|
von Wilhelm Stählin |
Dies Buch ist aus einer brennenden Not erwachsen und sein Titel ist ein Schrei nach Hilfe. Eine Sturmflut größter geschichtlicher Ereignisse brandet über uns alle hinweg, und auch an den stillsten Ufern des persönlichen Lebens brechen sich tosend ihre Wellen. Der große Atem der Geschichte trägt unser Einzeldasein aus aller dumpfen Enge in den weiten Raum. Das gemeinsame Schicksal des Volkes fordert mit unerbittlichem Anspruch, daß auch das Leben des einzelnen mitschwinge in dem brausenden Rhythmus dieser Jahre. Wir sind gewürdigt, eine Zeitwende, wie sie nicht jedem Jahrhundert auferlegt ist, mitzuerleben. Ein ungeheurer Wille, der die Kraft der Nation zusammenreißt, will ein Tor in die Zukunft erstürmen und er steht dabei bewußt oder unbewußt selbst in einem höheren Dienst. Der ahnende Glaube, daß der Herr der Geschichte unser Volk als Werkzeug dieser Weltenwende gebrauchen will, gibt auch dem engbegrenzten Einzelschicksal Anteil an der Größe dieser Stunde. Niemand von uns wünscht, er könnte zurückkehren in die lähmende Ruhe vergangener Jahre. Das Gebet um „ein geruhiges und stilles Leben” (im ursprünglichen Sinn von 1. Tim. 2, 2 ist freilich an eine wesentlich angemessenere Haltung gedacht) will uns nicht recht über die Lippen; es möchte uns wie eine Flucht erscheinen, wenn wir das heute begehren; und wir fragen uns ernstlich, ob Gott uns eben diese Gabe heute geben will. Zugleich aber überfällt uns jählings die Angst, ob wir der inneren Anforderung der Stunde gewachsen sind. Die ganze Menschheit scheint von einem Fieber geschüttelt zu werden, das ihre Lebenskraft aufzuzehren droht, wenn nicht Gegenkräfte besonderer Art dies Fieber in Genesung und neue Gesundheit wandeln. Die Kraftreserven, von denen insbesondere die abendländische Menschheit Jahrhunderte gelebt hat, scheinen ausgebraucht zu sein; Quellen, die gleich den Väterbrunnen der Heiligen Geschichte unser Ackerland bewässerten und ganze Geschlechterreihen zu tränken vermochten, scheinen zu versiegen. Das Grundwasser sinkt ab und die Bäume kümmern dahin, weil ihre Wurzeln nicht mehr zu den Quellen hinabreichen. Unser Leben gleicht einem heißen Ritt durch die Wüste, in der Mensch und Tier verschmachten, weil die Brunnen der Tiefe verschlossen sind. Wer hat die Vollmacht, aus dem unbarmherzigen Stein den sprudelnden Quell hervorzulocken? Ein weitgereister Mann sagte mir vor einigen Jahren, die heranwachsende Jugend der ganzen Welt glaube nicht mehr an die tönenden Worte von dem Aufstieg der Menschheit und sie erhoffe nichts, gar nichts mehr von allen Versuchen, die sozialen Nöte und die zwischenvölkischen Fragen durch gutgemeinte Anstrengungen zu überwinden; denn diese jungen Menschen seien viel mehr bewegt von der einen Frage, wie in der Welt, so wie sie geworden ist, überhaupt Menschen leben könnten, ohne ihr menschliches Sein zu verlieren. Das ist es, was ungezählte in wachem Schrecken oder dumpfer Angst empfinden: Das Leben selbst ist in der Tiefe bedroht. Dabei sind wir, die wir Christen sein möchten, zunächst keineswegs in einer besseren Lage als die anderen. Einerlei, ob wir Christen b l e i b e n und also das christliche Vätererbe in unserem Leben für unsere Nachfahren bewahren wollen, oder ob wir Christen w e r d e n wollen, das heißt, vorstoßen möchten für uns selbst und für unsere Kinder und Kindeskinder zu einer neuen lebendigen Gestalt christlichen Seins: wir alle spüren mit einer tiefen Sorge, wie sehr auch unser Christsein in dieser letzten Tiefe bedroht ist. Können wir überhaupt noch Christen sein? Haben wir überhaupt noch die Freiheit und Möglichkeit, uns für den christlichen Glauben zu entscheiden? Wird nicht aller solcher Wille verschlungen von dem inneren Gesetz unseres heutigen Daseins, von den Formen, die unser aller Leben zwangsläufig annimmt? Unsere christliche Existenz - wenn wir ein so volltönendes Wort überhaupt in den Mund nehmen wollen - wird überrannt von Mächten, die niemand will, die aber eben darum auch niemand fernhalten und denen sich niemand völlig entziehen kann. Es geht um unseren Alltag, das heißt, um den Raum, in dem unser wirkliches Leben sich abspielt. Kaum, daß wir Sonntagschristen sein können - vielleicht wollen wir es auch gar nicht mehr sein -, aber Werktagschristen, Christen im Alltag? Vielleicht können wir das nicht sein, selbst wenn wir es wollten. Gewiß haben wir uns alle auch anzuklagen wegen unserer Trägheit und Untreue, wegen der Verkehrtheit und Bosheit unseres Herzens. Aber wir wissen zugleich, daß es daran allein nicht liegt, wenn alles echte geistliche Leben abgedrängt wird in eine Randzone, wo es keinen echten Austausch mit dem Wohn- und Arbeitsraum unseres Lebens mehr gibt. Man kann sich natürlich auch an diesen Zustand so sehr gewöhnen, daß man nicht mehr unter ihm leidet. Die Randzone stirbt ab, und die Menschen wundern sich kaum mehr, daß sich in ihrem Leben nichts ändert, wenn sie auch äußerlich die letzten Reste religiöser Bindung abstreifen. Wir, die wir Christen sein möchten, können uns an diesen Zustand nicht gewöhnen; wir leiden tiefer als andere unter diesem Zwiespalt: Ein christlicher Glaube, der nicht wirklich in unserem irdischen Dasein verwurzelt ist und hier Früchte trägt, und ein Alltag, der wie ein vertrockneter Garten nicht mehr aus den Quellgründen geistlicher Kräfte gespeist wird, vielleicht ist dies zunächst und vor allem der Dienst, den wir unserem Volk und durch unser Volk der ganzen Menschheit zu leisten haben, daß wir uns diesem Leiden nicht entziehen und nicht versuchen, diesen schmerzenden Stachel aus dem Leibe unseres Lebens zu ziehen. Wir sehnen uns nach echter menschlicher Verbindung. Wir haben die Vereinzelung des auf sich allein gestellten Menschen als eine gefährliche Erkrankung durchschaut und sind, unter entschlossener Führung, aufgebrochen zu neuen Formen der Gemeinschaft und stellen uns gerne mit wirklicher Freude in Reih und Glied. Aber bisweilen fragen wir uns, ob wir nicht eigentlich viel zu sehr in uns selber verschlossen und verkrampft sind, als daß wir zu echter Gemeinschaft fähig sein könnten. Wir sind ärmer geworden an Liebe und Barmherzigkeit; und was wird aus uns, wenn der Strom der Liebe und der Barmherzigkeit versiegt? - Wir können vieles, was frühere Geschlechter nicht gekonnt haben. Wir werden - wenn man einmal so sagen darf - sehr tüchtig; und wir Alten sehen manchmal mit Neid, welche Möglichkeiten die jungen Menschen haben, um in solcher Tüchtigkeit des Körpers und des Geistes, in Gewandtheit und Leistungsfähigkeit weiterzuwachsen. Aber die Sorge überfällt uns, ob wir in aller Tüchtigkeit eigentlich wirklich etwas taugen, nämlich taugen zu einem vollen wirklichen lebenswerten Leben. - Und über alle dem steht dann die uralte Frage, was in diesem Leben, so wie es nun einmal ist, aus unserer Seele wird. Die Formen dieser Frage haben sich gewandelt, aber ist es nicht im Grunde die gleiche Not, die gleiche Angst, wie sie immer wieder aus der Tiefe emporschreit: Was muß ich tun, daß ich gerettet werde? Man kann sich natürlich dieser Frage entziehen. Vielleicht haben wir mehr und gefährlichere Möglichkeiten als frühere Geschlechter, diese Frage zu verdecken und uns über sie zu beruhigen. Unzählige Menschen - und wer von uns gehört im Grunde nicht dazu? - flüchten sich hinein in eine rastlose Tätigkeit, in eine immer noch gesteigerte Leistung, und wir vergessen keinen Augenblick, wie sehr wir das unserem Volk in der Tat schuldig sind. Aber wie verzweifelt nahe liegt es uns dann, daß wir ordentlich froh sind, keine Zeit mehr zu haben. Es sind treffliche, ernsthafte Menschen, die sich darüber ertappen, wie sehr sie sich mit flüchtigem Anschauen flüchtiger Bilder, mit Film und Sport, mit leichter Lektüre, vielleicht auch nur mit Zigarettenrauchen betäuben, weil die echte Widerstandskraft in ihnen gebrochen ist. Wir greifen nach Strohhalmen und verlassen uns auf dünne Drähte, von denen unser Leben überspannt ist, weil der Stab, an dem man ruhig und ausdauernd wandern kann, unserer Hand entglitten ist. Wir sind eigentlich immer auf der Flucht, weil wir keine Zuflucht haben. Wir verbergen uns vor uns selber, weil die bergende Burg unserm Blick entschwunden ist, und wir den Weg dorthin nicht mehr finden. Das, was in diesem Buch zusammengetragen ist, ist mehr als in den meisten ähnlichen Bänden früherer Jahre aus einer gemeinsamen Arbeit erwachsen. Nicht nur die alten und treuen Mitarbeiter, sondern viele Freunde, weit über diesen engeren Kreis hinaus, Männer und Frauen, sind an dem Plan dieses Buches beteiligt worden und sind gefragt worden, was sie zu diesem Thema wohl zu sagen hätten. Es sei allen denen von Herzen gedankt, die in vielen einzelnen Briefen und losen Blättern ihr Wort beigetragen haben. Nicht alles konnte so, wie es zu dem Herausgeber kam, in diesem Bande gedruckt werden. Aber es ist alles sorgfältig geprüft und erwogen worden. Die Verfasser der einzelnen Beiträge haben manches mit eingearbeitet, was als Hinweis und Anregung von anderen ihnen vorlag. Manches ist so persönlich, so sehr aus eigener Erfahrung heraus gesagt, daß es richtiger schien, keinen Namen zu nennen. Es sind auch einige Sätze aus wirklichen Briefen zwischeneingestreut, in denen ein einzelner Gedanke, ein Hinweis, eine Erfahrung besonders eindrücklich zu Tage tritt. Es liegt nichts daran, wer dies, wer jenes gesagt hat; wir helfen einander mit dem, was wir wissen, mit dem, was wir versucht und erprobt haben. Aber der vielstimmige Chor mannigfacher Stimmen hat die Not, aus der die Worte geboren sind, weit hinter sich gelassen und redet, wie es sich gebührt, weniger von den Schwierigkeiten, als von den Wegen ihrer Überwindung. Möchte dieser Band uns Mut machen, daß wir nicht ermatten auf dem mühseligen Weg unseres Alltags; möchte er uns Mut machen ernsthaft zu glauben, daß es eine Hilfe im Alltag wirklich gibt. Das Gottesjahr 1940, S. 7-12 © Johannes Stauda-Verlag zu Kassel (1939) |
© Joachim Januschek Letzte Änderung: 13-03-24 |