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von Wilhelm Stählin |
Es liegt eine unheimliche Doppelsinnigkeit in diesem Wort „der Kreuzweg”. Wir geraten auf unserer Wanderung an den Kreuzweg; dorthin, wo die Wege sich kreuzen, wo unser Fuß zögert, ob er dem Weg zur Linken oder den Weg zur Rechten beschreiten soll. Aber eben an dieser Stelle, wo die verschiedenen Möglichkeiten sich auftun, eben da hat frommer Sinn das Kreuz mit dem Gekreuzigten aufgerichtet, oder auch eine kleine Kapelle, wohl von breiten Linden überwölbt und selbst wie eine tröstliche, bergende Zuflucht der Andacht und des Gebetes. Eben an der Stelle, wo die Wege der Welt sich kreuzen, und der wandernde Mensch am Kreuzweg stillhält, ehe er sich nach rechts oder nach links wendet, eben da lädt ihn das Kreuz am Wege, das Bild in der kleinen Kapelle ein, sich auf den Weg seines Lebens zu besinnen und die Weisung von oben zu erbitten, daß er am Kreuzweg des Lebens die rechte Richtung nicht verfehle. An hundert Kreuzen, die am Wege standen, sind wir achtlos vorübergegangen, mancher vielleicht auch mit dem zufriedenen Bewußtsein, daß ihn, den Protestanten, das katholische Wegkreuz nichts angehe; bis einmal am unheimlichen Kreuzweg das Kreuz uns so bedrohlich nahestand, daß wir nicht mehr vorübergehen konnten; daß wir unter einem unwiderstehlichen Zwang das tun mußten, wozu vielleicht schlichte, unbeholfene Verse am Fuß des Kreuzes uns einladen: Wanderer, hemme den Schritt, tritt unter das Kreuz und besinne dich am Kreuzweg deines Lebens. Die Tankstellen, diese Wegkapellen des heutigen Menschen, können diesen Ort der besinnlichen Rast, der ernsten Prüfung nicht ersetzen. Hier hastet der Mensch über alle Kreuzwege hinweg, und während die Wegschilder und Landkarten sicher ans Ziel geleiten, weiß er im tieferen Sinn nicht mehr, wo er ist und wohin er geht. „Wanderer, hemme den Schritt.” - Der Kreuzweg fordert uns auf, alle einzelnen „Stationen” dieses Leidensweges zu betrachten und also den Herrn auf diesem Wege wirklich zu begleiten. Hier entfaltet sich das eine Bild des leidenden Erlösers in eine Vielzahl einzelner Bilder, in denen das eine Leiden in immer neuer Gestalt vor uns sichtbar wird. Der frommen Übung ist nicht daran gelegen, solche Kreuzwegstationen auf ihren künstlerischen Wert zu untersuchen und zu beurteilen. Einerlei, ob ganz große Kunst oder das schlichte Gemüt eines frommen Handwerkers die einzelnen Bilder geformt hat, oder ob sie vielleicht nur nach äußerem Herkommen ohne künstlerische Tiefe mehr andeuten als gestalten: immer möchten sie uns dazu anleiten, uns in diesen Leidensweg in allen seinen einzelnen Stationen wirklich zu versenken. Wir gehen mit dem Herrn in die nächtliche Einsamkeit des Gartens, da er mit Gott rang im Gebet und wiederholen in uns die Worte, die sich von seinen Lippen rangen: nicht mein. sondern dein Wille geschehe; wir erschauern mit ihm bei dem Anblick des Jüngers, der gekommen ist, seinen Herrn mit einem Kuß zu verraten. Wir begleiten ihn zu dem Verhör, wo aus den Worten der Liebe und der Wahrheit die Anklage der Gotteslästerung gegen ihn geschmiedet wird. Wir sehen ihn gebunden an die Martersäule, preisgegeben aller menschlichen Rohheit, die seinen Leib mit grausamen Schlägen und seine Seele mit bitterem Spott verwundet. Wir sehen ihn auf dem Wege, da er ein uns andere Mal zusammenbricht unter der Last des Kreuzes, das auf seine blutenden Schultern gelegt ist. Wir versenken uns in das seltsame Geschick jenes Simon, der vom Felde kommend diesem Marterzug begegnet und unversehens selbst unter das schwere harte Kreuz gebeugt wird, das er nicht kennt und begreift. Wir begegnen mit Ihm den Frauen, die Tränen des Mitleids statt Tränen der Reue vergießen. Wir folgen Ihm an die Stätte der letzten Marter und ersparen es uns nicht, auch hier uns in alle einzelnen Stationen dieses Todesleidens zu versenken bis hin - aber vermögen wir das? - zu der letzten lichtlosen Einsamkeit, da Er sich auch von Gott verlassen fühlte; und wir gesellen uns zu der kleinen Schar der letzte Getreuen, die den göttlichen Leib in das Grab dieser Welt betten. Wir gehen von einem Bild zum anderen und verweilen vor jeder einzelnen „Station” dieses Leidensweges. So wie die Passionstafeln des frühen Mittelalters alle einzelnen Werkzeuge der Marter Christi nebeneinander abbildeten, damit der Beschauer die Vielfalt dieses Leidens vor Augen habe, so wollen wir nicht, da uns ja die Geschichte in allen Einzelheiten längst bekannt ist, den Weg entlang hasten, sondern wir lassen uns Zeit, uns in die einzelnen Bilder und Gestalten sinnend zu versenken. Wir vergleichen mit dem, was der Herr erduldet, die Unbill, die uns widerfährt, die Schmerzen und Wunden, die wir an Leib und Seele zu ertragen haben; wir schauen in dem Leiden des Einen das Leiden der ganzen Welt und wissen doch, daß alles Leiden der Welt nicht zu vergleichen ist mit dem Leiden der göttliche Liebe. Erschauernd fällt der Blick auf die Bilder, die den Anstieg begleiten. Der Weg zur Höhe ist ein Kalvarienweg, und die Stationen des Kreuzwegs deuten seinen Sinn: jedes Stück Weges, jede erreichte Höhe offenbart ein neues Bild des Leidens. Das Leiden selber scheint erfinderisch zu sein, in immer neuer Gestalt sein Opfer zu peinigen. Und wenn eine Mühsal ertragen, eine Qual erduldet, ein Schmerz überstanden ist, so findet sich der Arme unversehens in neue und ungekannte Tiefen des Leidens geschleudert. Keine Station des Kreuzwegs bleibt erspart, keine Stufe kann übersprungen werden, kein abkürzender Weg führt stracks auf die Höhe. Wer auf den Pfad des Leidens geraten ist, muß das unerbittliche Gesetz dieses Weges an sich erfahren und dulden. Aber der Weg hat sein Ende; mehr noch: er hat ein Ziel. Der Kreuzweg führt auf die Höhe. Es ist der Weg zu Ihm, der gesagt hat: „Wenn Ich erhöht werde von der Erde, will Ich sie alle zu Mir ziehen.” Am Ziel, oben auf der Höhe, enden die Leidensstationen vor einem verschwiegenen Heiligtum, und die Pforte lädt ein zum Altar der Gnaden. Tritt ein, o Wanderer, der du den Kreuzweg gegangen bist, der du die Stufen des Leidens nicht nur geschaut, sondern selbst an dir erfahren hast, tritt ein und bette, was dir das Leben genommen, in das heilige Grab, lege dein Opfer auf den Altar der göttlichen Liebe; ja mehr noch, lege auch deine Schmerzen nieder und tue die Mühsal deiner Seele ab vor dem Bilde dessen, der die Leiden und Sünden der Welt trägt und hinwegnimmt. Tritt ein, hier grüßt dich das gnadenreiche Angesicht der göttlichen Erbarmung; hier tönt der Lobgesang. Wer den Kreuzweg andächtigen Herzens gewandert ist bis zum Altar der Gnade auf der Höhe, der darf dort oben die Glocke läuten. Wenn der zarte Glockenton über die Berghöhe schwingt, dann wissen die Menschen im Tal, daß wieder ein Wanderer auf dem Leidensweg emporgestiegen ist bis zu der Höhe der Verklärung. Tritt ein und läute die Glocke der Danksagung. Das Gottesjahr 1938, S. 81-85 © Johannes Stauda-Verlag Kassel |
© Joachim Januschek Letzte Änderung: 12-10-15 |