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„Ich habe keine Zeit”
von Hugo Specht

LeerDas Leben ist so merkwürdig widerspruchsvoll! Wir Menschen sind in einem Maß Herren der Zeit geworden, wie es sich unsere Väter noch nicht hätten träumen lassen. In Stunden überwinden wir Entfernungen, für die sie noch Wochen gebraucht haben und alles deutet darauf hin, daß wir mit dieser Steigerung der Geschwindigkeiten noch nicht am Ende sind. Steigerung der Geschwindigkeit unserer Verkehrsmittel aber bedeutet Zeitgewinn. An ihm haben wir alle Anteil, ob wir das Fahrrad benützen oder das Telefon, ob wir einen Brief schreiben oder mit dem Flugzeug reisen. Aber der Zeitgewinn beschränkt sich nicht nur auf unsere Verkehrsmittel. Jede Maschine bringt Zeitgewinn, von der Nähmaschine bis zu den Maschinenungeheuern in einer modernen Auto- oder Flugzeugfabrik. Der Zeitgewinn, der durch die Rationalisierung unserer Wirtschaft erzielt worden ist, ist unvorstellbar, verglichen mit der Zeit vor etwa einer Generation. Denken wir schließlich noch daran, daß durch das Radio die Zeit, soweit sie Ablauf und Verzögerung bedeutet, überhaupt aufgehoben ist, weil es uns die Dinge gleichzeitig erleben läßt, so ermessen wir daran, in welchem Ausmaß der moderne Mensch daran ist, Herr der Zeit zu werden.

LeerAber hier offenbart sich nun dieser merkwürdige Widerspruch. Dieser gleiche moderne Mensch hat keine Zeit! Er ist eingespannt in das Tempo, diese moderne Verzerrung dessen, was die Väter noch Zeit nennen konnten, mitgerissen und gejagt von der Hast und Unrast unseres gesamten Lebens. „Ich habe keine Zeit”, hören wir vom Beamten und Kaufmann, vom Soldaten wie vom Politiker, von Männern und Frauen, ja schon unsere Kinder treten uns mit dieser immer etwas gereizt klingenden Entschuldigung gegenüber, wenn wir Unvorhergesehenes von ihnen verlangen. Dabei sind diese Worte nicht nur ein Ausdruck der Ungeduld und Nervosität. Was wir mit Nervosität bezeichnen, ist nichts anderes, als der krankhaft gewordene Zustand des Menschen, der keine Zeit hat. Jene Klage spricht von einer tiefen Not, in der sich der Mensch befindet, sie ist, ganz ernsthaft gemeint, das Kainszeichen, das der heutige Mensch auf seiner Stirne trägt, der unstät und flüchtig ist, der „keine Zeit hat”.

LeerKönnen wir dieser Not Herr werden? Ja, wir können es, aber nur dann, wenn wir, wie jener Kranke, auf die Frage: „Willst du gesund werden?” mit einem ganz bereiten „Ja” antworten können. Denn es kann sich angesichts der sehr tief begründeten Not nicht darum handeln, irgend einen Trick, eine schlaue Methode aufzuzeigen, mittels deren wir das Leben überlisten, daß es uns mehr Zeit hergibt, so nötig es sein wird, das Leben methodischer zu führen und die Zeit planmäßiger auszunützen, mehr Ordnung in unser Leben zu bringen; die eigentliche Ursache unserer Not liegt nicht darin, daß etwa unser äußeres Leben keine Ordnung hat, sondern daß unser inneres Leben nicht in Ordnung ist, und alle Besserung, die wirkliche Gesundung bringen soll, muß von dieser innersten Ursache ausgehen.

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LeerDaß wir keine Zeit haben, liegt daran, daß wir nur noch mit der Zeit aber nicht mehr mit der Ewigkeit rechnen. Wir meinen, was wir Menschen nicht tun, das werde auch nie geschehen. In all unserm Planen und Handeln rechnen wir nur noch mit unserem Tun, wir vergessen, daß Gott am Werk ist und daß Sein Tun entscheidend ist. Wir meinen, wir müßten alles machen und wenn wir nicht rastlos tätig wären, dann bliebe alles stehen. Dieser sehr irrigen Meinung begegnen wir nicht nur bei den Menschen, die Dinge dieser Welt betreiben, sie begegnet uns oft auch, unausgesprochen, bei Menschen, die gegen die tausendfache Not dieser Welt ankämpfen. Nicht anders ist es zu erklären, daß die christliche Liebestätigkeit so oft zu einer bloßen christlichen Aktivität und Geschäftigkeit geworden ist, daß auch über dem Kampf um eine neue Kirche so oft der Fluch dieser Aktivität steht. Haben wir da nicht immer wieder vergessen, daß „Gott im Regiment« sitzt” und gemeint, nur von unserm Tun hänge das Werden der Kirche ab? Daß wir wieder mit Gott rechnen, ist der Anfang der Genesung.

LeerAber dies „Rechnen mit Gott” erschöpft sich nicht in einem rein gedanklichen Vorgang, daß wir einsehen lernen, es kommt nicht nur auf uns an, daß wir dem „grundsätzlich” zustimmen, Es bedeutet viel mehr, in der Gegenwart Gottes leben, es bedeutet eine neue innere Haltung. Dazu werden wir nicht ohne ernsthafte Übung kommen. Es gehören die stillen Minuten vor Beginn unseres Tagewerks dazu, jene Minuten, in denen wir vor Gott treten und seiner Gegenwart gewiß werden. In denen wir unser Leben mit allen seinen Kräften dankbar aus Gottes Hand entgegennehmen und unseren Tag, unser Schicksal, unsere Arbeit in Gottes Hand legen. Wieviel hilft uns da die stille Versenkung in ein Wort wie dieses: „Meine Zeit steht in Deinen Händen”, und die Stille, die aus einem solchen Wort in uns einströmt, kehrt wieder zurück, wenn wir es da und dort im Getriebe des Tages wieder still in uns hinein sprechen. Was durch solche Übung in uns erwacht, ist nicht weniger als ein neues Zeitgefühl, das nicht mehr nur mit dieser allzu rasch vergehenden Zeit rechnet, sondern mit der Ewigkeit und das uns gelassen und ruhig werden läßt. Vielleicht müssen diese stillen Minuten am Morgen dem Dämon der Unrast erst abgerungen werden. Machen wir uns nur ganz klar, daß hinter diesem Einwand: „Dazu habe ich keine Zeit” die reale Macht des Versuchers steht, der uns gerade nicht zu dieser Stille kommen lassen will, weil er weiß, daß in diesen Minuten die tödlichen Schläge gegen ihn geführt werden.

LeerEng damit hängt das andere zusammen. Wir haben keine Zeit, weil die Rangordnung der Werte in unserem Leben in eine solch heillose Unordnung geraten ist. Sie ist aber deshalb in Unordnung geraten, weil sie nicht mehr an der Ewigkeit ausgerichtet ist. Wir haben Zeit für die Zeitung und für den Stammtisch und alle möglichen gesellschaftlichen Verpflichtungen, aber wir haben keine Zeit für unsere Frau und unsere Kinder. Wir haben Zeit für das Geschäft, aber wir haben keine Zeit für den Gottesdienst, das heißt, keine Zeit für unser eigentliches Leben. Wir haben erst dann wieder Zeit, wenn die großen und einfachen Dinge wieder ihren höchsten Wert für uns bekommen haben, laßt es mich kurz sagen: die Liebe und der Glaube. Wie oft sind diese vier kleinen Worte „ich habe keine Zeit” einfach der Ausdruck einer großen Lieblosigkeit, und wenn wir uns immer Rechenschaft geben würden, wofür wir keine Zeit haben, sooft wir behaupten, keine Zeit zu haben, dann würden diese Worte sehr bald zu einer schweren Anklage gegen uns werden, weil sie unsern Mangel an gutem Willen und unseren Egoismus schonungslos enthüllen.

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LeerDarum dürfen wir bei den Minuten vor Beginn des Tagewerks nicht bleiben, sondern es bedarf eines tieferen Eindringens und sich Umfangenlassens von der Welt der Liebe und des Glaubens, in die wir beim Lesen der heiligen Schrift eintreten. Es bedarf des Gebets und des Lebens in der Kirche. Wie oft haben wir es erlebt, daß wir nach Tagen gemeinsamen geistlichen Lebens es einfach nicht mehr fertig brachten, die Zeitung von Anfang bis Ende zu lesen, daß uns der Geschmack vergangen war an den illustrierten Blättern und daß wir schon damit plötzlich Zeit gewonnen hatten für Dinge, für die wir sonst keine Zeit hatten. Wer nur in der Zeit lebt, hat keine Zeit; wer in der Ewigkeit lebt, der hat auch Zeit.

LeerNun wird es uns auch klar, daß es sich nicht einfach um eine Methode handelt, wie man Zeit gewinnen kann, um eine Rationalisierung, Arbeitserleichterung und Arbeitsvereinfachung im täglichen Leben. Wollten wir nur auf diesem Wege Hilfe suchen, so würden wir nur noch tiefer verstrickt in den Fluch der Unrast. Nein, es geht um eine radikale Umkehr unseres ganzen Lebens. Es geht vielleicht um einen Bruch in unserem Leben. Aber der wird keinem Christen erspart. Was das Neue Testament Buße nennt ist kein wimmerndes Wühlen in unserer Sündhaftigkeit, sondern einfach die entschlossene Umkehr zu Gott. „Willst Du gesund werden?” Dann mußt Du Dir einfach klar sein darüber, daß es ein unumstößliches Lebensgesetz ist, wenn Christus sagt: „Wenn ihr nicht umkehrt... so werdet ihr das Reich Gottes nicht sehen”.

LeerDiese Umkehr muß vielleicht für eine Zeit eine Abkehr sein von der Welt. So wie der Arzt einen Lungenflügel stillegt, damit er heilen kann, so bedarf unser schwer erkranktes Leben zu Zeiten der Abkehr von der Welt und der gesammelten Hinwendung zu der ewigen Welt Gottes. Das darf, wenn wir genesen sollen, keine Flucht sein von der Welt. Es ist, wenn es echt ist, eine Einkehr in jene Welt, aus der wir die Kräfte empfangen, die wir für unser Leben in der Welt, für unseren Dienst an den Menschen, die Gott uns zugesellt hat, brauchen. Sie muß uns zur Rückkehr in die Welt führen.

LeerAber wir kehren dann als andere Menschen zurück: als Menschen, die wieder Zeit haben für das wahrhaft Nötige, die wieder Zeit haben für den Menschen, die wieder Zeit haben für ihr Leben. Dann hasten wir nicht mehr als Gejagte und Getriebene durchs Leben, hinter irgend einem selbstgewählten Ziel her, oder überhaupt nur gejagt, ohne wirkliches Ziel, sondern wir fangen an zu leben. Nicht das „Tempo” bestimmt dann unser Leben, sondern in lebendigem Rhythmus schwingt das Leben um seine ewige Mitte. Das Kainszeichen der Unstäte verschwindet von unserer Stirn und die Ruhe und Gelassenheit ist das Siegel unserer ewigen Berufung.

LeerErst aus solcher entschlossenen Umkehr wird auch alles andere einen Wert haben, das wir unternehmen können, um Zeit zu gewinnen. Daß wir Ordnung in unseren Tag bringen, daß wir ihn rechtzeitig beginnen, daß wir das Unnötige energisch beschneiden. Erst dann wird es uns auch möglich sein, das nicht nur zu planen, sondern auch durchzuführen. Denn es gilt auch angesichts der Not, daß wir „keine Zeit haben”, jenes Wort: „Trachtet am ersten nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch solches alles - auch die Zeit - zufallen!”

Das Gottesjahr 1940, S. 12-15
© Johannes Stauda-Verlag zu Kassel (1939)

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 13-03-24
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