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Der Weg nach Emmaus
von Wilhelm Thomas

LeerDas Evangelium des zweiten Ostertages von den beiden Jüngern, die nach Emmaus wandern und dabei dem auferstandenen Herrn begegnen, gehört zu den wenigen Geschichten der Heiligen Schrift, die auch ein Schriftsteller von heute, wenn er das Erlebnis der beiden wiedergeben sollte, ähnlich erzählen würde. Man könnte fast vermuten, die späteren Erzähler seien bei Lukas in die Schule gegangen, um die Kunst zu erlernen, ihre Leser hineinzuversetzen in das Leben derer, von denen sie berichten.

LeerFreilich muß man sagen: der Meister des Erzählens zeigt sich bei Lukas auch darin, daß er den allergrößten Gegenstand auswählt. Das macht die Geschichte erst so wunderbar und gibt ihrer Lieblichkeit erst den rechten Hintergrund, daß es sich in ihrer kleinen Welt um das größte Weltgeschehen, um das Geheimnis des Zugangs zu Gottes Reich schlechthin handelt. Manche haben es so aufgefaßt, als ginge es nur um ein paar betrübte Leute, die über ihre traurigen Gedanken auf eine anständige und erfreuliche Weise hinweggekommen sind. In unseren Gesangbüchern steht vielfach noch ein Lied: „Zween der Jünger gehn mit Sehnen über Feld nach Emmaus”; da ist die ganze Geschichte in diesem Sinne aufgefaßt. In Wirklichkeit liegt es ganz anders. Zwei Menschen werden losgelöst aus dem Zusammenhang ihres alltäglichen Lebens, werden in die Einsamkeit geführt, gleichsam nur, damit wir bis ins genaueste beobachten können, wie das Wunder des Glaubens an ihnen geschieht. Am Ende der Geschichte verschwindet nicht nur der Herr ihres Glaubens, mit dem sie Gemeinschaft gewonnen haben, sondern auch sie selber tauchen wieder unter in dem Kreis von Menschen, aus dem sie gekommen sind.

LeerDas Wunder aber, das sie vor unserem geistigen Auge erleben, ist kein einmaliges Ereignis an diesen beiden, es ist das große Geschehen, das die Zeitspanne zwischen Karfreitag und Pfingsten ausfüllt, die letzte Vorbereitung auf die Geburt der Kirche. Als Karfreitagschristen, zutiefst erschüttert von den Vorgängen im öffentlichen Leben ihres Volkes, treten Kleophas und sein Begleiter den Weg an. Unterwegs wird ihre Seele vor das Wort der Heiligen Schrift gestellt- die Verheißungen der Schrift senken sich ein in ihr Gemüt und machen ihre Herzen brennen. Es ist nicht die Autorität des Vermittlers, die sie zwingt, die Botschaft anzunehmen - er bleibt ja unerkannt -; es ist die Kraft der Worte selbst, die sich durchsetzt gegen ihre traurigen Gedanken. Sie erleben einen Umbruch im Verständnis des Wortes Gottes und der Taten Gottes. Mehr ahnend als wissend halten sie den fremden Geleitsmann bei sich fest. Erst da er ihnen das Brot bricht, werden ihre Augen geöffnet und sie erfahren die beseligende Wirklichkeit der Gegenwart Christi im heiligen Mahle. Sie werden Osterchristen. In einem gemeinsamen: „Der Herr ist wahrhaftig auferstanden” klingt die Geschichte der einsamen Wanderung aus. Der Weg durch die Einsamkeit hat zur Gemeinschaft geführt - zur Gemeinschaft mit dem Herrn, und dann mit den Brüdern.

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LeerEben dies ist das große Geschehen dieser Tage weit über die beiden einsamen Wanderer hinaus. Keiner kam zu der Zeugengemeinde des Pfingsttages, der nicht dieses beides erfahren hatte: einen Umbruch in seinen tiefsten, geheimsten Gedanken und den neuen Anfang eines Lebens mit Christus im Sakrament. Ja, von der ganzen Schar, die zu Pfingsten sich zusammenfand, heißt es hernach: sie blieben beständig in der Apostel Lehre und in der Gemeinschaft und im Brotbrechen und im Gebet. Sie alle sind Weggenossen und Tischgenossen geworden. Christus ist zu ihnen gekommen im Wort und im Sakrament.

LeerIndem wir das so betrachten, merken wir, daß nicht nur von Kleophas und seinem Begleiter die Rede ist, aber auch nicht von denen, die zur ersten Pfingstgemeinde zusammenfinden sollten. Insgeheim redet die biblische Erzählung von einem jeden, der auf dem „Wege nach Emmaus” ist und auf diesem Wege zur Kirche findet.

LeerAm Anfang steht immer die Erschütterung irdischer Hoffnungen, der Zusammenbruch menschlicher Träume. „Wir dachten, er sollte Israel erlösen.” Da tritt das doppelte Ärgernis ein: das Kreuz von Golgatha und die unheimliche und noch unverbürgte Botschaft der Auferstehung. Vielleicht sieht diese Erschütterung in manchem Leben anders aus, und wir können kein Gesetz dafür aufstellen, an welchen praktischen Erfahrungen der einzelne Mensch den Zusammenbruch seiner Wunschwelt erlebt. Nur das eine ist sicher: es gibt eine satte Zufriedenheit und ungestörte Sicherheit, die nicht nach Emmaus führt. Erst wo Menschen aus solcher Sicherheit aufgescheucht, von den unheimlichen Fragen bedrängt und in die Einsamkeit begleitet werden, sind sie bereit, jene Antwort zu vernehmen, die aus den Offenbarungen Gottes, aus prophetischem Munde, aus der Heiligen Schrift an uns ergeht. Wenn es wahrhaft Gottes Wort, Gottes Antwort ist, dann ist es zugleich Christus, das ewige Wort des Vaters, das uns hier selbst begegnet. Und in der Frage, die uns ins Herz gesenkt wird: „Mußte nicht Christus solches leiden und zu seiner Herrlichkeit eingehen?” - in dieser Frage liegt schon die Antwort verborgen, in der sich uns Gottes Ratschluß enthüllt.

LeerIn der Pfingstgeschichte laufen diese Dinge zum Teil anders. Eine große Menschenmenge, eine gewaltige Rede, sofortige Entscheidung der vom Wort ergriffenen Menschen. Hier: zwei einsame Wanderer und ein fremder Unbekannter, der ihnen Rede und Antwort steht, ihre Herzen entbrennen, und sie gehen einfach ihren Weg zu Ende, ohne irgend welche Entschlüsse zu fassen. Erst im Augenblick des Scheidenmüssens wacht das Verlangen auf, aus dieser Gemeinschaft nicht wieder entlassen zu werden.

LeerMan kann Pfingsten und den Abend in Emmaus nicht gegeneinander ausspielen. Emmaus gehört zur Vorbereitung von Pfingsten. Erst müssen Menschen im Verborgenen diesen Weg der Stille geführt sein, ehe die öffentliche Predigt und die große Stunde der Kirche kommen kann. Darauf aber kommt es an, daß wir deutlich erkennen, was auf diesem Wege nach Emmaus erfahren wird. Wenn wir uns fragen: wird durch das Wort Christi die Enttäuschung der irdischen Hoffnungen und das Ärgernis des Kreuzes und der Auferstehung überwunden? - dann müssen wir sagen: Ja und nein.

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LeerEs heißt: „Ihre Augen wurden gehalten.” Ohne das Wort wären sie nicht bereitet gewesen, das Brot zu empfangen, das Christus seinen Jüngern gibt; aber ohne das Brotbrechen hätten sie den, der das Wort zu ihnen sprach, nicht erkannt. Das gilt nicht nur für Kleophas und seinen Freund. Das ist vielmehr ein Zeugnis dafür, wie im Gottesdienst der Gemeinde und im Glaubensleben ihrer Glieder Wort und Sakrament immer zusammengehören. Es steht uns nicht zu, beides voneinander zu scheiden, als ob es zwei ganz verschiedene Wege wären, und etwa zu sagen, es gäbe Menschen, die müßten den katholischen Weg des Sakramentes gehen, weil sie so veranlagt seien, und es gäbe protestantische Menschen, die das nicht brauchten.

LeerGott hat beides verbunden als die Ordnung seiner Kirche. Gewiß könnte Er es auch anders machen; den Schächer am Kreuz hat der Herr in der Todesstunde durchs Wort allein begnadigt und selig gemacht. Aber wenn heute Tausende in unserem Volk nicht mehr an Ostern glauben können - hängt das nicht damit zusammen, daß wir in der Kirche vielfach den Herrn bis Emmaus mitgehen ließen, uns für die Predigt Seines Wortes bedankten und ihn selber uneingeladen weiterziehen ließen? Es muß uns klar werden, daß jede Verachtung des Sakraments eine Willkürlichkeit und ein Ungehorsam gegen das Zeugnis der Heiligen Schrift ist. Es ist Gottes Ordnung, daß wir den Herrn bitten müssen bei uns zu bleiben und uns das Brot zu brechen an seinem Altar, und daß wir erst dann mit anderen vereint die Botschaft der Auferstehung verkündigen dürfen.

LeerVielleicht muß man zu Wort und Sakrament noch ein drittes hinzunehmen. Die beiden, die den Weg nach Emmaus gehen, sind Menschen, die zu tiefst beunruhigt sind von dem Weltgeschehen, vor allem von dem Christusleiden, und das alles als eine notvolle Frage in sich erleiden. Dazu muß dann die Vertiefung in das Wort Christi und die sakramentale Gemeinschaft mit dem Auferstandenen hinzutreten. Keines von diesen Dingen kann man vom andern trennen. Die Bibel bleibt dem verschlossen, der sie nicht als Antwort auf die Fragen des Herzens hört, sondern als fremdes Gesetz vernimmt. Das Sakrament bleibt dem verschlossen, der sich nicht durchs Wort Christi erleuchten ließ.

LeerEs geht ein Weg vorwärts von der Erschütterung über das Weltgeschehen bis zur Gemeinschaft des Leibes und Blutes Christi. Es gibt ein Stehenbleiben, das um die Frucht der Begegnung bringt. Es gibt eine natürliche Traurigkeit über die Ereignisse der Welt, die in den Tod führt (Judas Ischariot). Es gibt eine geistliche Selbstbescheidung, die sich mit der geistigen Lösung von Fragen zufrieden gibt und auf die leibhaftige Erlösung in der Gemeinschaft mit Christus verzichtet. Es gibt vielleicht auch ein Vorwegnehmen der sakramentalen Gemeinschaft, ohne daß die unerläßlichen Voraussetzungen aus einem Ineinanderklingen der Weltfragen und der Bibel-Antworten erfüllt sind. Da ist die Kirche Christi, wo von diesen Dingen nicht das eine gegen das andere ausgespielt wird, sondern der ganze Weg bis zum Ziel gegangen wird. Das Ziel aber alles Ringens um die Fragen, die das Weltgeschehen in uns weckt, und das Ziel alles Studiums der Heiligen Schrift ist die Gemeinschaft des heiligen Abendmahls als der Offenbarung des zum Leben erstandenen Herrn der Kirche.

Das Gottesjahr 1938, S. 85-88
© Johannes Stauda-Verlag Kassel 1938

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 13-02-24
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