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Ein Leben ohne Sonntag?
von Wilhelm Stählin

LeerMuß nicht ein Buch, das vom Sonntag handelt, um der Ehrlichkeit willen diese Überschrift tragen; Ist nicht alles, was wir über die Schwierigkeiten der Sonntagsfeier, über die „Sonntagsnot” sagen könnten, in dem einen Satz zusammengefaßt, daß wir die wirkliche Feier des Sonntags verloren haben, und daß unser Leben ein Leben ohne Sonntag geworden ist?

LeerDa leben unter uns, Gott weiß wie viele, Menschen, die überhaupt keinen Sonntag haben, deren Arbeit keine Pause kennt, deren Dienst unterschiedslos über die Tage hinwegläuft und den Sonntag nicht aussparen kann. Es macht geringen Unterschied, ob sie selbst diese ihre Lage beklagen oder sogar zufrieden damit sind; auch wenn sie nicht  d a r u n t e r  leiden, leiden sie doch an diesem Leben ohne Sonntag. Sie erleiden stellvertretend ein Schicksal, das von dem Tempo und der Gestalt unseres ganzen Arbeitslebens unabtrennbar ist. Unzählige Berufe im Verkehr, Gewerbe, Industrie, Bergwerk machen zwangsläufig den Sonntag zum Werktag; und es bedarf keines Wortes, daß der Ruhetag, der freie Lag, den eine soziale Gesetzgebung allen sichert, den Sonntag nicht ersetzt. Kein guter Wille vermag das zu ändern, daß diese vielen - für uns - ein Leben ohne Sonntag leben.

LeerDoch gilt von ganzen Generationen, was uns für den persönlichen Bereich bisweilen erschreckend aufdämmert: Was scheinbar ganz von außen, aus technischen Notwendigkeiten oder aus dem angeblichen Zufall unser Leben unter seinen Zwang beugt, ist doch geheimnisvoll mit unserem inneren Weg verbunden und ist ein Spiegelbild seelischer und geistiger Vorgänge und Wandlungen. „Immer nur kann dir widerfahren, was du selber bist.” Widerfährt unserem Geschlecht die Zerstörung seines Sonntags darum, weil wir den Sonntag in einem tieferen Sinn längst verloren haben, unfähig geworden sind, ihn zu feiern, und also, auch ohne äußeren Zwang, aus unserem eigenen Wesen heraus, ein Leben ohne Sonntag leben?

LeerWas machen wir denn mit unseren Sonntagen, wenn wir alle äußere Freiheit haben, zu feiern, wie wir wollen? Viele werden dann auch den Sonntag mit Arbeit füllen, mit all dem Werk, das während der Woche liegen geblieben ist und zu dem ihnen ihre langen Arbeitstage keine Zeit geladen haben: Wie viele berufstätige Frauen müssen den Sonntag darauf verwenden, ihren kleinen Haushalt in Ordnung zu bringen; wann sollten sie es sonst tun, wann sollten sie waschen, putzen, flicken und was sonst noch dazu gehören mag? und wie viele Beamte sitzen am Sonntag vor ihren Akten, Geschäftsleute vor ihren Papieren, froh, daß sie einmal ungestört über ihrer Arbeit bleiben können! Vielleicht könnten manche von ihnen doch viele Sonntagsstunden frei machen, wenn ihnen sehr dringlich daran gelegen wäre; vielleicht gehören sie aber auch wirklich zu jenen, bei denen Arbeit und Beruf den Sonntag verschlingen.

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LeerAber ist es nicht viel schlimmer, daß wir auch das, was nicht zur beruflichen Arbeit gehört, zu einem pflichtmäßigen Werk machen und uns und unsere Sonntage damit belasten? Wir füllen die Sonntage mit „Veranstaltungen” und „Verpflichtungen”, an denen niemand Freude hat, und die wir doch meinen, einander schuldig zu sein. Wir sind so sehr an rastlose Tätigkeit gewöhnt, daß wir auch am Sonntag den Motor nicht abstellen können, sondern nur dem Betrieb ein anderes Vorzeichen geben. Es heißt in der Heiligen Schrift, daß nichts besser sei unter der Sonne, als daß der Mensch fröhlich sei in seiner Arbeit, und mit einigem Neid denken wir an die begnadeten Menschen, denen es gelingt, ihre Arbeit in Freude zu verwandeln; die meisten von uns haben die umgekehrte Fähigkeit entwickelt, auch das, was Freude sein sollte, in Arbeit, in eine neue verdrießliche und ermüdende Arbeit zu verwandeln. Sind es noch „Sonn”-tage, die von einer solchen bleischweren Atmosphäre der Freudlosigkeit überlagert sind?

LeerWir haben in unserer Sprache das gute Wort „Erholung”; es meint ein Wieder-herholen, Wiedergewinnen der in Arbeit und Mühsal und Schmerzen des Alltags verbrauchten und verlorenen Kräfte: recreatio, d. i. Erneuerung, Wiederherstellung der Schöpfung. Das Verlangen danach ist uns allen tief eingepflanzt; aber zugleich spüren wir, daß wir in gewissem Sinn verlernt haben, uns zu erholen, wir meinen, wir müßten jede „freie” Zeit mit irgend etwas ausfüllen, damit uns nicht jählings die Leere, die Sinnlosigkeit unseres Daseins und eine große Angst überfällt. Aber dann ist es eben „irgend etwas”, das unsere Sinne fesselt, unsere Aufmerksamkeit von uns selbst und unserem Leben auf starke äußere Eindrücke abzieht. Wir zerstreuen uns, wo wir uns erholen sollten; oder wir sinken in einen Schlaf, der mehr erschlafft als erquickt, und betäuben uns mit Rausch und Lärm. Wir können mit uns allein, wirklich auf uns selbst angewiesen, nichts anfangen und haben Angst vor der Stille, wie kleine Kinder Angst haben vor dem Dunkel; und wundern uns dann, wenn wir uns nie wirklich erholen, nie unsere Kraft „schön verneuen” können, sondern immer vom Kapital der uns gegönnten Lebenskraft zehren.

LeerUnsere Sonntage sind das Opfer dieser Unfähigkeit und dieser Angst. Aus einem Hause, in dem viele junge Menschen beisammen sind, bekomme ich einen Brief: „Jetzt ist der Sonntag bei uns nur noch leer; die meisten empfinden ihn einfach als langweilig, weil man mit sich allein nichts anfangen kann. Man ist oft froh, wenn irgend ein „Dienst” über die sonst tote Zeit verfügt. Was mit Religion oder Kirche zusammenhängt, kommt gar nicht in Betracht .. . Man spürt, daß die Surrogate nicht genügen; aber die Not ist noch nicht groß genug.” Man freut sich nicht auf den Sonntag; worauf sollte man sich auch freuen; Man zehrt nicht eine Woche lang vom Sonntag; wovon sollte man auch zehren? Zwischen den Tagen ist ein „freier” Tag, den man zum Ausschlafen und zu allerhand „Allotria”- so nannten unsere strengeren Väter dies unverbindliche Allerlei, mit dem man so schön die Zeit totschlagen kann - verschwendet. Das ist es: Unfähig und hilflos, unsere Sonntage als Sonntage zu begehen, schlagen wir sie tot. Wie furchtbar werden uns die totgeschlagenen Sonntage einmal verklagen!

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LeerIn meiner Jugend wurde das Wort des lieben alten Peter Rosegger viel zitiert, man solle der Seele einen Sonntag und dem Sonntag eine Seele geben. Aber wie macht man das; Was ist das, die „Seele” des Sonntags, die wir ihm zu geben schuldig sind; Etlichen unter denen, die diese Blätter lesen, liegt vielleicht die Antwort auf der Zunge, die Doktor Martin Luther auf diese Frage gegeben hat: „Wir sollen Gott fürchten und lieben, daß wir die Predigt und Sein Wort nicht verachten ...” Liegt es nicht  d a r a n ; Da stehen die Kirchen, da rufen die Glocken, da wartet die Bibel. Wir denken an die vielen Generationen unserer Väter, für die der Kirchgang selbstverständlich zum Sonntag gehört hat, und die von da her die Kraft zu ihrem Leben „erholt” haben, das wahrlich nicht leichter und „glücklicher” gewesen ist als das unsere. Und wir denken an alle die - wir fragen gar nicht, ob es wenige oder viele sind -, die auch heute mit großer Freude den Sonntag mit dem „Gottes-Dienst”, vor „Seinem heiligen Altare”, begehen, und die darben und meinen zu „verderben”, wenn sie das entbehren müssen. Aber wir denken eben doch auch an die anderen, die vielen, vielen anderen.

LeerEs sind treffliche, ernsthafte Menschen, die ihren Sonntag gewiß nicht totschlagen wollen, sondern sich um eine rechte Sonntagsfeier ernstlich bemühen, und die doch gar nicht auf den Einfall kommen, am Sonntag in eine Kirche zu gehen; die mit der Möglichkeit wirklich nicht rechnen, daß ein „Gottesdienst” ihnen etwas für ihren Alltag bedeuten und helfen könnte. Haben wir den Mut, sie einfach an ihre „Pflicht” zu erinnern? Sind wir denn selbst davon durchdrungen, daß die Gottesdienste unserer Kirche die rechte, vollgültige und vollmächtige Sonntagsfeier sind; so sehr davon erfüllt und durchdrungen, daß wir gar nicht anders können, als aus übervollem Herzen allen von unserem Reichtum zu erzählen; Strömen dort wirklich jene Kräfte der recreatio, deren wir so sehr bedürfen; „Ach (so wurde mir jüngst geschrieben), Sonntag für Sonntag mit 5 oder 10 Menschen in einer häßlichen und verwahrlosten Kirche zu sitzen und eine langweilige Predigt anzuhören, das ist ja die anstrengendste Sache in der ganzen Woche!” Diese Mühsal einer mit Energie durchgeführten Verpflichtung ist dann wirklich das Zerrbild jener „Erholung”, die uns der Sonntag gewähren will. Hier ist nichts von dem heiligen „Spiel”, in dem wir mit allen Kindern Gottes fröhlich werden; hier herrscht jenes alttestamentarische Gesetz, ein frommes Werk, das aus Pflichtgefühl oder um des guten Beispiels willen geleistet wird. Und ist es dann noch der „Sonntag”, wenn seinem „Heiligtum” selbst der festliche Glanz, der freudige Klang, die Keimkraft eines erneuerten Lebens so gänzlich mangeln?

LeerEs hätte keinen Sinn, hier Vorwürfe zu erheben. Es liegt nicht - jedenfalls nicht allein - daran, daß die Menschen nicht wollen. Sie können nicht, was können sie nicht? Sie können hier in diesen unseren Gottesdiensten nicht mehr den Strom der ewigen Wahrheit rauschen hören; sie können nicht hören, opfern, empfangen, so wie eben im Gottesdienst gehört, geopfert, empfangen wird. Die Stimme Gottes dringt nicht zu ihnen. Es liegt nicht daran, daß schlecht gepredigt wird, daß es an guter Musik mangelt. Der treue Eifer wendet die Not nicht. Es ist ein guter Einfall, „Kirchenkindergärten” einzurichten, in denen die kleineren Kinder während des Gottesdienstes betreut werden; aber werden dann die jungen Mütter in Scharen kommen, „weil sie hier selbst genährt und gesegnet werden für ihren Mütterdienst”? Ach nein, hier sind Quellen verschüttet; hier sind Seelentore vermauert; hier ist das Empfangsgerät zerstört, mit dem die Seele die Stimme ihrer jenseitigen Heimat auffangen und vernehmen könnte.

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LeerHier erst tritt die eigentliche Not um den Sonntag in unseren Blick. Wenn die Kräfte selbst versiegen, aus denen der Sonntag begangen und gestaltet werden kann, dann freilich leben die Menschen praktisch ohne Sonntag, und der Sonntag verschwindet aus ihrem Leben, auch wenn noch ein Tag in der Woche „Sonntag” heißt. In eben jenem Kriegsjahr, in dem dieses „Buch vom Sonntag” geplant wurde, wurde auf einem großen schwedischen Kirchentag in Stockholm über die Fragen der Sonntagsfeier und Sonntagsheiligkeit verhandelt. Viele gute Gedanken wurden laut, viele ernsthafte Vorschläge wurden gemacht, Forderungen und Mahnungen sowohl an die Einzelnen wie an die Öffentlichkeit gerichtet. Aus den Berichten gewann man den Eindruck, daß hier eine zwar mannigfach bedrohte, im Grunde aber doch unerschütterte Sitte verteidigt und Mittel und Wege gesucht werden sollten, diese Volkssitte auch und gerade in der gegenwärtigen Lage zu befestigen und zu vertiefen; nur wie eine bedrohliche Wolfe am Horizont kündigte sich die Gefahr an, daß einmal diese ganze Sitte, der christliche Sonntag selber, verfallen und die Quellen seines Lebens versiegen könnten.

LeerHeute können wir uns nicht mehr darüber täuschen, daß die ganze Welt von einer Entwicklung ergriffen ist, die einer Auflösung gleichkommt. Die gutgemeinten Mittel der Konservierung versagen hier ebenso wie jeder Appell an den guten Willen und an die Treue des Einzelnen. Keine Hoffnung kann in den Herzen Wurzel fassen ohne den Willen zu einer radikalen Ehrlichkeit, die zunächst die Dinge ganz so sieht, wie sie sind. Diese Ehrlichkeit gebietet uns zu sagen, daß längst das gültige Bild des Sonntags in den Seelen verblaßt ist, und daß mit dem gültigen Bilde allmählich auch die Gestalt des Sonntags aus unserem Leben verschwunden ist. Die Liebe der Einzelnen zu ihrem Sonntag kann dieses Gesamtschicksal nicht aufhalten und nicht wenden, in das wir alle mehr oder weniger verstrickt sind. Wir leben ohne Sonntag; und nicht nur dies, sondern wir können den Sonntag nicht feiern, wie es sein sollte. Die Wurzeln des Sonntags in uns sind verdorrt; die Quellen sind versiegt; die Sonntagskräfte sind verkümmert. Wir haben gerade noch so viel Zusammenhang mit dem Sonntag, um zu ahnen, daß das Leben selbst, wenn es so steht, von einer tödlichen Gefahr bedroht ist. Auch wenn wir jetzt gar nicht von „Christentum” und christlicher Kirche reden: was wird aus uns, was wird aus dem Menschengeschlecht, wenn wir uns daran gewöhnen, ohne Sonntag zu leben?

Das Gottesjahr 1951 (1942), S. 9-14
© Johannes Stauda-Verlag zu Kassel (1951)

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-12-02
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