigen Strahlen der Offenbarung des Vaters, des Sohnes und des Geistes. Alle Irrtümer, durch die die Erkenntnis der göttlichen Wahrheit getrübt oder verfälscht worden ist, beruhen darauf, daß die Einheit in der Fülle der Offenbarung oder die Fülle und Mannigfaltigkeit in ihrer Einheit vergessen oder verleugnet wurde.

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LeerNur auf diesem Hintergrund kann der christliche Sonntag in seiner Tiefe und in seinem Reichtum verstanden werden. Das Bild des Sonntags trägt notwendig die Züge der dreifaltigen Offenbarung.

1. Gott der Vater hat dem Sonntag die Züge Seiner Offenbarung eingeprägt. Indem wir den Sonntag begehen, verherrlichen wir den Vater, den Allmächtigen, der alles, was sichtbar und was unsichtbar ist, geschaffen hat. Das heißt zunächst: Wir glauben und bekennen, daß der Sonntag nicht eine menschliche Erfindung, nicht eine willkürliche Menschensatzung ist, sondern daß ihm eine mit der Schöpfung selbst gegebene Ur-Ordnung des Lebens zu Grunde liegt. Die Sieben-Tage-Woche ist wissenschaftlich nicht mit einiger Sicherheit zu erklären; sie scheint zu jenen Urgegebenheiten zu gehören, die aus unerkennbaren Ursachen schon in sehr früher Zeit aufbrechen und sich allen rationalen Überlegungen gegenüber zäh behaupten und durchsetzen. Das organische Leben überhaupt und in Sonderheit das menschliche Leben ist in mannigfaltigster Form von einem siebengliedrigen Rhythmus durchzogen; vergleichbar jenem strengen Gesetz der Zahl und des Maßes, das in der Bildung eines Kristalls, einer Blüte, ja selbst des tierischen Organismus waltet. Ohne den Hintergrund einer solchen rhythmischen Zeitenordnung ist auch der christliche Sonntag (so wenig er daraus allein erklärt werden kann!) nicht zu verstehen.

LeerDer Mensch allein unter allen Kreaturen hat die gefährliche Möglichkeit empfangen, sich den gottgegebenen Ordnungen zu entziehen und wie andere solche Ordnungen, so auch den „natürlichen” Rhythmus seines eigenen Lebens zu vergewaltigen. Weil aber jede Verletzung der schöpfungsmäßigen Ordnung sich am Leben rächt, darum schützen Gesetz, Sitte und Recht die heilige Ordnung gegen die Willkür des Menschen. In diesem Sinn gehört der Feiertag, der jeweils nach sechs Tagen den Ablauf der Zeit und das menschliche Werk unterbricht, zu den „Ordnungen”, die Gott zur Erhaltung der Welt gegeben hat. Weil dieses Gesetz nicht willkürliche Forderungen, sondern die dem Leben selbst eingestifteten Ordnungen enthält, darum sind die Versuche, die Siebentagewoche durch eine vermutlich zweckmäßigere Einrichtung zu ersetzen (und damit praktisch den Sonntag abzuschaffen), unmißverständlich verknüpft mit jenen Episoden der Menschheitsgeschichte, in denen die Hybris der menschlichen Ratio auch sonst ihre gefährlichsten Experimente machte, und darum mußten diese Versuche an ihrer inneren Unmöglichkeit scheitern.

LeerIndes haftet diesem alttestamentlichen Sabbath-Gebot wie allem Gesetz eine eigentümliche Zwiespältigkeit an. Es mutet dem Menschen ein Opfer zu. Jeder siebente Tag wird der Verfügungsgewalt des Menschen entzogen, und keine noch so dringliche Arbeit erlaubt, die heilige Scheu (das tabu) zu verletzen, mit der dieser Tag umgeben ist. Damit ist freilich der Mensch in der empfindlichsten Weise in seine Grenze gewiesen, seiner Selbst-Herrlichkeit eine Schranke gezogen, und auch sein Werk in dieser Welt und an dieser Welt von dem schöpferischen Werk Gottes deutlich unterschieden. So fragwürdig ist alles Tun des Menschen, daß er gezwungen wird, sein Werk immer wieder, auch wenn er es für noch so dringlich halten möchte, aus der Hand zu legen und statt dessen dem Anruf Gottes stille zu halten. (Auch von diesem „Gesetz” gilt das Wort Jesu, daß er nicht gekommen sei, es aufzulösen, sondern zu erfüllen!)

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LeerZugleich aber ist dieser geopferte Tag durch den alttestamentlichen Mythos aufs engste mit der Schöpfung selbst verknüpft. Es ist der Tag der göttlichen „Ruhe”, in der Sein Schöpfungswerk voll-endet ist. So liegt auf diesem geheiligten Tag ein Abglanz der Schöpferherrlichkeit Gottes, eine geheimnisvolle Erinnerung an die vollkommene Paradiesesordnung, der dieser Tag ursprünglich zugehört. Da aber der Rückweg ins Paradies durch den Engel des göttlichen Zornes mit dem flammenden Schwert versperrt ist, so entzündet sich um so mehr an dem heiligen Tag die Flamme der Hoffnung auf eine endliche und endgültige neue Ordnung aller Dinge, in der das verlorene Paradies neu erschlossen und die zerstörte „Ruhe” der vollendeten Schöpfung wiederhergestellt ist. Der Tag, der den Menschen in seine Schranke weist vor Gott, ist zugleich das Zeichen seiner Verheißung.

LeerEs ist freilich nicht zu übersehen, daß im Alten Testament je länger desto mehr nur die erstere der beiden Linien, die gesetzliche Forderung, wirklich ausgezogen wird, und daß das andere, der Zusammenhang mit der Urzeit und Endzeit, erst im Neuen Testament (besonders im Hebräerbrief), von der Erfüllung her, als der eigentliche Sinn der zugleich befohlenen und verheißenen „Ruhe” des „Ruhetags” sichtbar werden konnte.

LeerDas Gleiche erfahren wir von einer ganz anderen Seite her. Ein aus tiefsten Tiefen aufbrechendes Verlangen treibt den Menschen an dem ihm gegönnten Feiertag in die „Natur”; er sucht den Zusammenhang mit den Kräften der Schöpfung, die ihm dort am nächsten und greifbarsten zu begegnen scheinen. Es wäre töricht und lieblos, diesen Drang deswegen als unchristlich oder gar als heidnisch zu schmähen, weil die von ihm Ergriffenen dann nicht in unsere Gottesdienste kommen. Es gilt auch hier, daß wir nur dem in Wahrheit helfen können, den wir in seinem Verlangen ganz ernst nehmen und darin tiefer verstehen, als er selbst sich zu verstehen vermag. Wer könnte leugnen, daß unzählige Menschen in dem Erleben der Natur die Berührung mit einer ihnen selbst überlegenen Seinsfülle viel unmittelbarer und mächtiger erfahren als in unseren Gottesdiensten (so wie diese Gottesdienste und wie diese Menschen nun einmal sind). Und ein wahrhaft trinitarisches Denken, das auch den „ersten Artikel” ganz ernst nimmt, wird nie behaupten, solche Sehnsucht nach den Schöpfungskräften und der liebende Umgang mit den guten Kreaturen habe mit dem christlichen Sonntag gar nichts zu tun.

LeerHier verbirgt sich eine Sehnsucht nach Heimkehr zu den Ursprungskräften und nach Erlösung, eine Sehnsucht, die freilich sich selbst, ihr Ziel und den Weg nicht wirklich versteht. Denn in der Traurigkeit, dem Gefühl abgründiger Einsamkeit und Verlassenheit, das den Menschen mitten in der herrlichsten Natur überfallen kann, begegnet dem heutigen Menschen der Cherub mit dem Flammenschwert. Nur der trotzige Eigensinn einer romantischen Naturschwärmerei träumt von einer ungestörten Harmonie des Menschen mit der Welt der Kreaturen, aus der er doch eben als Mensch ein für allemal ausgestoßen ist. Bei den lieben Kreaturen sucht der von seinem Leben und von sich selbst belastete Mensch die echte recreatio, und weiß doch, wenn er tief und ehrlich genug ist, daß ihm diese Rückkehr nicht vergönnt ist. Wohl hält die Natur genug der helfenden und heilenden Kräfte für ihn bereit - es wäre krasser Undank, das zu leugnen -, aber ebensoviel des unerbittlichen und grausamen Gesetzes, der ungelösten Rätsel und der dämonischen Vergiftung.

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LeerDies ist der wahre Grund, warum wir den Sonntag nicht einfach und ungebrochen als den Tag der Sonne, als der alles erwärmenden und belebenden Urkraft feiern können; anders ausgedrückt, warum der christliche Sonntag nicht nur vom „ersten Artikel”, nicht nur vom Schöpfungsglauben her begriffen werden kann. Aber weil ihm der Vater das Erinnerungszeichen einer ursprünglichen und vollkommenen Ordnung eingeprägt hat, erweckt er ein untilgbares Heimweh nach jener verschütteten und zerstörten Ordnung, eine unstillbare Sehnsucht nach Erlösung.

2. Daß die christliche Kirche mit einer Unbefangenheit, die späteren Geschlechtern abhanden gekommen ist, den Namen „Sonntag”, Dies Solis, beibehalten hat, ist ein Zeichen dafür, wie stark sie die Sonne des sichtbaren Himmels als Bild und Gleichnis Christi empfunden hat. Denn sie feierte den „Sonntag” und wollte ihn feiern als den Christus-Tag; sie nennt ihn Dies Domini, den Tag des Herrn, und kann auch in dieser Bezeichnung keinen Augenblick ihr Urbekenntnis vergessen, daß es Christus allein ist, dem dieser Name über alle Namen, der Name Kyrios, der Herr, gebührt. Das Kreuz, ursprünglich wahrscheinlich als Achsenkreuz des Sonnenrades verehrt, ist zum Christuszeichen verwandelt und der heidnische Tag der Sonne auf den Christusnamen getauft worden.

LeerGott hat dem Sonntag die Züge der Christusoffenbarung eingeprägt. Allen Seiten dieser Offenbarung ist ein besonderes Fest im Kreislauf des Jahres gewidmet: Dem ewigen Wort des Vaters, das Fleisch geworden ist, feiern wir das Weihnachtsfest; ihm, in dem die Herrlichkeit Gottes unter uns sichtbar erschienen ist, das Erscheinungsfest; dem Hohenpriester, der sich selbst für uns geopfert hat, den Karfreitag; dem Auferstandenen das Osterfest; dem, der zur Rechten der Majestät erhöht ist, das Fest der Himmelfahrt, und dem, der kommen wird, zu richten die Lebenden und die Toten, das Fest des jüngsten Tages. Aber eines allein unter diesen Festen wird in allwöchentlicher Wiederkehr begangen. Der Tag des Herrn ist der Tag Seiner Auferstehung:
„Erschienen ist der Tag der Sonne, der Tag des wahren Lichtes,
der Tag, da Christus, das Leben, erstand von den Toten.”
LeerIndem wir den Sonntag begehen, verherrlichen wir Christus als den Auferstandenen und Lebendigen und bekennen, daß alle anderen Christusfeste nur von Ostern her ihren strahlenden und unverlöschlichen Glanz empfangen.

LeerDas Gedächtnis jenes Morgens, „am ersten Tag der Woche, sehr frühe”, da jener Engel, dessen Gestalt war wie der Blitz, den Stein vom Grab wälzte, und da die Trauernden, die kamen, den Toten zu beweinen, dem Lebendigen begegneten, dieses Gedächtnis ist der zentrale Sinn des Sonntags. Aber eben dieser österliche Sinn des Sonntags entfaltet sich nur in dem Licht, welches von einem trinitarischen Glauben aus auf das Ganze der Weltwirklichkeit fällt. Bei den meisten der hohen Feste, die wir im Kreislauf des Kirchenjahres begehen, läßt sich ihr Ursprung in solchen Festen nachweisen, die die vorchristliche Menschheit im Kreislauf des Naturjahres gefeiert hat, und es kann nicht bestritten werden, daß unsere Christusfeste, so betrachtet, „getaufte Naturfeste” sind. Viele meinen und sagen, hier habe die christliche Kirche nach fremdem Gut gegriffen und habe mit christlicher Übermalung die ursprünglichen, starken und leuchtenden Farben ausgelöscht; und sie fragen, ob es nicht unser Recht, vielleicht sogar unsere Pflicht sei, das uralte und allgemein menschliche Erbe von solcher christlicher Übermalung zu reinigen.

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LeerWäre es verkehrt, wenn wir diesen Tag wirklich, mit allen Sinnen, als den Tag der Sonne begingen und uns mit Leib und Seele den reinigenden und heilenden Kräften des Lichtes und der Sonne hingäben? Es ist nur zu fragen, ob eine solche Sonnen-Seligkeit nicht eine romantische Illusion ist, und ob nicht die Rückkehr in eine vorchristliche und in diesem Sinne heidnische Naturfrömmigkeit post Christum natum eine gefährliche Selbsttäuschung ist. Die Paradiesesordnung, von der der Sonntag einen Abglanz bewahrt hat, ist zerstört, der Rhythmus, der unsere Jahre und unsere Tage ordnen sollte, wird durch unsere Willkür tausendfach zerbrochen, und alle die „großen Werke”, unter denen die Sonne obenan steht, sind eben nicht „herrlich wie am ersten Tag”. Der Tag, der dem Menschen als Wohltat gegönnt ist, wird unter seinen schuldigen Händen zum Gesetz, zum Zwang und zur Plage.

LeerGott aber will die zerbrochene Welt heilen und die verschlossene Pforte des Paradieses neu auftun. Er fetzt einen neuen Anfang, den Anfang einer erneuerten Menschheit und einer erneuerten Welt. Die Kirchenväter haben auf die Schönheit und den Rang der Sonne das Johannes-Wort (Joh. 3, 30) angewendet und gesagt, daß si: gleich Johannes, dem Herold und Vorläufer, abnehmen müsse, damit Christus, das wahre Licht, dessen Gleichnisbild sie ist, zunehme. Die Sonne gehört zu den herrlichen Kreaturen, die dem ernsthaft fragenden und suchenden Menschen bekennen: „Ich bin es nicht”. Aber in dem Tod und der Auferstehung Christi erlebt auch diese Welt der Kreaturen den Morgen einer neuen Schöpfung. Wir verlieren nicht den Zusammenhang mit der geschaffenen Welt und ihren Ordnungen, wenn wir den Sonntag ernsthaft als Dies Domini, als den Tag des Herrn und Seiner Auferstehung, begehen.
„Die ganze Welt, Herr Jesu Christ,
ob Deiner Urständ fröhlich ist.”
„Die Sonn', die Erd', all Kreatur,
alls, was betrübet war zuvor,
das freut sich heut an diesem Tag,
da der Welt Fürst darnieder lag.”
LeerEs ist ein falscher Gegensatz, wenn die einen den Sonntag als Herrentag mit Kirchgang und Gottesdienst begehen und von da aus auf jede Natursehnsucht des Großstädters als auf eine unterchristliche Regung herabsehen, und wenn die anderen nur den Ruhetag im Zeitenrhythmus, die Einkehr in die natürlichen und ursprünglichen Kräfte suchen und meinen, das habe mit dem Glauben nicht das Geringste zu tun; der Glaube an den dreieinigen Gott, den Schöpfer und Erlöser, schaut in einem Bild zusammen, was der Unglaube oder der Aberglaube nur als ein Entweder-Oder sieht, und lehrt uns den Sonntag zu begehen als den Christustag, als den „Tag des wahren Lichtes, den Tag, da Christus, das Leben, erstand von den Toten”. Nur durch den Tod hindurch und in dem Wunder der Verklärung wird der neue Anfang geboren. Was Ende scheint und Ende ist, wird zum neuen Beginn; nicht „von selber” und kraft des natürlichen Kreislaufs von Werden und Vergehen und neuem Werden, sondern als ein wirklich Neues aus der Schöpfermacht Gottes. Die unerhörte und unverdiente Gnade eines neuen Beginns ist das Geheimnis des Sonntagmorgens, „daß wir, eh' wir gar vergehn, recht aufstehn”.

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LeerIn der „mozarabischen Liturgie”, das heißt der Liturgie der in Spanien zwischen den Arabern lebenden Westgoten, ist jener unvergleichlich schöne Hymnus für den Gottesdienst am Sonntagmorgen überliefert, den wir mit Freude als den Eingang des Morgengottesdienstes am Sonntag in unsere Ordnung des „Gebetes der Tageszeiten” und jetzt des „Stundengebetes” wieder aufgenommen haben:
Den Tag des Herrn lasset uns, liebe Brüder, mit heiligem Dienste begehen /
Erschienen ist der Tag der Sonne / der Tag des wahren Lichtes /
der Tag, da Christus, das Leben, erstand von den Toten.
Lasset uns Gott, dem Vater, Lob und Dank sagen /
Lasset uns Ihn bitten,
Er wolle an diesem Tage uns Frieden und Freude gewähren /
durch die Kraft der Auferstehung des Herrn /
daß wir uns freuen der Tat des Erlösers /
vom ersten Morgenlied an bis zur Ruhe der Nacht.
LeerUnd noch ein anderes haben wir in diese unsere Ordnung aufgenommen, das der abendländischen Überlieferung im allgemeinen verloren gegangen ist. Die morgenländische Kirche liest an jedem Sonntag einen der Auferstehungsberichte aus einem der 4 Evangelien und erinnert sich damit an den ursprünglichen Sinn des christlichen Sonntags. Statt dessen, aber im gleichen Sinne, fügt unsere Ordnung der Sonntagsmette eine nach der Kirchenjahreszeit wechselnde Lesung von der Auferstehung, der Auferstehung Christi und unserer eigenen Auferstehung, ein und verbindet dadurch die allwöchentliche Sonntagsfeier mit dem Geheimnis von Ostern.

LeerWird dieser ganze Zusammenhang erkannt und ernstgenommen, so ist es freilich auch wichtig, daß der Sonntag nicht, wie der alttestamentliche Sabbath, der siebente, sondern der erste Tag der Woche ist. Aus dem Ende ist der neue Anfang geworden. Der Sonntag ist Ziel und Beginn in einem; indem die Woche in den Sonnabend mündet, weist sie über jedes Ende und über alles Sterben und Vergehen hinaus auf die neue Geburt zu einem verwandelten Leben und trägt also, vom Sonntag her, das Mysterium der Wandlung in ihrem Schoß. (Das „Wochenende” hat nicht im gleichen Sinn mit Ende und Anfang zu tun; es steht  z w i s c h e n  den Wochen, mit keiner organisch verbunden, eher eine Flucht als eine Heimkehr; eine Unterbrechung ohne die Verheißung eines neuen Beginns.)

3. Das trinitarische Bild des Sonntags vollendet sich, wenn wir den Sonntag zugleich als das Werk des Heiligen Geistes verstehen. Es ist ja im Grunde schon nicht möglich, den Sonntag als den Dies Domini, als den Tag Christi und Seiner Auferstehung, zu begehen, ohne von jenem lebendigmachenden Odem Gottes angehaucht zu sein, den wir den „Heiligen Geist” nennen. „Niemand kann Jesum einen Herrn heißen, ohne durch den Heiligen Geist”, und eben dies ist das Werk des Heiligen Geistes, nichts anderes, daß er uns Anteil gibt an den Kräften der Wandlung und Auferstehung.

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LeerDas ist ein rechter Sonntag, dem Gott das Siegel Seines Geistes aufgedrückt hat. Den Sonntag begehen, das heißt also sich öffnen der belebenden und erneuernden Kraft des Gottesgeistes und selber zu einem „Geistträger” in der gottentfremdeten 'Welt werden. Mit anderen Worten gesagt: Der Sonntag ist eine „Gestalt der Gnade”, ein sichtbares und spürbares Zeichen der Erlösung. Was wäre ein „Evangelium” als geschichtlicher Bericht, ohne eine glaubwürdige Gestalt der frohen Botschaft; Vielleicht ist der Sonntag deswegen so sehr verfallen, weil wir überhaupt über dem Glauben an das ein für allemal vollbrachte Werk Christi die eigene Verwirklichung, die glaubwürdige Gestalt so sehr versäumt haben! Dies Bild vor allem sollten wir tief in unsere Seelen versenken: der Sonntag als die Gestalt des Evangeliums, als die Gestalt der Auferstehung!

LeerDarum sollen keinem Sonntagmorgen das Gedächtnis der Auferstehung und der österliche Freudenklang fehlen; darum ist die Eucharistie, in der wir mit den himmlischen Heerscharen dem, der da kommt, einen Lobgesang singen und selbst gespeist werben mit der Speise des ewigen und unvergänglichen Lebens, das Herzstück jeder Sonntagsfeier. Aber gerade dieses alles darf nicht isoliert bleiben. Es ist ein Krankheitssymptom der zerstörten Ordnung, daß Sonntag und Alltag, frommes Werk und irdisches Tagwerk so heillos auseinandergebrochen sind. Wenn am Sonntag der Glanz der erlösten und erneuerten Welt mitten in unserem Leben aufleuchten soll, dann darf an ihm auch etwas sichtbar werden von der tiefen Einheit von Gebet und Werk. Der christliche Gottesdienst, wie er allein des christlichen Sonntags würdig ist, ist von dem Gottesdienst des tätigen Alltags nicht zu trennen. Die bloße Arbeitsruhe bleibt im Negativen, in gesetzlicher Ängstlichkeit stecken.

LeerDer heilige Geist, der dem Sonntag sein Leben einhauchen will, ist ein Geist tätiger Freude, freudevoller Tätigkeit. Darum gehört dem Sonntag alles das zu, was die Freiheit der Kinder Gottes, die göttliche Bestimmung des Menschen und die Liebe als das Lebensgesetz des himmlischen Reiches widerspiegelt: alles, was der Erneuerung der Schöpfung, der re-creatio dient und sie gestaltet. Von einem russischen Bauern wird erzählt, daß er, am Sonntag zur Arbeit gezwungen, auf seinen Pflug eine Kerze stellte, sie anzündete und dann in Gottes Namen pflügte. Es gibt eine Sonntagsarbeit, in der die Paradiesesordnung der Arbeit, der in Liebe getane Dienst und das Spiel schöpferischer Freude wieder sichtbar werden will. „In der Atmosphäre des Sonntags”, so lese ich in einer Zuschrift, „können wir bestimmte Dinge nicht tun, und andere stellen sich von selber ein... Bestimmte Dinge müssen am Sonntag getan, bestimmte Briefe am Sonntag geschrieben werden, weil sie nur in dieser festtäglichen Luft gedeihen. Es gibt Aufgaben, die ich mir in der Woche spare für den Sonntag...”

LeerDarum darf am Sonntag das Leben, auch im ganz buchstäblichen Sinne, seinen „Spiel-Raum” zurückgewinnen, in dem es, dem Zwang der unendlichen Pflichten entnommen, sich in seinen Kräften entfalten darf. In der rechten Sonntagsfeier und Sonntagsgestaltung sind Arbeit und Spiel eines geworden, wie sie es im Paradiese gewesen sind; das fröhliche Werk und das ernsthafte Spiel können im Licht des Sonntags zum Hoffnungszeichen einer neuen, in der Gotteskindschaft begründeten Ordnung werden.

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LeerZugleich stellt der christliche Sonntag den Einzelnen in eine große und weltweite Gemeinschaft. Ist es nicht so, daß die meisten Menschen am Sonntag entweder allen Ansprüchen, die andere an sie stellen könnten, entfliehen und die Einsamkeit suchen, wo sie mit sich selber allein sind, oder aber in der Angst vor solcher Einsamkeit gern untertauchen in dem Gewühl und Lärm, wo keiner den anderen kennt und alles persönliche Leben unter dem Sandhaufen der Masse erstickt? Wer sich dem wirklichen Sonntag anvertraut, weiß sich, auch wenn er gezwungen oder freiwillig allein ist, aufgenommen in jene eigentümliche und unvergleichliche Gemeinschaft, die der zum Leben erweckende Gottesdienst quer durch alle menschlichen Verbundenheiten und Geschiedenheiten hindurch stiftet. Er wird aus seiner Vereinzelung, aber auch aus der bedrückenden Enge der täglichen Nachbarschaft mit Guten und Unguten, Fröhlichen und Traurigen herausgeholt und erfährt sein Heimatrecht in dem großen und weiten Raum der Kinder Gottes aus allen Völkern und Zeiten: Bürger mit den Heiligen und Hausgenossen Gottes. Uns der communio sanctorum zu freuen, wird zu einem wesentlichen Inhalt unserer Sonntagsfeier, und diese Freude ist die Freude eines Menschen, der aus der Enge seiner Stube in die Weite, aus dem Gefängnis seines bloß auf das eigene Ich bezogenen Lebens in die Freiheit gekommen ist.

LeerWir würden aber weder Ostern noch Pfingsten wirklich ernst, nehmen, den Sonntag weder als den „Tag des Herrn” noch als den pfingstlichen Tag des geistlichen Lebens in Wahrheit begehen, wenn wir ihn nicht zugleich verstünden und liebten als den Tag der großen und endgültigen Hoffnung. Es ist kein Zufall, daß die erste Erwähnung des Herrntages verknüpft ist mit der apokalyptischen Schau des Kommenden (Offenb. 1,10). Christus, das wahre Licht, wird erst dann in Seinem vollen Glanz „scheinen”, wenn das Licht der irdischen Sonne erloschen sein wird. Der Heilige Geist ist die Kraft der Bewegung, die uns unserer ewigen Vollendung entgegenführt, und jeder rechte Sonntag ist selber schon Anfang und Vorgeschmack der unvergänglichen Freiheit und Freude, der Anbruch der vita venturi saeculi, Anbruch des Lebens der zukünftigen Welt.

LeerAuf dem mühseligen Weg, den wir immer wieder vom Sonntag zum Werktag zu gehen genötigt sind, erleben wir immer wieder von neuem, daß der Sonntag, auch der beste Sonntag, noch keine endgültige Erfüllung, sondern ein aufgerichtetes Zeichen der Erlösung und Vollendung ist, und erst in jener neuen Welt, in der Gott alles in allem sein wird, wird auch die qualvolle Zerreißung des Lebens in Sonntage und Werktage aufgehoben und überwunden, Anfang, Mitte und Ende zu einer untrennbaren Einheit verbunden sein. Nur so verstanden ist der Sonntag wirklich und glaubwürdig der Tag der Auferstehung.

LeerWie ein kostbarer Schrein umschließt der Sonntag alle Kleinodien des christlichen Glaubens, ja das Geheimnis der dreifaltigen Offenbarung selbst. Dies ist das Bild des Sonntags. Alle die Not um den Sonntag, alle Leere, Öde und Kümmerlichkeit unserer eigenen Sonntage können dies Bild nicht mehr auslöschen, wenn es einmal in der Seelentiefe zu leuchten begonnen hat. Und seid getrost: Was in den Seelen gestorben ist, verfällt in seiner Gestalt; was aber in der Tiefe der Seele als Bild geschaut und geliebt ist, wird seine Gestalt gewinnen.

Anmerkung:
Es ist eine Pflicht der Dankbarkeit, auszusprechen, daß diese Gedanken und viele andere Stellen dieses Buches stark beeinflußt sind durch die Arbeiten von Lic. Wilhelm Thomas, vor allem durch seine historische Untersuchung über den „Sonntag im frühen Mittelalter” (Göttingen 1929), aber auch durch eine frühere ungedruckte Arbeit und manche später veröffentlichten Aufsätze zur Frage des Sonntags.

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LeerMein erster Gedanke, als ich den Plan Ihres Sonntagsbuches las, war der: hat es Sinn, sich dem Lauf der Dinge entgegenzustellen; Ist es nicht ehrlicher und richtiger, die Krisis zu erwarten, damit sie wirklich eine Wende werde; Früher war der fyrabend der Vorabend vor einem Fest, auf das er vorbereitete, weil nun das Wesentliche kommen sollte: die Begegnung mit Gott, in gemeinsamer Anbetung; heute ist man dopo lavoro, nach der getanen Arbeit, erschöpft, ausgepumpt; der Feierabend ist der Schluß, bei dem der Alltag schließlich landet, das Nicht-mehr-schuften-müssen. Ich spürte aber dann die Lieblosigkeit, die in dieser resignierten Haltung steckt, und erkannte den Ernst der Aufgabe.

LeerIch frage mich: sind heute sonntag-bildende Kräfte noch (oder schon?) am Werk? Vielleicht sind es die gleichen Kräfte, die wieder Heimat schaffen wollen. Es geht heute eine große Lebensangst um; wir suchen Sicherheit vor einem Unheimlichen und gönnen uns keine Ruhe... Man sucht zunächst in der Welt, in der Natur, und stößt dabei auf Gesetze rhythmisch-organischer Art. Damit ist man auf dem Wege... Aber das Suchen muß weitergehen... Ohne den Glauben an das Kommen des Herrn und Seines Reiches bleibt der Sonntag eine bürgerliche Veranstaltung mit allerhand Nützlichkeit, Amüsierlichem oder Gelegenheit zu Sport und Tanz ... Der echte Sonntag ist eine eschatologische Feier, entsprungen aus der gläubigen Hoffnung, daß der altböse Feind einmal wirklich überwunden sein und keine Schuld mehr die Begegnung des Geschöpfes mit dem Schöpfer stören wird.

Das Gottesjahr 1951 (1942), S. 21-33
© Johannes Stauda-Verlag zu Kassel (1951)

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 13-01-22
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