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1938
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Mea culpa
von Esther von Kirchbach

LeerZweierlei entgegengesetzte Gefahren sind es, die gleich Warnungstafeln an dem Wege stehen, den die Gewissenserforschung vor Gott, die christliche Form der Selbsterkenntnis, gehen muß. Die eine Gefahr hat Luther bis in ihre letzte Tiefe durchgekämpft und ihre Last wie ein Riese Atlas auf seine Schultern genommen, so daß wir alle heute noch von der Frucht dieses Kampfes zehren: es ist die Gefahr, den „Wald vor Bäumen” nicht zu sehen, das heißt vor den Bäumen der einzelnen Fehler, Taten und Unterlassungen, die vor dem eigenen Gewissen nicht bestehen können, den Wald der eigentlichen Sünde nicht zu sehen, der Absonderung von Gott schlechthin.

LeerDie andere Gefahr, der Luther durch die Schwere des Weges, den er zu gehen hatte, entgangen war, ist die, der wir Kinder der Reformation ganz allgemein verfallen sind. Wir sehen die „Bäume vor Wald” nicht; das heißt, wir anerkennen zwar die Tatsache der Trennung von Gott, wir wissen, daß diese Trennung nur durch die lebendige Hingabe des Gottes Sohnes selbst überwunden werden konnte, aber wir wissen nicht mehr, aus welchen Bäumen sich nun unser Wald zusammensetzt. Und das ist doch die notwendige und eigentliche Voraussetzung dafür, daß das „ich elender Mensch, wer wird mich erlösen von dem Leibe dieses Todes?” kein abstraktes Katechismuswissen, keine gefühlsmäßige Steigerung bleibt, sondern die klare Erkenntnis von Sünde und Vergebung und von den Folgen beider im eigenen Leben. Wir können ja nirgendwo nur abstrakt von dem reden, was uns auf Erden umgibt und womit wir zu tun haben. Es gibt nicht den „Tisch an sich”; wenn wir etwas näheres aussagen wollen, müssen wir eben von einem bestimmten Tisch reden, diesem großen Kirschbaumtisch dort, mit dem einen Fuß in der Mitte. Wir lernen nicht „den Freund” kennen in einer blassen Allgemeinheit; sondern an dem Menschen, der auf der Schulbank neben mir saß, an dieser mit der ich gleichzeitig meine Kinder bekam, wird uns das Wesen des Freundes offenbar.

LeerWenn bei dem allgemeinen Sündenbekenntnis der Kirche unerwartet innegehalten und jeder vor die Frage gestellt würde, woran er nun in diesem Augenblick als an seine Sünde eigentlich gedacht, wo sich seine Sünde in der vergangenen Woche ausgewirkt hätte, wir würden erst merken, wie wenig wirkliche Vorstellungen wir mit diesem Sündenbekenntnis verbinden. So sehr ist der Kernvorgang christlichen Lebens, das Bewußtsein eigener Schuld, die Erkenntnis, Vergangenes niemals wieder zurücknehmen zu können, die Bitte um Vergebung und die Freude darüber, daß Gott auslöschen kann, zu einer blassen, formelhaften Vorstellung geworden! Aus dieser Lage heraus hilft uns nur die Gewöhnung zu ehrlicher Selbstprüfung. Wir müssen uns entschließen, dem Allweisen nicht nur einen zugebundenen Sack mit unserer Sünde vor die Füße zu werfen, von dem wir selbst nicht wissen, was darin ist, in der Hoffnung, daß Er sich schon heraussuchen werde, was er haben wollen, sondern uns wirkliche Sünden wirklich vergeben zu lassen. Diesen Vorgang nennt man Beichte, und es ist erst die zweite Frage, ob nun diese Beichte allein vor Gott abgelegt wird oder ob wir die uns in der Heiligen Schrift verheißene seelsorgerliche Hilfe bei der Erkenntnis der Sünden und der Verkündigung der Absolution in Anspruch nehmen. Denn das, was den meisten Menschen den Weg zur Einzelbeichte versperrt, ist nicht einmal so sehr die Scheu vor dem anderen Menschen als die Unfähigkeit, sich überhaupt über das eigene Leben vor Gott Rechenschaft zu geben. Das will geübt sein; aber wie geübt?

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Leer„Da siehe deinen Stand an nach dem 10 Geboten”, so lehrt Luther, „ob du Vater, Mutter, Sohn. Tochter, Herr, Frau, Knecht seiest.” Gewiß ist das erste, daß wir uns einmal klar werden, wo wir in dieser Welt stehen und wie dieser Stand nun unter den verschiedenen Blickpunkten der Umgebung ein verschiedener ist. Wir sind ja sehr oft Tochter und Mutter zugleich, Untergebene und Vorgesetzte, Lernende und Lehrende, Führende und Geführte. auch in der christlichen Gemeinde. So reden die 10 Gebote eine verschiedene Sprache mit uns, je nachdem wir sie auf unseren Stand anwenden. Aber wo soll man da anfangen? Wenn wir anfangen uns auf Einzelheiten überhaupt einzulassen. dann sehen unsere Augen zunächst eine verwirrende Fülle von Verkehrtheiten, eine verwirrende Fülle also von Tat- und Unterlassungssünden, von Gedanken, Worten und Werken. Mancher schlägt da vor Ratlosigkeit die Tür wieder zu.

LeerDarum ist es gut, wenn wir diese Selbstüberlegung in Abschnitten vornehmen und die Abschnitte nicht zu groß machen. Was ist heute geschehen? Wer es einmal so versucht, wird sehr schnell merken, wie viel leichter es uns wird, die allgemeine Sünde der Menschheit, die Tatsache, daß wir alle verdorben sind von Adam und Eva an, zuzugeben, als die eigenen Verkehrtheiten dieses einzelnen Tages auch nur sich selber einzugestehen. „Alle Menschen sind Lügner”, - auch ich; wieviel einfacher sagt sich das, als „du hast heute vormittag um 11 Uhr einen Kollegen angelogen” oder ihn doch zum mindesten mit Worten an der Nase herumgeführt. „Alle Menschen haben ihre besonderen Charakterfehler”, - ich auch; wieviel einfacher ist das, als das Geständnis, daß die gleiche Heftigkeit, gegen die schon die Mutter beim Kinde kämpfte, nun auch heute wieder das Verhältnis zu einem Hausgenossen unnötig erschwert hat. Aber wenn der andere Schuld hat? Ja, das ist die große Schwierigkeit, die bei aller Selbstprüfung überwunden werden muß. Da wir mit Menschen leben, die eingestandenermaßen „alle Sünder” sind und eine Sünde die andere gebiert, so ist es selbstverständlich, daß wir niemals restlos an allem Schuld sind. Aber darauf kommt es nun eben an, ob es uns gelingt, sich die eigenen 20-80 % klarzumachen, ohne an dem Teil der anderen hängenzubleiben. Das braucht keine sentimentale Zerknirschung zur Folge zu haben, das einfache Eingeständnis ist unangenehm genug.

LeerAber die Entschuldigungslust setzt ja auch da ein, wo kein anderer Mensch im Spiel ist, also bei der Nachlässigkeit im Bibellesen („Ich kam eben nicht dazu”), bei der Unaufmerksamkeit im Gottesdienst („Die langen Predigten sind auch zu furchtbar”), bei der Sorge um die Zukunft, die die eigenen Kräfte zerrieben hat, („Es liegt aber auch besonders schwer vor mir”), bei dem zernagenden und zersetzenden Zweifel an der Lebendigkeit des dreieinigen Gottes („Wir sind aber auch in eine besonders schwere Zeit gepflanzt”). Auch von diesen Entschuldigungen stimmt ein großer Teil, aber niemals b e f r e i t eine Entschuldigung, sie teilt nur die Schuld. Und wir wissen schon von der Mathematik, daß wir durch Teilen immer kleinere Beiträge, aber keine Auflösung bekommen. Die eingestandene Schuld dagegen zieht Gott ab, da bleibt nichts.

LeerPraktisch geht es in einem vom Heiligen Geist geführten Leben immer gerade anders, wie wir es theoretisch erwarten müßten. So meint wohl mancher, daß es ängstlich und unfrei mache, jeden Abend das eigene Leben unter den Scheinwerfer der 10 Gebote zu stellen. Aber in Wirklichkeit macht es uns frei - frei von der Anstrengung, zu vergessen und umzumodeln, was wir an diesem Tage nicht gern ansehen, frei vom Tadel der Menschen, die uns nicht mehr vorwerfen können, als das, was uns schon vergeben ist. - Und so könnte man auch theoretisch meinen, der tägliche Blick auf das eigene Leben verführe zur dauernden Selbstbeobachtung, lasse auch noch die „frommen” Gedanken sich immer nur um das eigene Wesen drehen. - Aber wer ist so bereit zu hören und aufzunehmen als ein zum Frieden gekommenes Herz?

LeerIst nicht jede Übung der Selbsterkenntnis für uns eine Übung zur Dankbarkeit?

LeerNach Beichte und Vergebung sind wir zur Anbetung gerüstet. Das Ende aller Betrachtung eigener Wege ist die große Wendung von uns weg zum ganz Anderen.
Die Herzen in die Höhe!
Wir erheben sie zum Herrn!
Das Gottesjahr 1938, S. 118--121
© Johannes Stauda-Verlag Kassel

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-10-15
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