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von Bruno Meyer |
Unser Geschlecht ist berufen, in seiner Lebenszeit die größten Kämpfe der Geschichte zu bestehen. Dieses Schicksal sollen wir innerlich bejahen; aber zugleich müssen wir fragen, was uns tüchtig macht, dieses Ja zu verwirklichen. Eins ist klar: es bedarf dazu der Anspannung aller Kräfte jedes einzelnen. Aber wie verträgt sich diese Anforderung mit der Überschrift dieser Zeilen? Haben wir überhaupt Zeit zu einer täglichen „stillen halben Stunde”? Es ist ja im Grunde schon seit langen, so, daß die Menschen tagaus tagein gehetzt und gejagt werden und nicht mehr zur Besinnung kommen. Es ist so, seit die Maschine die Herrschaft in der Welt angetreten hat und mehr oder weniger den Menschen selber zur Maschine gemacht und ihn hineingetrieben hat in ein Leistungssystem sondergleichen. Die Folge davon ist, daß immer mehr Menschen einem allgemeinen Erschöpfungszustand entgegentreiben, daß die Zahl der abgearbeiteten, überarbeiteten, reizbaren oder gar arbeitsunfähigen Menschen immer größer wird. Schuld daran hat nicht der Kampf ums Dasein an sich, nicht die grandiose Erfindung der Maschine und die gewaltige Entwicklung der Technik an sich, sondern die Tatsache, daß der Mensch dem Geist des technischen Zeitalters so völlig verfallen ist, daß die Seele ihr Recht zum Atemholen verloren hat. wo der Mensch nicht mehr Atem holt, da stirbt er. Tatsächlich hat der moderne Mensch, indem er sich hemmungslos dem Tempo der Zeit, ihrer Eile und Hast verschrieb, nicht etwa die Zeit überwunden, sondern er hat sie verloren. Und nicht nur die Zeit hat er verloren, sondern auch die Ewigkeit; damit zugleich hat er den Abstand von den Dingen dieser Welt und den Maßstab für ihre richtige Beurteilung verloren. Die Eindrücke des Lebens können nicht mehr in die Tiefe seines Wesens eindringen, sondern bleiben an der Oberfläche haften. Um es biblisch auszudrücken: an dem Menschen unserer Tage erfüllt sich in erschreckender Weise das Wort Gottes an Kain, das das Schicksal des unerlösten Menschen schlechthin beschreibt: „Unstet und flüchtig sollst du sein auf Erden.” In seinem Buche „Der Untergang des Abendlandes” hat Oswald Spengler darauf hingewiesen, daß das Symbol unserer Kultur die Uhr ist. Die Zeit ist der Dämon, der uns hetzt. Das Gefühl für die verrinnende Stunde nagt wie ein Wurm an unserer Lebenskraft. Deswegen ist die tägliche stille halbe Stunde ein wichtiges Heilmittel gegen die teuflische Hetzjagd des Lebens. Allerdings gilt es auch hier auf der Hut zu sein! Weil in der Stille Gegenkräfte schlummern gegen des Teufels List und Trug, gibt es für den Teufel kein größeres Anliegen, als dem Menschen die „stillen Stunden” zu verderben. Das ist ihm dann bereits gelungen, wenn wir in stillen Stunden uns nur mit uns selbst beschäftigen, wenn wir uns nur um unser Ich drehen mit seinen Launen und Sorgen und Trieben und Leidenschaften, oder wenn wir uns gar den ungeordneten Empfindungen und Begierden unseres Herzens überlassen. Dies kann dahin führen, daß der Mensch dann die stillen Stunden geradezu flieht und sich stattdessen auch in seiner freien Zeit lieber hineintreiben läßt in eine „zerstreuende” Fülle von guten oder schlechten Eindrücken, in Rausch und Betäubung. Deswegen braucht der heutige Mensch als „Hilfe im Alltag” nicht bloß den Rat, sich an jedem Tag eine stille halbe Stunde zu gönnen, sondern er braucht auch Anweisung, ihr den rechten Inhalt zu geben. Jede Stille muß, wenn sie hilfreich und heilsam sein soll, „Stille zu Gott” sein, das heißt: Sammlung des Innern zu Gott hin. Es gilt, Gottes Stimme zu hören und nicht bloß das bunte Stimmengewirr des eigenen Herzens. Der moderne Mensch, der fast nur noch am Telefon und Radio einigermaßen hinhören kann, muß wieder lernen, was es heißt: „Der Mensch lebt von einem jeglichen Wort, das durch den Mund Gottes geht”, was es heißt: sich ausrichten lassen auf den hin, der allein unser in Unordnung geratenes und in Hast und Lärm zerflatterndes Leben täglich neu ordnen kann. - Wirkliche Stille zu Gott ist freilich zutiefst Geschenk Gottes selber, ist Gnade. Aber der Mensch kann daran schuld sein, wenn ihm dieses Geschenk nicht zuteil wird; er kann die Empfänglichkeit für Gott in sich zerstören. Das tut er nicht zum wenigsten dann, wenn er sich widerstandslos von dem Tempo des Lebens jagen läßt und gar nicht mehr den Willen hat, sich in der „Stille zu Gott” zu üben. Zu solchen „Sichüben” gehört zuallererst, daß wir für unsere tägliche stille Stunde den rechten Ort und die rechte Gelegenheit suchen. Sehr oft wird sie uns in die Einsamkeit führen müssen. Gerade damit wir fähig und willig bleiben zur Gemeinsamkeit, damit wir den Aufgaben der Gemeinschaft genügen können, haben wir zu Zeiten das Alleinsein bitter nötig, auch den Abstand von Menschen, die uns wert und lieb sind. Wenn die einsame stille halbe Stunde uns wirklich Stille zu Gott gewährt, führt die Einsamkeit uns mit innerer Notwendigkeit wieder zu den andern und in die rechte, innerlich gegründete Gemeinschaft mit ihnen. Am Ende dieses Weges treuer Übung in täglicher Stille steht dann das Größte, was die „stille halbe Stunde” uns schenken will: eine neue Freudigkeit und Bereitschaft zum regelmäßigen Gebet und zur Übung im Gebet. Ernst v. Dryander erzählt in seinen „Lebenserinnerungen” von der Gräfin Waldersee, wie sie mit strenger Regelmäßigkeit die ersten Stunden des Tages allein vor Gott zu verbringen pflegte. Als ihr Mann noch in Berlin stand, hatte sie ihrem Diener eingeschärft, während dieser Stunden keinen Besuch zu melden - „und wenn es der Kaiser selbst wäre”. Eines Morgens kam schon um 8 Uhr der damals noch junge Kaiser, um der Gräfin die Geburt eines seiner Söhne persönlich mitzuteilen. Aber pflichtgetreu verweigerte der Diener die Meldung, und Seine Majestät mußte wieder abziehen. Solche unbedingte Entschlossenheit im Kampf um Stille, zum mindesten um „die stille halbe Stunde” tut uns Menschen des 20. Jahrhunderts not. Es handelt sich hier wirklich um einen Kampf, so gewiß es immer Kampf bedeutet, gegen den Strom zu schwimmen. Dieser Kampf muß immer wieder aufs neue bewußt aufgenommen und geführt werden! Wieviel sogenannte Nervosität und wieviele Gemütskrankheiten könnten vermieden werden, wenn wir darin treuer und willensstärker wären! Wieviele übereilte Entschlüsse, wieviele aus Überreiztheit entstehende Mißverständnisse, wieviel törichte Empfindlichkeit und fruchtloses Aneinandervorbeireden würden uns erspart bleiben, wenn wir drinstünden in einem gesunden, gottgewollten Rhythmus des Lebens und unsere stille halbe Stunde hätten! Kurz, wie ganz anders würden wir den gewaltigen Aufgaben der Gegenwart gewachsen sein, wenn wir täglich tränken aus den Quellen, die aus der Stille fließen! Dann würde unser bis an den Rand ausgefüllter Alltag nicht unsere Kräfte aufzehren, sondern wir würden etwas davon erfahren, daß wir durch Stille-Sein stark werden und unser innerlicher Mensch von Tag zu Tag erneuert wird (2. Kor. 4, 16). Das Gottesjahr 1940, S. 17-20 © Johannes Stauda-Verlag zu Kassel (1939) |
© Joachim Januschek Letzte Änderung: 13-03-24 |