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von Carl Schneider |
Eins der schönsten Weihnachtslieder der Böhmischen Brüder beginnt: „Gottes Sohn ist kommen uns zu Heil und Frommen hier auf dieser Erden uns gleich an Gebärden”. Hier ist ein wunderbarer Sachverhalt des Neuen Testamentes gesehen. Denn darin liegt vielleicht das größte Geheimnis der Fleischwerdung Gottes, weil es das scheinbar Kleinste umfaßt, daß der Christus nicht nur lehrt und Wunder tut, daß das Neue Testament nicht nur von den großen Taten Gottes in Kreuz und Auferstehung erzählt, sondern daß sich Gottes Offenbarung kundgibt in menschlichen Gebärden auch der letzten und kleinsten menschlichen Niedrigkeit, weil Gottes Geschichtswerdung ein Ganzes ist, darum enthüllt sie sich auch in der Bedeutsamkeit von Gesten und Gebärden, von Bewegungen und Ausdrucksgestaltung. Denn die Bedeutung von Geste und Gebärde liegt ja darin, daß sie Gottes Offenbarung nicht in einen luftleeren Spiritualismus oder abstrakten Hohlraum verflüchtigt, sondern wirklich mit allen Ausdrucksmitteln von Fleisch und Blut redet, lebt, webt und ist, wie wir selbst. Welchen Reichtum an Formen der Bewegung kennt das Neue Testament an Jesus! Luther hat diese Fülle in seiner Übersetzung meisterhaft wiedergegeben, obwohl ihm der Reichtum der griechischen Tempora, der gerade hier noch anschaulicher wirkt, nicht zur Verfügung stand. Jesus kommt, geht, geht umher, herab, hinein, hinweg, hervor, aus, vorüber, steigt aus, auf oder ein, steht, steht auf oder still, zieht, zieht hinauf, verläßt, wendet sich um, tritt ein, folgt, weicht oder entweicht, erhebt sich, fährt, reitet. Seltener sind die Verben der Ruhe - Jesus sitzt, bleibt, wohnt -; schon das ist im Hinblick auf die ständige, rastlose Dynamik Jesu geschrieben. Es ist doch nicht gleichgültig, daß Jesus nicht wie die satten Schriftgelehrten in der Regel im Lehrhaus sitzt und wartet, bis die Schüler zu ihm kommen, sondern daß er ruhelos herumwandert und die Menschen aufsucht, wo er sie trifft. Bedeutungsvoll ist es, daß Jesus vor dem Landpfleger stehen muß - das Stehen ist dem antiken Menschen die Haltung der gehorsamen Beugung -, daß er aber da sitzt, wo er in der Vollmacht Gottes lehrt und predigt, oder wo er als Richter kommen wird - denn das Sitzen ist der Gestus der Götter, Herrscher und Richter. Zur Fleischwerdung des Wortes gehört seine Eingliederung in Raum und Zeit. Es ist nicht gleichgültig, wo und wann Jesus spricht und handelt. Auf den Höhen der Berge weilt er wohl am liebsten; hier in der klaren Luft der Gipfel verkündet er seine klarste und unerbittlichste Rede, hier in der Nähe des Himmels betet er am häufigsten, hier im Gipfellicht zeigt er sich seinen Getreuesten verklärt. Dann ruft ihn die blaue Tiefe des Sees: über die unruhigen Wellen schreitet und fährt er friedevoll, über ihre ruhige Kühle klingen die ruhigen Worte seiner Seepredigt, das schwankende Boot ist ihm, dem Ruhelosen und Heimatlosen oft eine einzige Heimat. Die Wüste in ihrer großen Einsamkeit, Helle und Grenzenlosigkeit ist ihm nicht nur Stätte der Versuchung, sondern auch des stillen In-sich-gekehrtseins und der tiefsten Besinnung und Meditation. Die schroffen Felsen von Casarea Philippi, der leuchtende Panstempel auf ihrer Höhe und die dunkle Unterweltsgrotte an ihrem Fuß helfen ihm das Bild für das Wesen der Kirche prägen. Die Zeitgebundenheit hat vor allem Johannes immer und immer wieder unterstrichen: erst wenn Jesu Stunde gekommen ist, handelt er, und diese Stunde ist seinem Willen entzogen. Die meisten der großen Worte und Taten Jesu sind an bestimmte Festzeiten gebunden; es ist eben nicht Alltag, wenn Jesus kommt, sondern Festfreude. Das aber drückt sich nicht in einer abstrakten Spiritualisierung aus, sondern in der konkreten Wirklichkeit, daß das Fest die Zeit ist, in der sich Jesus am Klarsten enthüllt. Auch von der Arbeitszeit Jesu reden die Evangelien: man kann fast eine Art Tageseinteilung Jesu aus ihnen erkennen. Früh vor Tag beginnt er sein Werk und arbeitet und wandert bis spät in die Nacht hinein, und erst nach Anbruch der Nacht beschließt er den Tag mit einem meditativen Gebet an einer einsamen Stätte. Das Aufnehmen alles Geschichtlichen geschieht durch die Sinne, weit entfernt von aller asketischen Abtötung berichten die Evangelien immer wieder von Jesu Sinnenleben. Die Augen sind zum Sehen und die Ohren zum Hören gegeben, klingt es in mannigfaltigen Variationen aus seinen Worten, und wie oft wird berichtet, daß Jesus sieht. Die bunte Welt seiner Gleichnisse zeigt, wie sein Auge auf die Erde gerichtet ist; aber auch den Menschen blickt es durchdringend an und allein durch diesen Blick weckt und sieht es menschliche Tiefen und Untiefen, wenn Jesus aber in Stunden der Zwiesprache mit Gott seine Augen nach dem Himmel richtet, dann erkennt man daraus die richtige Zuordnung auch der Sinnesorgane zu der Haltung des Ganzen. Über die Bedeutung des akustischen Hörens bei Jesus erübrigt es sich zu reden. Meist hört Jesus erst, ehe er zu einem Menschen spricht; er wirft nicht Offenbarungsworte unvermittelt und beziehungslos in die Welt hinein, sondern er versteht zunächst immer auf menschliches Fragen und menschliches Reden und Sorgen zu hören. Wie reich sind dann die Ausdrucksmittel des Redens bei Jesus! Auch hier überrascht schon ein terminologischer Überblick. Jesus spricht, predigt, ruft, lehrt, befiehlt, gebietet, schilt, fragt, antwortet, schreit, seufzt. Wieder muß auf jede Nuance geachtet werden, wieder ist es nicht gleichgültig, wie Jesus „den Mund auftut” (Luther zu Mth. 5, 2). Der laute Schrei Jesu in seiner Todesnot spricht ebenso von der Fleischwerdung des Logos wie die scheltende Drohrede oder die lange Lehrpredigt oder das künstlerisch gestaltete Gleichnis oder der kurze Angriffsruf gegen die dämonischen Mächte oder die zarte Segensformel über die Kinder. In all diesen Formen spricht ja doch Jesus nicht in Engelszungen, sondern in den an grammatische und phonetische, an logische und ästhetische Gesetze gebundenen Möglichkeiten menschlichen Sprechens. Selbst das Schweigen Jesu während seines Prozesses ist ein menschlicher Gestus, und zwar der größte Gestus, den ein Mensch gegen Verleumdung und falsche Beschuldigung zeigen kann. Zugleich hat Essen und Trinken seinen großen ethischen Sinn. Wer dem anderen einen Becher Wasser reicht, gehört zu den Jüngern Jesu, reines, schlichtes, frisches Wasser - keinen geistiger Trank, der allein vor dem Verdursten nicht schützt; und als die großen Mengen hungern und die Jünger ein Wunder oder ein Übersehen des Hungers wollen, da sagt ihnen Jesus ganz nüchtern: „Gebt ihr ihnen zu essen”. Dann gibt er ihnen auch wiederum nicht geistiges, sondern wirkliches Brot. Um dieses nüchterne Brot soll der Mensch Gott bitten, denn er soll nicht im geistigen Hochmut denken, daß er das Brot nicht braucht. Darum bricht das Schöpfungsgesetz des Essens auch das menschliche Kultgesetz: getrost sollen die Jünger auch am Sabbath Ähren essen. Wer aber dem anderen die Speise verweigert, der ist verflucht, wie der unfruchtbare Feigenbaum, auf dem der Hungernde nichts fand. Wenn Essen und Trinken so in Gott gegründet ist, dem ist auch seine Form nicht gleichgültig. Geordnet sollen die Mengen essen, die zu Jesus kommen, die Tischordnung ist Kriterium für den Wert eines Menschen, am Verhalten bei Tisch wird der Verräter erkannt. So hat dann Jesus selbst den großen Tischritus seiner Gemeinde gegeben, der immer wieder erneut wird: er nahm das Brot, dankte, blickte zum Himmel und brach es. Als man ihn am Wort nicht kennt, erkennt man ihn am Brotbrechen. Auch der kleinste Gestus beim Essen ist bedeutungsvoll. Aber nicht nur Esse und Trinken, sondern auch Hungern gehört zum Los des Menschen. Jesus kann auch hungern. Am Beginn seiner Wirksamkeit steht der Hunger in der Wüste und am Ende der physische Durst am Kreuz. Er weiß, daß es diesem Hunger gegenüber kein Zaubermittel gibt und daß sich Steine nicht in Brot verwandeln lassen, weil Gott menschliches Sattwerden nicht vom Brot allein will. Darum nimmt er auch da freiwillig das Fasten auf sich, wo es um des Verkehrs mit Gott willen geboten erscheint. Die gymnastische Askese des Ringers mit den dunklen Mächten gehört ebenso zum Jesusbild wie der „Fresser und Weinsäufer”. Die gefährlichste Art der Dämonen in der Welt läßt sich nur durch Beten und Fasten vertreiben, gewiß nicht durch ein gesetzliches und verdienstliches Fasten, wohl aber durch die Hunger- und Tapferkeitsprobe des Gottesstreiters. So enthüllt uns die Geschichte Jesu auch die kleinsten, selbst die schwächsten Seiten menschlichen Daseins. Auch Jesus wird müde und schläft. Markus erzählt uns den kleinen Zug, daß er dabei seinen Kopf auf ein Kissen legt: so spürt auch er den kleinen körperlichen Schmerz und erleichtert ihn sich, entgegen allem hochmütigen Rigorismus. Aber er kann auch in der Stunde, in der alle schlafen, allein wachen und die Nächte wachend durchbeten, auch das nicht ohne letzte körperliche Anspannung. Er zittert und zagt; meisterhaft läßt ihn Luther einmal im Angesicht seelischer und körperlicher Not sagen „wie ist mir so bange” (Luk. 12, 50). Denn er ist wirklich fleischgewordenes Wort. Deshalb kennt er auch alle Stufen menschlicher Ohnmacht: als hilfloses Kind wird er in Windeln gewickelt und am Ende seines geschichtlichen Lebens wird er verraten, gebunden, geschlagen, angespien, gekreuzigt und begraben. Er weiß von treuester menschlicher Freundschaft und Gefolgschaft und von erbittertstem menschlichem Haß; er weiß von freundlichen Häusern, die ihm eine Heimat sein wollen, und von irrender Verlassenheit und Heimatlosigkeit - in allen Dingen gleich wie wir. Endlich müssen noch eine ganze Fülle besonderer Gesten und Handlungen Jesu gesehen werden, die auch Zeugen engster Bindung an das Schöpfungsmäßige, Diesseitige sind. Was tut Jesus nicht alles mit seinen Händen! Heilend oder abwehrend, drohend oder betend streckt er die Hand aus, ergreift er die Hand des anderen, rührt er Menschen mit der Hand an, legt er die Hand auf die Stirn der Kinder und Kranken und auf die Augen der Blinden oder an die Zunge der Stummen, steckt er die Finger in die Ohren der Tauben; mit der Hand bricht er das Brot, ergreift er die römische Münze, stürzt er die Wechseltische um, droht er wohl auch den Dämonischen, von den müden Füßen schüttelt er den Staub „zum Zeichen”. Im Gebet fällt er auf sein Gesicht „zum Zeichen” tiefster Beugung unter Gottes willen. So geschieht alles ganz schlicht, ganz menschlich, ganz geschichtlich und körperlich. Jede wirkliche Besinnung auf Jesus darf an diesen Teilganzen seiner Menschwerdung nicht vorübergehen. Denn das sind die Dinge an ihm, die auch wir „sehen mit unseren Augen... und unsere Hände betastet haben vom Wort des Lebens”. Bei der gerade heute so großen Gefahr abstrakter Verflüchtigung des Christus tritt er uns in ihnen ganz blutvoll lebendig zur Seite und lebt und wandert und leidet und ißt und trinkt in ihnen mit uns. Denn Gottes Heilsweg geht ja immer nur durch das Fleisch und durch die Geschichte hindurch und nicht um sie herum. Das Gottesjahr 1938, S. 73-79 © Johannes Stauda-Verlag Kassel 1938 |
© Joachim Januschek Letzte Änderung: 13-02-24 |