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1938
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Die eherne Schlange
von Wilhelm Stählin

Leer„Gleichwie Mose in der Wüste eine Schlange erhöht hat, also muß des Menschen Sohn erhöht werden, auf daß alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben.”

LeerDie Geschichte, auf die das Johannesevangelium (3, 14. 15) in diesem Herrenwort anspielt, ist eine der seltsamsten Erzählungen des Alten Testaments (4. Mose 21, 4-9). Das Volk verdroß die Mühsal der Wüstenwanderung; die Leute murrten wider Mose: „warum hast du uns aus Ägypten geführt, da wir satt zu essen hatten? Uns ekelt vor dieser mageren Speise, wir sterben in der Wüste.” „Da sandte der Herr feurige Schlangen unter das Volk; die bissen das Volk, daß viel Volks in Israel starb.” Die erschreckten und bedrohten Menschen kommen reumütig und mit flehentlicher Ritte zu eben dem, gegen den sie gemurrt haben, und da der Führer für sein Volk bittet, empfängt er eine seltsame Anweisung. Dies ist der Befehl Gottes, den er alsbald befolgt: er richtet eine eherne Schlange auf; wer die ansieht, entrinnt dem Tode und darf von dem giftigen Biß genesen.

LeerDie Geschichte bleibt dem ganz unverständlich, der noch nie die unheimliche Macht eines Zeichens an sich erfahren hat. Natürlich gibt es Zeichen, die wir mit unserem Verstand auffassen, oder die uns nur durch Gewohnheit vertraut sind; Zeichen und Signale, deren Bedeutung wir ein für allemal gelernt haben, und die wir nun beachten, so wie es ihrem Sinn entspricht: Verkehrszeichen, einzelne Zeichen und Vorzeichen in Buchstaben- und Notenschrift, Buchstaben zur Bezeichnung chemischer Formeln u. dgl. Sie sind nichts als abgekürzte Mitteilungen und Weisungen, die gerade durch ihre Kürze Beachtung erzwingen. Aber es gibt Zeichen ganz anderer Art, die weit über ihre „Bedeutung” hinaus bedeutsam und mächtig werden. Das, was man von ihrem Sinn in Begriffe fassen und in Worten aussprechen kann, ist nur ein Teil von ihnen. Wir sehen sie gleichsam nicht nur mit unserem leiblichen Auge, sondern wir nehmen sie zugleich mit tieferen geheimnisvollen Organen in uns auf. Weit über das hinaus, was an ihnen verstanden wird und verstanden werden kann, üben sie eine uns selbst kaum begreifliche Gewalt.

LeerWenn wir von ihrer „magischen Mächtigkeit” reden, so ist auch das nur ein Wort für einen Vorgang, der sich in einer verborgene Tiefe abspielt. Diese Zeichen senken sich in uns ein, sie dringen ein in eine Tiefe, in die das alltägliche Wort und das technische Zeichen nicht hinabreicht. Sie werden - in einem eigentlichen und wörtlichen Sinn - uns „eingebildet”, und üben in dieser verborgenen Tiefe eine geheimnisvolle Wirkung. Obschon sie außer uns sind und mit unserem leiblichen Auge gesehen oder mit unserem leiblichen Ohr gehört werden, möchte man sie vergleichen mit jenen Tieren, denen es gelingt, ihre Eier in die Eingeweide eines fremden Organismus abzulegen, wo sich dann ein eigentümliches Lebewesen, fremd und gefährlich, entwickelt und in seiner lebendigen Herberge die mannigfaltigsten zumeist bedrohlichen und zerstörerischen Wirkungen hervorruft. Oder man möchte jene Zeichen vergleichen mit einem Samenkorn, das tief in die Erde gebettet dort lange ruhen und warten kann, bis es seine Keimkraft entfaltet und aus dem Erdreich, in das es eingebettet war, mit unwiderstehlicher Gewalt in Wuchs, Gestalt, Farbe und Duft nach seinem innewohnenden Gesetz hervorbricht. (1)

LeerSolcher Art sind die Hoheitszeichen politischer Macht, die echten Zeichen und Symbole geistiger oder politischer Bewegungen; solcher Art sind die heiligen Zeichen, die sich im Kultus dem Auge und dem Ohr der Gläubigen darbieten, die Zeichen des Heiligen, die Zeichen seiner Größe und Herrlichkeit, seiner Geheimnisse und seiner heilsamen Gegenwart. - Solche Zeichen kann man nicht willkürlich erfinden. Wer es unternimmt, solche Zeichen zu „machen”, der treibt entweder belanglose Zeichenübungen, oder - er spielt ein gefährliches Spiel mit unheimlichen Dingen. Die großen und bedeutsamen Zeichen, die die Menschheitsgeschichte begleiten, sind von niemandem erfunden, sie sind da. Und wenn wir religionsgeschichtlich feststellen, wo sie zum ersten Mal auftauchen, so wissen wir damit doch nichts über ihren Ursprung.

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LeerWer um die geheimnisvolle Macht dieser Zeichen weiß, der weiß auch dies, daß man sie nicht wie irgendeinen Gegenstand untersuchen und rational durchdringen, sondern daß man ihnen nur in Hingabe oder in Abwehr, in Verehrung oder in Abscheu nahen kann. Das Zeichen dessen, das wir lieben und verehren, an das wir glauben und zu dem wir beten, betrachten wir, um es tief in uns aufzunehmen und zu empfangen, damit es seine zeugende Kraft in uns bewähre. Oder aber wir fliehen das Zeichen der feindseligen und bösen Macht; denn selbst wenn wir es kritisch, ja mit Abwehr und Haßgefühlen betrachten, kann es uns geschehen, daß wir wider Willen in seinen Bann geraten und eben das in uns aufnehmen, was wir verabscheuen und meiden möchten.

LeerDarum ist es keineswegs gleichgültig, sondern es schließt eine unermeßliche Verantwortung in sich, welche Zeichen wir vor uns sehen und betrachten, wenn wir im Gotteshaus weilen, um uns befruchten zu lassen durch das Wort der Wahrheit. Die heiligen Zeichen, mit denen die Kirche ihre Altäre schmückt, die sie auf Wände malt, in Stein meißelt, auf Altarbehänge stickt, sind mehr als ein „künstlerischer Schmuck”, mehr als Erinnerungszeichen, die in Gedächtnis und Vorstellung der Gläubigen bestimmte Gedanken, Begriffe oder Vorstellungen erwecken sollen. Tiefe und wundersame Kraftwirkungen strahlen aus von den Zeichen, die Urweisheit der Väter als Zeichen des Heils erfahren hat, und Klarheit, Ruhe und Ordnung erfüllt den, der solche Zeichen des Heiligen und des Heils mit hingebender Seele betrachtet. Ja wir fragen uns manchmal, ob es überhaupt wesentlich und notwendig ist, daß der Einzelne viel über die „Bedeutung” eines solchen Zeichens wisse, ob er im Stande sei, in Begriffe und Worte zu fassen, was ihm in solchem Zeichen begegnet. Viel wichtiger als solches „Verstehen” ist die Hingabe des Herzens, und nicht die Unwissenheit, sondern die Überschätzung des bewußten Denkens schließt den Menschen von der Kraft der Zeichen ab.

LeerJene einseitige Wertung dessen, was wir begreifen, was wir denken, was wir sagen können, hat in den letzten Jahrhunderten der abendländischen Geschichte, nirgends mehr als in unserem Protestantismus, die Mächtigkeit der Zeichen unterschätzt und verachtet, und wir müssen uns heute von ganz anderer Seite her daran erinnern lassen, was unsere Kirche fast ganz vergessen hat, daß wir Menschen kaum durch irgend etwas anderes so sehr in der Tiefe geprägt und „gebildet” werden, wie durch die Bilder und Zeichen, die sich in die Tiefe unserer Seele versenken. Zugleich erinnern uns diese Zeitgenossen, ohne es zu wissen und zu wollen, an das, was uns die Heilige Schrift über die Kraft solcher Zeichen erzählt; und diese von außen kommenden Hinweise verbinden sich mit unserer eigenen Erfahrung, um uns einen neuen Blick zu erschließen auf solche Geschichten wie die von der ehernen Schlange.

LeerDiese Geschichte enthält freilich einen sehr unheimlichen und aufregenden Zug, ohne dessen Beachtung alle unsere Rede von der Macht der Zeichen in die Irre zu gehen droht. Das Aufregende ist dies, daß das Zeichen, das Mose aufrichtet, durch dessen Anblick die vom Tode Bedrohten genesen, das Zeichen der Schlange ist. Eben das, was der Ausgangspunkt der Gefahr, die bedrohliche Macht voll tödlichen Giftes ist, wird zum Zeichen der Rettung, warum richtet Mose nicht ein freundlicheres Bild auf, das die gräßlichen Schlangen gänzlich vergessen läßt? Warum zwingt er die Menschen, in ihrer Todesangst eben das anzuschauen, wovor sie fliehen?

LeerHier schauen wir hinein in ein Geheimnis, vor dessen Abgründen wir erschauern.

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LeerZunächst wird uns an diesem einen sehr unheimlichen Zeichen der Schlange deutlich, daß alle solche Zeichen an einer letzten Zweideutigkeit und Zwiespältigkeit Anteil haben. Die Schlange, das listige, wendige, tückische, giftige Tier, wird aufgerichtet als Zeichen der Genesung und Rettung. So haftet fast allen Zeichen, in die sich je und je Menschen versenkt haben, eine seltsame Zweideutigkeit an. Der Kreis, das Zeichen der in sich ruhenden Endlichkeit, des trostlosen Kreislaufs ohne Sinn und Ziel, ist zugleich das Zeichen der Ewigkeit Gottes. Das Zeichen der Sonne, die alles Lebendige mit ihren Strahlen segnet, erscheint auf alten Bildwerken als das Zeichen des zerstörerischen Dämons, der alles mit seiner sengenden Glut vernichtet.

LeerVielleicht bleibt unsere ganze Unterscheidung zwischen Zeichen des Heils und Zeichen des Unheils an der Oberfläche. Vielleicht gibt es nichts in diesem irdischen Bereich, was nur, eindeutig und ausschließlich, heilsame Kräfte darstellt und verkörpert; vielleicht auch nichts, das nur Abscheu verdient als Inbegriff des Bösen und Verderblichen, - so wie der tiefer schauenden Betrachtung der Begriff des Giftigen sehr relativ werden muß. Woran liegt es denn, ob von einem Zeichen bewahrende und rettende oder verwirrende und zerstörende Kräfte ausstrahlen? Liegt es nur an uns, an der innersten Richtung unseres Herzens? Ist jene „magische Mächtigkeit” der Zeichen nichts anderes als die Spiegelung der guten und bösen Gedanken und Triebkräfte unseres eigenen Innern? Diese Betrachtung bliebe erst recht an der Oberfläche und würde der Wirklichkeit, der zwiespältigen Wirklichkeit jener Zeichen nicht gerecht.

LeerIst nun diese gefährliche Doppelsinnigkeit der „Zeichen” ein Grund, sie gänzlich zu meiden und vor ihnen zu warnen? Welche Täuschung, wollten wir hoffen, damit der Zwiespältigkeit des Lebens selbst zu entgehen! Vielmehr bleibt es keinem erspart, diesem unheimlichen Doppelangesicht standzuhalten. Ja, es gehört als eine notwendige Erfahrung zu dem Pfade geistlicher Übung und geistlicher Erkenntnis, daß der Mensch erkennen muß, wie das „Gute” und das „Böse”, das Heilbringende und das Verderbliche, ja das Göttliche und das Widergöttliche unentwirrbar ineinandergeflochten uns an einem und demselben Punkt begegnen kann: ein und dasselbe Zeichen birgt beides in sich, und man kann nicht Hilfe suchen bei einem heilbringenden Zeichen, ohne zugleich einem neuen Feind auf den, Wege zu begegnen. Wer sich aufmacht, um zu Gott zu kommen, muß in Anfechtung fallen, und wer auf dem Wege der Heiligung ist, wird vom Teufel versucht. Nirgends wird das so offenbar wie in dem Zeichen der Schlange, des in Wahrheit doppelzüngigen Wesens, das eben darum zugleich das Zeichen des tödlichen Giftes und der heilenden Arznei ist.

LeerGibt es keinen Weg, dieser sehr unheimlichen Doppelheit zu entgehen?

LeerIn dies rätselvolle Dunkel dringen wir nur ein, wenn wir auch dies, und dies vor allem in unserer Geschichte bedenken, daß nicht die Willkür eines Menschen, sondern Gottes Geheiß die Schlange als das rettende Zeichen aufrichtet. Im irdischen Bereich, solange wir Menschen mit uns und der Welt allein sind, rettet uns nichts, am wenigsten unser eigenes Herz aus der grauenhaften Zwiespältigkeit aller kosmischen Mächte. Gott allein ist es, der das Furchtbare zum Heilsamen wandeln kann. Gott aber - dies ist das andere - verpflichtet und zwingt den Menschen, eben dem mit seinem Blick standzuhalten, was er als bedrohlichste Gefahr erkannt hat und fürchtet. Niemals rettet den Menschen die Flucht, sondern allein jener tapfere Gehorsam, der eben das anschaut, wovon er so gern seinen Blick wegwenden möchte, wir können das alles ja nur begreifen von dem Punkte her, wo es in seinem innersten Wesen erfüllt und vollendet ist. Dies aber ist das Kreuz Jesu Christi.

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LeerDas Kreuz ist das Zeichen des Todes; es ist das Zeichen der Schmach und der Qual. Das Kreuz, in dem eine Linie die andere durchstreicht, eine Richtung die andere aufhebt, ist das Zeichen der Vernichtung und des Endes. Dieses Zeichen hat Gott aufgerichtet als das Zeichen des Heils. Die Schmach der Welt, der furchtbarste Ausbruch der Sünde, die äußerste Schuld, die die Menschheit auf sich geladen hat: dies ist das Bild des Gekreuzigten. Dies Bild aber hält auf den alten Bildern der Dreieinigkeit Gott Vater in seinen Armen, um dies der Welt zu zeigen. Das ganze Neue Testament deutet wie Johannes der Täufer auf dies eine Bild: Siehe! Weil dieser Christus auferweckt ist von den Toten, weil er zum Fürsten des Lebens, zum König der Welt gemacht ist, darum ist dieses Zeichen das Zeichen des Heils.

LeerDarum ist die Geschichte von der ehernen Schlange nur zu begreifen als Weissagung auf Christus. Und das Wort, mit dem das Johannesevangelium selbst auf diese alte Geschichte verweist, erläutert uns nicht nur den Sinn des Kreuzes als das Zeichen, das wir als das Zeichen unserer Rettung gläubig betrachten sollen, sondern es enthüllt zugleich den Sinn aller heiligen Zeichen überhaupt. Alles, was wir über die Mächtigkeit der Zeichen gesagt haben, bleibt wahr; aber es erscheint uns wie eine Wegbereitung und Wegweisung bis zu dem einen Punkte, wo wir das heilige Zeichen des Kreuzes betrachten, und es empfängt erst von hier aus seinen letzten und eigentlichen Sinn.

LeerDarum hat die christliche Kirche im Grunde nur dies eine heilige Zeichen, das Zeichen, das über den Altären ragt, das hoch auf der Spitze des Turmes den Blick des Menschen zu sich emporzieht, das Zeichen, mit dem wir nach Luthers Rat uns segnen sollen an jedem Morgen und an jedem Abend. Indem wir dies Zeichen anschauen, so wie eben ein Zeichen angeschaut werden will, indem wir uns hineinversenken und es zugleich in uns selber versenken, wandeln sich in uns die Todesmächte in Mächte des Lebens. Alle Zeichen, die es sonst geben mag, haben Teil an dieser geheimnisvollen Wandlung. Das Wasser, mit dem wir getauft worden sind, ist das Element des Todes. Aber weil Christus selbst sich hat taufen lassen bis hin zu der Taufe des Todes, darum wird die unheimliche und tödliche Tiefe zum Quellort des Lebens.

LeerWeil es so ist, darum sollen wir auch nicht wagen, irgendwo uns irgend welchen Zeichen hinzugeben. Es könnte sein, daß, losgelöst von Christus, von der Kraft seines Opfers und seiner Auferstehung, auch das Zeichen des Lebens an uns seine Todesmächtigkeit auswirkt, und sich das Heilszeichen als bedrohliches Unheilszeichen erweist. Darum bedürfen wir des Rates und der Hilfe, der Heimat und des Schutzes, daß die Mächtigkeit der Zeichen uns nicht überfalle und verwirre. Darum, nur darum sind wir ganz frei in der Welt und sehen auch da, wo unser Auge erschrickt und unser Herzschlag stockt, die Zeichen des Heils, darum weil wir das stärkere Zeichen kennen, dem alle Mächte des Verderbens sich beugen müssen; das Zeichen, das Gott selber aufgerichtet hat, „auf daß alle, die daran glauben, nicht verloren werden.”

Anm. 1: Hugo Kükelhaus hat in seinem überaus lehrreichen Buch „Urzahl und Gebärde” (Verlag Alfred Metzner, Berlin SW 61) auf diese Tiefenwirkung der Zeichen hingewiesen.

Das Gottesjahr 1938, S. 57-63
© Johannes Stauda-Verlag Kassel 1938

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 13-02-24
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